Die Ausstellung „Grenzen in der Kunst. Tschechische Kunst in drei Generationen“ (21.5.-15.8.2021) untersuchte, inwiefern „Grenzen“ in der bildenden Kunst sichtbar werden. Im Fokus stand die tschechische Kunstszene seit den 1920er Jahren bis heute. Drei herausragende Künstlerpositionen repräsentierten exemplarisch jeweils eine Generation: Toyen, Magdalena Jetelová und Krištof Kintera. Der Kurzfilm, der begleitend zu der Ausstellung entstand, zeigt verschiedene Aspekte von „Grenzen“ und „Grenzüberschreitungen“ sowohl im historischen Kontext als auch in aktuellen Zusammenhängen.
Text
Die Ausstellung
Text
Die drei für die Ausstellung „Grenzen in der Kunst“ exemplarisch ausgewählten Künstlerpersönlichkeiten – die Malerin und Grafikerin Toyen (1902–1980) und die beiden Konzeptkünstler Magdalena Jetelová (*1946) und Krištof Kintera (*1973) – sind biografisch in unterschiedlichen Abschnitten der tschechoslowakischen bzw. tschechischen Geschichte des 20./21. Jahrhunderts verankert, auf die sie reagieren.
 
Die tschechische Geschichte war in den letzten 100 Jahren von historischen Einschnitten geprägt, die mit Veränderungen von politischen „Grenzziehungen“ einhergingen: Mit der Gründung der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg wurden die Staatsgrenzen definiert. Der „Anschluss“ des Sudetenlandes an das Deutsche Reich 1938 und die Besetzung der „Resttschechei“ 1938 war dann nicht nur eine gewaltsame Überschreitung der realen, politischen Grenze, sondern brachte weitere Übertretungen moralischer und menschlicher Wertvorstellungen und Grenzen mit sich. Nach dem Machtantritt der Kommunisten 1948 etablierten sich schließlich die nach Westen, zur Bundesrepublik und zur Republik Österreich liegenden Grenzen des wiedererrichteten Staates als scheinbar unüberwindbarer Eiserner Vorhang. Die Zeit der Isolation und der vielfachen Freiheitseinschränkungen endete erst mit der Samtenen Revolution 1989. Die Grenzen wurden geöffnet.
 
Angeregt wurde die Ausstellung durch den interdisziplinären Forschungsverbund „Grenze/n in nationalen und transnationalen Erinnerungskulturen zwischen Tschechien und Bayern“, der sich mit der Grenze in den Erinnerungskulturen und den (inhaltlichen) Grenzen von Erinnerungskulturen auseinandersetzt und die kulturbildende und -bindende Funktion von Grenzen kritisch hinterfragt. Die in dem Forschungsverbund angesiedelten Promotionsprojekte widmeten sich unterschiedlichen Themen, die mit der historischen Wechselbeziehung zwischen Deutschen und Tschechen zu tun haben. Getragen wurde der Forschungsverbund von den Universitäten Regensburg und Passau, der Karls-Universität Prag, der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem und dem Kulturreferenten für die böhmischen Länder im Adalbert Stifter Verein (2017–2020).
Der Film
Text
Als Vertiefung des Ausstellungsprojekts bietet der Film die Möglichkeit, verschiedene Aspekte von „Grenzen“ und „Grenzüberschreitungen“ anhand von persönlichen Erlebnisberichten aufzuzeigen. Der Kurzfilm ist als virtueller Gang durch die Ausstellung konzipiert. Das Ausstellungsthema „Grenzen in der Kunst“ und die Auswahl der beiden Künstlerinnen und des Künstlers für das Projekt erläutert die Kuratorin Dr. Agnes Tieze. Neben der kunsthistorischen Sicht beleuchtet sie auch den jeweiligen historischen und biografischen Kontext. Magdalena Jetelová und Krištof Kintera fungieren als Zeitzeugen und aktualisieren den historischen Blick. Krištof Kintera steht für die tschechische Gegenwartskunst ohne deutsche Wurzeln, während Magdalena Jetelová aus einer deutsch-böhmischen Familie stammt und 1985 aus der kommunistischen Tschechoslowakei nach Deutschland emigriert ist. Das Phänomen der Grenzen und die Widersprüchlichkeit des Raumes stellt in Jetelovás gesamtem Oeuvre das Hauptmotiv dar. In unterschiedlicher Weise reflektieren auch einzelne Werke Kinteras Grenzerfahrungen. Toyens künstlerische Entwicklung ist letztlich vom Wechsel zwischen Paris und Prag sowie der Flucht nach Frankreich noch vor dem Ende der dritten tschechoslowakischen Republik geprägt.
Die Künstlerinnen und Künstler
Text
Toyen
 
