Das Portal „In The Thunderstorm of War“ präsentiert Interviews mit Wissenschaftler:innen aus der Ukraine, die ihren eigentlichen Beruf aufgrund des russischen Angriffskrieges nicht weiter ausüben können.
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„In The Thunderstorm of War“ ist Teil der ukrainischen Wissenschaftsplattform „Ukraina Moderna“, zu der auch eine gleichnamige wissenschaftliche Zeitschrift gehört. Das von Oksana Ovsiiuk geleitete Projekt setzt sich zur Aufgabe, die Erfahrungen der Wissenschaftler:innen in den Gesamtkontext der ukrainischen Kriegserfahrung einzubetten. Thematisch decken die Beiträge ein breites Spektrum ab. So werden Belagerungssituationen und das Ausharren an umkämpften Orten oder Tätigkeiten im Rahmen von Freiwilligendiensten geschildert. Wissenschaftler:innen, die ihre professionelle Tätigkeit gegen den aktiven Kampf in der Armee eingetauscht haben, berichten von ihren Einsätzen an der Front und beschreiben auf nahegehende Weise, wie sie den Krieg erleben, welche Emotionen sie begleiten – oder wie das unmittelbar Erlebte gewissermaßen auch das Ende der Emotionalität bedeuten kann:
 

Diese Gefühllosigkeit ist heute der Schlüssel zu unserem emotionalen Überleben, denn echte menschliche Gefühle sind an der Front schlimmer als Waffen1

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Besucher:innen des Portals wird eine Reihe solcher zutiefst erschütternder Sinneseindrücke vom Kriegsgeschehen in der Ukraine präsentiert. Sie zeigen eindrücklich die Zäsur auf, die der Krieg für viele Wissenschaftler:innen bedeutet hat. Auf einmal wurden Historiker:innen, Ethnolog:innen und Anthropolog:innen zu Soldat:innen und Freiwilligen im Kriegsdienst. Sich wie vor Ausbruch des Krieges über Veröffentlichungen, Tagungen und Vorlesungen artikulieren zu können, war schlagartig nicht mehr möglich. Und dennoch bleiben viele der porträtierten Personen ihrem wissenschaftlichen Ursprung treu. Dr. Oleksandr Khomenko berichtet beispielsweise, dass er in seiner Rolle als Soldat an der Front den Rufnamen „Historiker“ erhalten hat. 
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Neben Fragen zu den allgemeinen Erfahrungen im unmittelbaren Kriegsgeschehen finden sich in den Interviews häufig auch Fragen dazu, wie die Porträtierten das Erlebte als Wissenschaftler;innen einordnen. Das Portal möchte den Betroffenen trotz ihrer neuen Rolle auch in ihrer eigentlichen, wissenschaftlichen Community Stimme und Gehör verleihen. Nicht zuletzt dazu wurde die Plattform von „Ukraina Moderna“ in Zusammenarbeit mit der Nichtregierungsorganisation „Zentrum für angewandte Anthropologie“ ins Leben gerufen.  Hierfür ist die Website auch für Menschen zugänglich, die der ukrainischen Sprache nicht mächtig sind. Neben einer deutschen Version finden sich auch englisch- und französischsprachige Übersetzungen.
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Die Interviews selbst veranschlagen meist eine Lesezeit von 20-30 Minuten. Genug Zeit also, um auch tiefer in die einzelnen Geschichten eintauchen zu können. Die Website ist vor allem deswegen lesenswert, da sie die meist auf der Makroebene berichtenden Nachrichtensendungen und -portale um Schilderungen der emotionalen und sehr persönlichen Konsequenzen ergänzt.  

Damals machte ich mir am meisten Sorgen um meine Familie, denn mir war klar, dass sie meinetwegen als Geisel genommen werden könnte. Und was sie dann mit ihnen machen würden, ist unbekannt. Wegen all dieser Sorgen habe ich innerhalb von eineinhalb Monaten fünfzehn Kilogramm abgenommen.2