Wo lässt sich das östliche Europa in den derzeitigen Debatten über (post)koloniale Traditionsbestände einordnen? Welche kolonialen Zuschreibungen und Herrschaftspraktiken ‚von außen‘ und welche kolonisierenden Verhältnisse innerhalb der Großregion „östliches Europa“ lassen sich erkennen? Gibt es Verflechtungen, etwa mit der osmanischen oder der zentralasiatischen Geschichte?
Der Themenschwerpunkt des Copernico-Portals möchte sich mit diesen Fragen auseinandersetzen in einem zeitlichen Rahmen von der Aufklärung bis zum derzeitigen, kolonialen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine.
Text
Die bisherige Forschung entwickelte sich in verschiedenen Strängen und Disziplinen, die eher parallel verliefen als aufeinander Bezug zu nehmen. Aufbauend auf Edward Saids „Orientalism“ haben Larry Wolff, Maria Todorova und andere aufgezeigt, wie ‚Osteuropa‘ im westlichen Diskurs als ‚das interne Andere‘ konstruiert wurde, als „Europe but not Europe“ (Larry Wolff). Der koloniale Blick Richtung Osten, der die lange Verflechtungs- und Expansionsgeschichte Deutschlands mit und im östlichen Europa prägte, stellt hierbei einen besonders relevanten Fall dar. Eine zweite Forschungsrichtung fragt, aufbauend auf Immanuel Wallersteins Weltsystem-Theorie, nach der (Nicht-)Position des „Global East“ (Martin Müller) als einer „semi-periphery“ (Marta Grzechnik; Ivan Kalmar).
Zugleich war und ist die Wirkmächtigkeit von (Post)Kolonialismus innerhalb des östlichen Europa Gegenstand der Forschung. Dies gilt etwa für die kolonialen Muster, mit denen verschiedene Gruppen innerhalb der Imperien und Nationalstaaten Fragen von Multikulturalität und interethnischen Beziehungen verhandelten. Zudem wurde die Frage aufgeworfen, inwieweit sich Analogien in historischen Erfahrungen des Realsozialismus und des Kolonialismus finden lassen. Und seit dem 24. Februar 2022 besitzt das Thema der russischen imperial-kolonialen Ideologie gegenüber anderen Staaten des östlichen Europa, aber auch gegenüber nicht-russischen Ethnien im Inneren, eine erneute, dramatische Aktualität.
Ziel des Copernico Schwerpunktes ist es, diese verschiedenen Forschungsansätze exemplarisch zu beleuchten und zusammen zu denken. Hierbei sollen die Beiträge durch ihre Themen- und Sprachauswahl besondere Aufmerksamkeit darauf legen, die meist auf einen akademischen Kreis beschränkten, postkolonialen Debatten einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Auf diese Weise sollen sowohl die Relevanz des östlichen Europas in der globalen Erfahrung von (Post)Kolonialismus als auch die spezifischen Ambivalenzen der Region aufgezeigt werden. Im Fokus des Copernico-Schwerpunkts stehen insbesondere die vielfältigen und widersprüchlichen kolonialen Erfahrungen und Vorstellungen im östlichen Europa, denn diese fordern eine bloße Dichotomie Kolonisatoren/Kolonisierte heraus und weisen auf Grauzonen und widersprüchliche Positionen in der kolonialen Ordnung hin.
Es sind Beiträge über die gesamte Region des östlichen Europas und ihre Verflechtungen willkommen. Folgende Themen sind von besonderem Interesse: 
  • Deutsche koloniale Blicke und Diskurse über das östliche Europa, 
  • Imperiale/koloniale Politiken im östlichen Europa (sowohl seitens der Imperien wie auch innerhalb der Nationalstaaten),
  • Osteuropäische Kolonisierungen,
  • Alteritätsdiskurse, (Selbst-)Orientalismen, Zivilisierungsmissionen,
  • (post)koloniales Selbstverständnisse in der sozialistischen und postsozialistischen Zeit,
  • Koloniale Bilder in Literatur, Kunst und Literatur,
  • Postkoloniale Perspektiven auf das Verhältnis des östlichen Europa zu Europa.
Aufgerufen wird zur Einreichung von Beitragsvorschlägen unterschiedlichster Formate und Inhaltsformen, von niedrigschwelligen Einführungsformaten bis hin zu vertiefenden Hintergrundartikeln zu spezifischen Fragestellungen. Die maximale Textlänge beträgt 12.000 Zeichen einschl. Leerzeichen. Weitere Textformen, beispielsweise zur Vorstellung historischer Persönlichkeiten, für Objektgeschichten oder zu ausgewählten historischen Quellen können auch deutlich kürzer ausfallen (4.000-6.000 Zeichen).
Beiträge ab einer Länge von 10.000 Zeichen werden parallel auf dem Publikationsserver des Herder-Instituts publiziert und mit einer DOI versehen. Darüber hinaus verfügen alle Beiträge im Portal über eine Zitierempfehlung, Permalinks und Lizenzhinweis. Sämtliche Beiträge werden zweisprachig publiziert und ins Englische übersetzt (bei Bedarf können Beiträge auch auf Englisch eingereicht und ins Deutsche übertragen werden). Benötigt wird für jeden Beitrag mindestens eine attraktive und hochaufgelöste Illustration mitsamt Bildunterschrift und erfolgter Rechteklärung. Die eingereichten Beiträge werden im Rahmen eines internen Begutachtungsverfahrens lektoriert. Alle Autor:innen behalten die Nutzungsrechte für Ihre eigenen Texte. Weitere Hinweise für Beiträger:innen, zu Illustrationen und Schlagwörtern erhalten Sie im Portal selbst sowie auf Anfrage unter copernico@herder-institut.de. Es gelten die Regeln guter wissenschaftlicher Praxis.
Einsendeschluss und Termine:
Bitte schicken Sie bis zum 31. Mai 2023 ein Abstract von max. 300 Wörtern mit einer kurzen Beschreibung des geplanten Beitrags an copernico@herder-institut.de Sie erhalten Rückmeldung bis zum 30. Juni 2023, ob der Beitrag zum Themenschwerpunkt zugelassen ist. Einsendeschluss der fertigen Beiträge ist der 15. Oktober 2023. Im Anschluss erfolgt die Begutachtung.