Die Malerin und Grafikerin Marie Čermínová ist unter ihrem Künstlernamen Toyen bekannt geworden, der auf das französische Wort „citoyen“ für Bürger zurückgeht. Als Künstlerin durchlief sie alle zukunftsweisenden Strömungen der tschechoslowakischen Kunstszene der Zwischenkriegszeit und prägte sie entscheidend mit: Kubismus, Poetismus, Artifizialismus und Surrealismus. Maßgebend war dabei der enge Kontakt zum französischen Umfeld. In Paris lebte sie bereits zwischen 1925 und 1929. Endgültig zog sie in die französische Hauptstadt 1947, kurz bevor die kommunistische Partei in der Tschechoslowakei an die Macht kam.
Die 1920er Jahre wurden in der Tschechoslowakei von der euphorischen Aufbruchsstimmung der 1918 gegründeten Republik getragen – des ersten gemeinsamen Staates der Tschechen und Slowaken. Die Begeisterung für das moderne Leben, die einfache Formensprache und der Wunsch, das Leben als Poesie zu begreifen, fand im so genannten Poetismus Ausdruck. Diese für das Land spezifische Stilrichtung prägte die avantgardistische Gruppe „Devětsil“. Die bildende Kunst vertraten hier vor allem Toyen und ihr Seelenverwandter und Gefährte Jindřich Štyrský (1899–1942).
Zusammen mit Štyrský ging Toyen 1925 nach Paris. In enger Zusammenarbeit entwickelten sie einen eigenständigen Stil, den Artifizialismus. Sie verwendeten ungegenständliche, organische Formen, um Empfindungen, Erinnerungen aber auch fantastische Vorstellungen zum Ausdruck zu bringen. Der „Devětsil“-Theoretiker Karel Teige sprach hier von einem „Dialog des Bewussten mit dem Unbewussten“. Gerade diese Fähigkeit, innerste Regungen – durchaus beunruhigende Botschaften – ins Bild umzusetzen, ist das, was sowohl bei Toyen als auch bei Štyrský zu einer Annäherung an den
Surrealismus führte. Anfang der 1930er Jahre fanden konkretere Strukturen und Objekte Eingang in ihre Gemälde und Zeichnungen. Oft sind es erotisch aufgeladene Themen, mit denen sie sich auseinandersetzen, bei Toyen spielt der Frauenkörper und die weibliche Sexualität eine wichtige Rolle. 1934 beteiligten sich beide an der Gründung der Surrealistischen Gruppe in Prag, die sich in engem Kontakt mit den französischen Kollegen André Breton und Paul Éluard herausbildete.
In der Ausstellung waren einige von Toyens wichtigen Werken der 1930er Jahre zu sehen, beispielsweise die Gemälde „Obraz (Das Bild)“ (1932) oder „Oblázky večera (Kieselsteine des Abends)“ (1937) in Gegenüberstellung mit zwei Arbeiten von Štyrský. Besonders eindrucksvoll ist Toyens neunteiliger grafischer Zyklus „Cache toi guerre!” von 1944. Alptraumhaft inszenierte Tierskelette und verödete Landschaften stehen für den zerstörerischen Krieg. Der Titel – ursprünglich tschechisch „Schovej se válko!“ – mag eine Anspielung darauf sein, dass Toyen in den Kriegsjahren den jüdischen Künstler Jindřich Heisler in ihrer Wohnung versteckt hielt.
Nach Štyrskýs Tod 1942 wurde Heisler Toyens engster Wegbegleiter. Mit ihm zusammen verließ sie 1947 die Tschechoslowakei – vordergründig um an einer Surrealismus-Ausstellung in Paris teilzunehmen. Doch eine Rückkehr war wohl angesichts der politischen Lage von Anfang an nicht geplant. Bis in die 1960er Jahre bleibt die Emigrantin im tschechischen Kontext so gut wie unerwähnt. Erst einundvierzig Jahre nach ihrem Tod wird Toyen eine öffentliche Würdigung in verschiedenen europäischen Museen zuteil.
Text
 
Magdalena Jetelová
Magdalena Jetelová hinterfragt Grenzen jeglicher Ausprägung, das Überschreiten und Überwinden der Grenzen zieht sich durch ihr ganzes Schaffen hindurch. Prägend war für sie die Erfahrung des geteilten Europa, die sie in der sozialistischen Tschechoslowakei der 1970er und 1980er Jahre als Isolation und politische Unfreiheit erlebte. 1985 flüchtete sie schließlich nach Deutschland.
 
