Literarisches Krisenbewusstsein

Deutschsprachige Autor:innen und Russlands Krieg gegen die Ukraine
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Inwiefern tangiert Russlands Krieg gegen die Ukraine deutschsprachige Autor:innen? Welchen Einfluss hat er auf ihr literarisches Selbstverständnis, ihre Themen und ihre Sprache? Texte von Durs Grünbein, Kerstin Preiwuß und Marcel Beyer werden auf diese Frage hin näher betrachtet. Alle drei begreifen den Krieg als einschneidende Zäsur und ringen um neue literarische Ausdrucksformen für dieses Krisenbewusstsein.
Wie wirkt sich Russlands Krieg gegen die Ukraine auf das Schreiben von Autor:innen aus, die davon nicht unmittelbar betroffen sind? Welche literarischen Reaktionen lassen sich bei deutschsprachigen Schriftsteller:innen finden, die weder durch ihren Wohnort noch durch ihre Herkunft direkt involviert sind?1 In der Zeit nach dem 24. Februar 2022 haben sich Schreibende in Deutschland vor allem durch ihre öffentliche Positionierung für oder gegen Waffenlieferungen – in Form von Petitionen, offenen Briefen, Interviews und Essays – in großer Zahl geäußert.2 Doch wird der Krieg in einigen literarischen Texten auch explizit zum Thema oder zum Gegenstand der Reflexion. Die sichere Distanz zur Kriegsrealität, in der diese Texte entstehen, ist mit der existenzbedrohenden Situation, in der ukrainische Autor:innen leben und arbeiten, nicht zu vergleichen. Marcel Beyer betont diese Differenz gleich zu Beginn seiner Wuppertaler Poetik-Vorlesungen für faktuales Erzählen aus dem Frühjahr 2022: „Mein Leben ist nicht in Gefahr. Ich bin in Sicherheit.“3 
Im Folgenden stehen poetische, essayistische und poetologische Texte im Fokus, die sich als Ausdrucksformen von Krisenbewusstsein beschreiben lassen. Es sind tastende Versuche dreier Autor:innen, die vom Krieg gegen die Ukraine in einer Weise tangiert werden, dass sie gesellschaftliche oder eigene Denk- und Wahrnehmungsmuster infrage stellen.

Geistesgegenwart und Krisenbewusstsein: Durs Grünbein

Seit der Eskalation des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine hat Durs Grünbein Durs Grünbein Der 1962 in Dresden geborene Lyriker und Essayist Durs Grünbein wurde für sein Werk unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis (1995) und dem Friedrich-Hölderlin-Preis (2005) ausgezeichnet. Seine Gedichte und Essays, u.a. Schädelbasislektion (1991), Nach den Satiren (1999), Äquidistanz (2022), greifen immer wieder geschichtsphilosophisch-politische Themen auf. Als kritischer Intellektueller reflektiert er auch im Feuilleton das Zeitgeschehen. mehrfach öffentlich Stellung bezogen, Appelle unterzeichnet, krisendiagnostische Essays geschrieben und Interviews gegeben.4 Aber auch literarisch hat er reagiert: Zuletzt sind sein Gedichtband Äquidistanz (2022) und der Roman Komet (2023) erschienen, beide durch den aktuellen Krieg in Europa beeinflusst. Noch vor dem 24. Februar 2022 unterzeichnete er einen Künstler-Appell zur Ukraine.5 Anfang April 2022 veröffentlichte er in der Süddeutschen Zeitung seinen Essay Nichts berechtigt uns zur Hoffnung. Dieser benennt den ungeheuerlichen Bruch mit der regelbasierten Ordnung, der sich weltpolitisch mit dem Datum das 24. Februar 2022 verbindet, wenn er mit den Worten einsetzt:


Am 24. Februar geschah das Undenkbare: Die Streitkräfte der Russländischen Föderation, im Westen kurz Russland genannt, marschieren in ein souveränes Nachbarland ein, die Ukraine. Sie überfallen ein Land, dessen Unabhängigkeit auch Russland in bilateralen Verträgen mehrfach verbürgt hat. Seit mehreren Wochen führen die Russen nun Krieg. Sie führen einen Krieg, den sie nicht einmal Krieg nennen können, das ist erbärmlich. Sie führen ihn unter Vorwänden, die ihnen niemand abkauft, nicht einmal sie selbst, das ist absurd. Sie führen ihn stümperhaft und unter hohen eigenen Verlusten, das ist selbstzerstörerisch. Sie führen ihn, miserable Militärstrategen, vor allem gegen die schutzlose Zivilbevölkerung, und das ist ein Kriegsverbrechen.6

