Call for Contributions: Reisen und Tourismus

Das östliche Europa als Reiseziel
Das Reisen in fremde Länder prägt das gegenseitige Verständnis in widersprüchlicher Weise.  Einerseits fördert die touristische Begegnung Verständnis und Wertschätzung, andererseits kann sie dazu beitragen, Vorurteile zu verfestigen und kulturelle Gräben zu vertiefen. Insbesondere der für den modernen Tourismus charakteristische „tourist gaze“, jenes mit spezifischen Erwartungshorizonten aufgeladene Sehen, fungiert oft weniger als Brücke denn als Filter. 
Die Länder des östlichen Europa hatten für Reisende aus Westeuropa als Projektionsfläche stets eine doppelte Funktion: Für die einen waren sie Sehnsuchtsorte, an denen sie nach dem angeblich Unverfälschten, Authentischen suchten, nach einer Gegenwelt zu einer als fremd empfundenen Moderne. Für andere boten sie die Möglichkeit, hegemoniale westliche Deutungsmuster zu betätigen, indem sie Rückständigkeit, Exotik oder kulturelle Andersartigkeit in das Gesehene hineininterpretierten. 
Zudem formten die unterschiedlichen Modi des Reisens, die eng an gesellschaftliche, ökonomische und politische Konstellationen gekoppelt waren, maßgeblich die Wahrnehmung: Bildungsreisende des 19. Jahrhunderts nahmen ihre Ziele anders wahr als die Reisenden des im 20. Jahrhundert aufkommenden Massentourismus. Das Interesse von Geschäftsreisenden unterschied sich wiederum deutlich von jenem der Menschen, die Erholung und soziale Begegnungen in Kurorten suchten.
Der Tourismus hinterließ auch Spuren in den bereisten Ländern selbst. Dass die Suche nach authentischen Erlebnissen und unberührter Natur im Zeitalter des Massentourismus eben diese zunehmend zerstört, hat Hans Magnus Enzensberger bereits 1958 in einem bahnbrechenden Aufsatz herausgestellt. Indem sich gastgebende Länder auf Reisende einstellten, Infrastrukturen für sie schufen, bestimmte Orte als Sehenswürdigkeiten auswiesen und ein Bild ihrer kulturellen Besonderheiten vermittelten, transformierten sie auch das kulturelle Selbstverständnis der einheimischen Bevölkerung. Die Repräsentation des Eigenen für den Blick der Anderen wirkte rückwirkend auch auf eigene kollektive Identitätskonstruktionen. 
Besonders deutlich wird dieser Aspekt eines nach außen wie innen wirkenden „Schaufensters“ bei Reisen, die während des Kalten Krieges über den „Eisernen Vorhang“ hinweg führten. Den Reisenden wurde stets auch ein politisches System präsentiert, und touristische Angebote konnten dabei propagandistische Funktionen übernehmen. Allerdings funktionierten solche „Begegnungen nach Plan“ nicht immer wie vorgesehen: Reisende widersetzten sich den Vorgaben, ignorierten die angebotenen Deutungen oder interpretierten sie auf eigensinnige Weise um. Dies galt besonders für Gäste, die bereits über Ortskenntnisse verfügten. Manche stammten sogar aus den Ländern, die sie bereisten, und hatten sie erst durch Flucht, Vertreibung oder Umsiedlung verlassen. Gerade sie suchten auf touristischen Reisen nicht selten nach Möglichkeiten für Kontakte außerhalb der meist rigiden Besuchsprogramme. Die Kontrolle über die Bilder, die sich Gäste wie Einheimische voneinander machten, erwies sich als schwierig. 
In dem Copernico-Schwerpunkt sollen die Erfahrungen von Reisen ins östliche Europa an vielfältigen Beispielen aus unterschiedlichen Blickwinkeln repräsentiert, analysiert und hinterfragt werden. Mögliche Themenfelder und dazugehörende Fragen sind: 
  • Welche diskursiven Konstruktionen von „Fremdheit“ und „Authentizität“ prägen den Blick westlicher Reisender auf Ost(mittel)europa?
  • Inwiefern reproduziert oder destabilisiert der Tourismus bestehende kulturelle Hierarchien zwischen „West“ und „Ost“?
  • Welche Bildpolitiken sind in Reiseprospekten, Bildbänden, Postkarten und Social-Media-Inhalten erkennbar?
  • Wie werden Räume (z. B. Städte, Kurorte, Landschaften) touristisch inszeniert und symbolisch aufgeladen?
  • Wie wurden touristische Reisen über den Eisernen Vorhang hinweg ideologisch instrumentalisiert?
  • Welche Rolle spielen Souvenirs, Reiseandenken und lokale Handwerksprodukte in der Konstruktion kultureller Bedeutung?
Aufgerufen wird zur Einreichung von Beitragsvorschlägen unterschiedlicher Formate und Inhaltsformen, von niedrigschwelligen Einführungsformaten bis hin zu vertiefenden Hintergrundartikeln zu spezifischen Fragestellungen. Die maximale Textlänge beträgt 12.000 Zeichen einschl. Leerzeichen. Weitere Textformen, für Objektgeschichten (beispielsweise zu bestimmten Sehenswürdigkeiten, zu konkreten Souveniren etc.) oder zu ausgewählten historischen Quellen können auch deutlich kürzer ausfallen (4.000–6.000 Zeichen).
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Einsendeschluss und Termine

Bitte schicken Sie bis zum 30. August 2025 ein Abstract von max. 300 Wörtern mit einer kurzen Beschreibung des geplanten Beitrags an copernico@herder-institut.de. Sie erhalten Rückmeldung bis zum 30. September 2025, ob der Beitrag zum Themenschwerpunkt zugelassen ist. Einsendeschluss der fertigen Beiträge ist der 30. Dezember 2025.

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