Ihre ersten Werke waren überdimensionale Holzskulpturen – Schränke, Treppen, Tore und Stühle. Im Kontext der damaligen Zeit kann man diese Denkmäler für Gebrauchsgegenstände auch als einen Verweis auf die Absurdität des sozialistischen Realismus lesen. Die Verschiebung im Maßstab, die Bezüge zwischen Dingen relativiert und auflöst, ist ein Phänomen, das Jetelová später weiter ausführt. Sie bringt Unvergleichbares zusammen, verschränkt unterschiedliche Räume und Dimensionen.
 
In ihren Ausstellungen bezieht Magdalena Jetelová den architektonischen Raum mit ein, verändert ihn, bricht ihn auf. Im größeren Ausmaß arbeitet sie mit dem Stadtraum und mit der Landschaft. Erste Aktionen im Außenbereich verwirklichte sie noch in Prag, kurz bevor sie emigrierte. Die roten emporsteigenden Rauchsignale waren Hilferuf und Warnung zugleich – ein Hinweis auf die sich ausbreitende unterdrückende Macht der kommunistischen Sowjetunion. Später setzt Jetelová die modernsten Mittel der Technik und Wissenschaft ein. Mit Hilfe von Laserstrahlen zeichnet und schreibt sie direkt in die Landschaft hinein und macht Unsichtbares sichtbar. Ihre Projekte hält sie mittels Fotografie und Film fest. Speziell konstruierte Leuchtkästen machen den Effekt des Laserstrahls erfahrbar.
 
In der Ausstellung waren einige dieser Leuchtkästen zu sehen. Inhaltlich greift Jetelová ein Thema auf, mit dem sie sich bereits längere Zeit auseinandersetzt. „The Essential is no longer visible“ schrieb sie mit Laserstrahl auf die Überreste einer deutschen Bunkerarchitektur aus dem Zweiten Weltkrieg. In ihrem Projekt „Atlantic Wall“ von 1994-95 befasste sie sich mit der Verteidigungslinie an der Atlantikküste. Den bereits zitierten Sinnspruch des französischen Philosophen Paul Virilio verändert sie über 20 Jahre später genau in das Gegenteil: „The Essential is visible“ – das Wesentliche ist sichtbar. Dieses Mal projiziert sie diesen Schriftzug auf das schmelzende Eis eines Gletschers in Patagonien. In dieser lebensfeindlichen Gegend verbringt sie den Jahreswechsel 2017/2018, um ein weiteres Landart-Projekt durchzuführen. Hier an der westlichen Küste Südamerikas stoßen tektonische Platten aufeinander, was unter anderem Vulkanaktivität zu Folge hat. Nach dieser geografischen Erscheinung nennt Jetelová ihr Projekt „The Pacific Ring of Fire“. Mit dem Laserstrahl zieht sie zum einen die Grenzen zwischen den tektonischen Platten nach. Doch mit dem Schriftzug „The Essential is visible“ führt sie zugleich ein weiteres Thema vor Augen: Die schmelzenden Gletscher, die durch den Klimawandel an Masse verlieren.
 
Die Atacama-Wüste in den Anden, wo das bisher größte bodengebundene Astronomieprojekt realisiert wird, inspirierte sie zu einer weiteren Arbeit: mittels Technik Kontakt mit dem Mond aufzunehmen. Ihre Kommunikation mit dem Erdsatelliten ist in einem Video festgehalten, das ebenfalls in der Ausstellung zu sehen war. Am meisten fasziniert die Künstlerin das Geräusch des Urknalls, das mit dem Echo der eigenen Worte zurückkommt. Diese Vorstellung, dass das Vergangene doch so präsent ist, versteht sie als eine Mahnung. „Es kann uns morgen passieren, dass sich unser Planet in nichts auflöst“, sagt sie dazu. Der Kreis schließt sich in der Projektion im großen Ausstellungssaal. Mit Laserlicht lässt Jetelová ihre Zeichnungen unmittelbar im Raum entstehen, wobei sie das Bild gleichzeitig durch vibrierende Spiegelflächen zerstört. Symbolisch bezieht sie sich hier auf den Kreislauf des Universums von der Entstehung der Planeten und Galaxien bis hin zu ihrem Untergang, auf den im Loop wieder ein Neuanfang folgt.
Text
Krištof Kintera
 