Grünbein erkennt in dem Krieg die programmatische Zielsetzung Russlands unter Putin und legt dessen autoritäre, expansive und menschenverachtende Mechanismen offen. Zum Ausdruck kommt in diesem Essay nicht nur die Verlogenheit der russischen Kriegsgründe, sondern eine am Völkerrecht orientierte eindeutige Haltung zu Russlands Angriffskrieg. Die Entwicklung hin zu einem „Russofaschismus“7 zeichnet er nach und erkennt als entscheidenden Schritt Putins „Wende in der Geschichtspolitik, das Ende der Aufklärung über die Verbrechen des Stalinismus und des Stalin’schen Systems der Konzentrations- und Arbeitslager“8. Seine Analyse basiert auf einer Engführung von Gegenwart und Geschichte. Dabei bringt er neben dem 24. Februar 2022 ein weiteres weltpolitisches Datum ins Spiel: den Tag der Unterzeichnung des Hitler-Stalin-Pakts am 23. August 1939.
Diesem Datum, das im Gedächtnis ost(mittel)europäischer Länder wie Polen oder Estland einen festen Platz hat, gilt auch sein Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Der 23. August 1939, das der Lyriker in seinen im Juli 2022 erscheinenden Lyrikband Äquidistanz einfügt. In diesem Gedicht werden zeithistorische und aktuelle Zäsur in mehrfacher Hinsicht miteinander verbunden:


[…]
Flieg zurück an den Anfang, Seele, zurück
[10] zu den Jahren der Formation, Jahren der Illusion für Millionen, an die unheimliche Schwelle,
als die Drachen sich beinah küßten, wie in Paris
auf der Weltausstellung die turmhohen Pavillons,
und der Polyp Cosmocrator, unheilbringend,
[15]als Schatten sich über die Massen legte.
Dreh deine Runden überm Europa der Friedenszeit
bevor die Massaker begannen, die Säuberungen
im Paranoiagelände der neuen Arbeiterparadiese,
der Arbeitslager, Großbaustellen, Hüttenwerke,
[20] in der Weltsekunde des Zitterns, wo alles möglich war
zwischen Faschismus und Kommunismus,

[…]

[25] Es war ein unauffälliger Tag, als ein paar
untersetzter Männer, inferiore Typen, Tyrannen,
unter sich ganze Völker austauschten,
als die Blindenführer des Jahrhunderts beschlossen,
ihre Bevölkerungen als Geiseln zu nehmen,
[30] mit den Grenzen zu spielen, den Landschaften.
Stunde der Kartographen in ihren Büros,
Stunde der Aktenkonzentration (NKWD, Gestapo),
Erfassung der Menschen im eigenen Reich
wie in allen besetzten Gebieten
[35] mit Kenn-Nummern, Photos, Fingerabdrücken,
zur Weiterverwendung (Arbeit oder Tod).

[…]9 

Zahlreiche Stellen lesen sich im Sinne einer Analogie nicht nur als Beschreibung der damaligen Auswirkungen des Hitler-Stalin-Pakts, sondern ebenso als Ausdruck des Schreckens der Gegenwart: „Dreh deine Runden überm Europa der Friedenszeit // bevor die Massaker begannen, die Säuberungen“ (Vers 16-17); „Weltsekunde des Zitterns „ (Vers 20); „denk dir ,Die Welt von gestern‘, noch unzerstört“ (Vers 24); „als die Blindenführer des Jahrhunderts beschlossen, //ihre Bevölkerungen als Geiseln zu nehmen, // mit den Grenzen zu spielen, den Landschaften“ (Vers 27-30).
Sowohl sein Essay Nichts berechtigt uns zur Hoffnung als auch das Gedicht spielen am Schluss auf Walter Benjamins Freitod im Sommer 1940 an und enden durch die damit hergestellte Parallele zwischen 1940 und 2022 mit einer fast gespenstischen Warnung.
Für Grünbein als gleichermaßen geschichtsphilosophischen wie politischen Lyriker sind zeitpolitisches Engagement und das Schreiben von Gedichten keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Seine Texte sind geschichtsgetränkt und zugleich gegenwartsbezogen. Geistesgegenwart, damit benennt er in seinem gleichnamigen Essay aus dem Frühjahr 2023 sowohl den Moment der lyrischen Inspiration als auch die wache Teilnahme am Zeitgeschehen10. Wenn er den Hitler-Stalin-Pakt, der im Nachkriegsdeutschland nicht wie in Polen, in der Ukraine und im Baltikum als Zäsur verstanden wurde, in seinem gleichnamigen Gedicht als historischen Bruch darstellt, fordert er damit auch eine Wahrnehmungsverschiebung hinsichtlich insbesondere im Westen etablierter Narrative ein. Grünbein verbindet die aktuelle russische mit der damaligen Aggression, bei der Hitler und Stalin Osteuropa untereinander aufteilten. Damit unterscheidet sich seine Position deutlich von der Juli Zehs, Simon Urbans und Alexander Kluges, die ebenfalls historisch, im Rekurs auf den Zweiten Weltkrieg, argumentieren, aber in ihrem Pazifismus blind für die Erfahrung der Bloodlands zwischen Moskau und Berlin bleiben. Wie Jana Mende herausgestellt hat, verschieben letztgenannte Autor:innen damit den Diskurs weg vom Kriegsleid der Angegriffenen hin zu Kriegsängsten und Kriegserinnerungen aufseiten der Deutschen.

Persönliche und gesellschaftliche Erschütterung: Kerstin Preiwuß

Kerstin Preiwuß Kerstin Preiwuß Die 1980 in Lübz, einer Kleinstadt in Mecklenburg-Vorpommern, geborene Kerstin Preiwuß hat zahlreiche Gedichtbände und zwei Romane veröffentlicht. Erwähnt seien die Lyrikbände Gespür für Licht (2016) und Taupunkt (2020) sowie ihre Romane Restwärme (2014) und Onkalo (2017). Sie unterrichtet am Literaturinstitut in Leipzig und hat dort den Lehrstuhl für Literarische Ästhetik inne. nimmt seit mehreren Jahren an den deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffen unter dem Namen Brücke aus Papier teil.11 Damit gehört sie zu denjenigen Autor:innen, die engere Kontakte zu ihren ukrainischen Kolleg:innen unterhalten. Der Krieg gegen die Ukraine wird explizit zum Thema in ihrem 2023 veröffentlichten Buch Heute ist mitten in der Nacht. Seiner Form nach entzieht sich der essayartige Text der Zugehörigkeit zu einem klar umrissenen Genre. Neben erzählenden und beschreibenden Passagen finden sich – oft im Anschluss – Reflexionen, zudem Gedichte (nicht nur von der Autorin) sowie fiktive Briefe. Die Ich-Form dominiert, doch erweitert sie sich immer wieder auch zu einem ,wir‘ oder ,man‘, und in den Briefen entsteht die Spannung zwischen persönlicher Adressierung und einem qua Veröffentlichung allgemein zugänglichen Text. Diese Spannung wiederholt sich auf der inhaltlichen Ebene. Heute ist mitten in der Nacht ist autobiografisch grundiert; seinen Auftakt bilden persönliche „Katastrophe[n]“12, ein „Beinahe-Unfall“13 im Straßenverkehr und eine Vergewaltigung, der das schreibende Ich nur knapp entkommen war.
Die Autorin ist sich der Problematik der Zurschaustellung solch privater Erfahrungen und Ängste bewusst. Allerdings haben ihr zufolge gesellschaftlich-politische Erschütterungen das Verhältnis von Persönlichem und Öffentlichem, zwischen eigener und allgemeiner Katastrophe verändert, was im Abschnitt zur Corona-Pandemie verdeutlicht wird:
 


In dem Moment, wo sich eigenes Unglück und allgemeine Katastrophe decken, ist das Unglück auf paradoxe Weise nicht mehr privat, sondern wird mitteilbar, denn an der Katastrophe leiden alle.14

Preiwuß zieht damit einen Bogen von privaten Katastrophen zu Beginn des Textes zu gesamtgesellschaftlichen Erfahrungen, in denen Privates und Öffentliches zusammenfällt. Hieran schließt sich im letzten Textdrittel der eskalierte russische Krieg gegen die Ukraine an. Einerseits reiht er sich in die zuvor in ihrer Wirkung beschriebenen Krisen respektive Katastrophen ein: „Nur Katastrophen gehen nicht vorbei, sondern lösen einander ab. Nach der Krankheit kommt der Krieg.“15 Andererseits werden jedoch Unterschiede markiert und eine Suchbewegung – nicht zuletzt nach Sprache – erkennbar. Während sich die beiden ersten Teile, über die eigenen Katastrophen und über die Katastrophe, die alle betraf, miteinander verknüpften, setzt sich der dritte Teil insofern ab, als hier die Sprache selbst – nicht das Aussprechen von Erfahrungen – betroffen ist. „Seitdem nehmen die Wörter andere Bedeutung an.“16 Als Beispiele werden die Ausdrücke ,Stille‘ und ,Warten‘ genannt. Angesichts der kriegerischen Aggression, die medial verfolgt wird, bezeichnen sie anderes als bisher Gewohntes. Die sprachliche Umkodierung wird zum Indikator irritierter, ja ins Wanken geratener Sinn- und Verstehenshorizonte:
 