Krištof Kintera gehört zu einer Generation, die Grenzen im erwachsenen Alter nicht mehr selbst als konkretes Hindernis erfahren hat. Seine künstlerische Laufbahn startete er Anfang der 1990er Jahre. Der Fall des Eisernen Vorhangs, in der Tschechoslowakei die so genannte Samtene Revolution von 1989, brachte die Öffnung Richtung Westen und eine neue Ära der Freiheit und Demokratie.
 
Kintera bezeichnet sich selbst als Bildhauer. Sein Material schöpft er aus einem umfangreichen Fundus aus ausgedienten Alltagsgegenständen, die er in seinem laborartigen Atelier zu neuem Leben erweckt. Durch eingebaute Mechanik bewegen sich oder sprechen einige seiner Skulpturen. Sie sind immer abstrahiert; etwa indem die Größe reduziert ist, Tierobjekte Kleidung tragen oder einzelne Gegenstände in Unmengen angehäuft werden, so dass sich der Wert des Einzelnen nicht mehr erschließt. Diese nur vermeintlich reale Objektwelt verstört den Betrachter. Sie ist vertraut und dennoch fremd. Wirklichkeit und Illusion vermischen sich letztlich durch den Einsatz von Ironie, Groteske und Übertreibung.
 
Den Auftakt zur Ausstellung machte Kintera bereits auf dem Museumsvorplatz mit der Installation „Paradise Now“ (2009). Die zwölf Absperrgitter, die er durch angefügte Rohre in Hirsche verwandelt hat, zeigen plakativ, was der Künstler von Absperrungen und Grenzen hält: „Auch wenn wir die ganze komplizierte Geschichte bedenken, die wir nicht unberücksichtigt lassen können, wäre es schon aus praktischen Gründen besser, wenn wir es hinbekommen würden, keine Grenzen zu brauchen.“
Das Foyer beherrschte eine schwindelerregend hohe Stele. Der Künstler konstruierte hier eine Hommage an Constantin Brâncușis „Endlose Säule“, allerdings aus unerwartetem Material – Zementsäcken. „Do It Yourself (After Brancusi)“ (2007) verkündet der Titel. Auch im Hauptsaal befanden sich drei Werke, die sich durch ihre Vertikalität auszeichnen. Der massive Turm aus einbetonierten Büchern mit dem Titel „The End of Words III“ (2014–2015) verweist auf mehrere Bedeutungsebenen: Er erinnert sowohl an Zensur und Büchervernichtung in der kommunistischen Tschechoslowakei als auch an die schwindende analoge Welt. Eine nostalgische Note schwingt auch im „Memorial of Passed Light“ (2019) mit, einer säulenartigen Bündelung von erloschenen Leuchtstoffröhren. Licht ist ein wesentliches Element der dritten Skulptur. „Past Thinking About Future When Watching You“ (2016) fixiert die Betrachter:innen mit ihrem Blick. Der Gesichtsausdruck ihres barocken Kopfes scheint sich im Wechselspiel aus Licht und Schatten, das gerade für die Barockzeit bezeichnend war, zu verändern.
 
Ein intensives Erlebnis bereitete den Besucher:innen eine kleine Figur, die mit dem Gesicht zur Wand stand und plötzlich mit ihrem Kopf gegen die Wand hämmerte. Sie ist der Inbegriff eines frustrierten Menschen, der zwar Veränderung anstrebt, jedoch seine ganze Energie nur auf eine sinnlose, selbstzerstörerische Art einsetzen kann. Der Titel „Revolution“ hebt den politischen Aspekt hervor. Gesellschaftskritische Anspielungen sind auch in Kinteras „Zeichnungen“ zu finden. Die gleichförmigen Tafeln, vielfach bestückt mit verschiedenen Objekten und oft mit Schlagworten versehen, dienen ihm als eine Art Skizzenbuch für unmittelbare „Aufzeichnungen“ zu Themen, die ihn beschäftigen.