Deine Bezüge lösen sich auf in den Tönen der Sirenen, die feinen Systeme, in denen Du zu denken gewohnt bist, vereinfachen sich brutal. Die Sicherheit deines etablierten Denkens löst sich auf mit jedem Bombeneinschlag.17

Der Krieg fordert die Ich-Autorin auf andere Weise, ermöglicht ihr nicht wie die Krankheit das Sprechen, sondern erschüttert ihre Welt und ihr Selbstverständnis als Lyrikerin, als Autorin, als kritische Zeitgenossin.18 Das betrifft auch die Frage, weshalb die Eskalation des Krieges in Deutschland nicht früher erkannt wurde: 


Dein Frühwarnsystem hat nicht funktioniert, obwohl der Schwellenwert überhandnahm, sich an der Grenze anstaute und man doch dabei zuschauen konnte, wie der Angriff seinen Lauf nahm. […] [W]ährend du auf Zeichen gewartet hast, die dir etwas vorhersagen sollten, damit du dich orientieren konntest, in diesem Sommer zwischen zwei Wellen, übersahst du die Drohkulisse, die sich Zeichen für Zeichen aufbaute. Der Krieg war schon da, aber er drang nicht über die Schwelle.19

Preiwuß’ Buch mündet schließlich in die Einsicht der Unmöglichkeit dessen, was es sich vorgenommen hat. Die Pandemie führte kurz dazu, dass die eigene Erfahrung und die eigenen Ängste mitteilbar wurden. Doch dies war dem besonderen Fall einer ins Private zurückgezogenen Öffentlichkeit geschuldet. Danach stellte sich die Spannung zwischen äußerer und innerer Welt erneut ein; der Krieg veränderte wiederum die Bedingungen und die Sprache. Der Titel Heute ist mitten in der Nacht liest sich als Diagnose einer düsteren Gegenwart, die von Katastrophen wie Corona und Krieg heimgesucht wird. Trotz dieses desillusionistischen Fazits folgt im letzten Abschnitt ein Plädoyer für das Schreiben. Ein Schreiben, das auf die Zeit reagiert, nicht prognostiziert. Mit der Arbeit an der Sprache kann Literatur höchstens künftige Einsichten vorbereiten: „Für die künftigen Bücher haben wir Pinien gepflanzt.“20

Anwaltschaft aus der Distanz: Marcel Beyer

Auch Marcel Beyer Marcel Beyer Der 1965 in Tailfingen, Baden-Württemberg, geborene Marcel Beyer wurde für sein Werk unter anderem mit dem Georg-Büchner-Preis (2016) ausgezeichnet. Seine Romane, Erzählungen, Gedichte und Essays kreisen um das Verhältnis von Medialität und Wirklichkeit. Immer wieder beschäftigt er sich, u.a. in seinem Roman Flughunde (1995) und in seinen Erzählungen Putins Briefkasten (2012), mit Täterfiguren der Zeit(geschichte). beteiligt sich, wie Kerstin Preiwuß, seit mehreren Jahren an den deutsch-ukrainischen Schriftstellertreffen Brücke aus Papier. Zu Russlands Angriffskrieg hat er sich in der Öffentlichkeit kritisch geäußert, so etwa in seiner Rede bei der Dresdner Veranstaltung der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung „Was wir denken, was wir fühlen, was wir hoffen. Positionen zum Krieg in der Ukraine“ (27.05.2022).21 In der vom Bundesinstitut für Kultur und Geschichte des östlichen Europa (BKGE) im Literaturhaus Berlin durchgeführten Veranstaltung „Literatur in Krisenzeiten. Stimmen aus dem östlichen Europa“ (27.11.2023) hat er gemeinsam mit Tanja Maljartschuk (Ukraine) und Maarja Kangro (Estland) darüber gesprochen, was die Rückkehr des Krieges nach Europa für die zeitgenössische Literatur bedeute.22
Literarisch reagierte er bereits im Frühjahr 2022, unmittelbar nach der Eskalation, auf den Krieg: In dieser Zeit hatte er gerade in Wuppertal die erste Poetikdozentur für faktuales Erzählen übernommen. Infolge der Ereignisse in der Ukraine veränderte er das Projekt und stellte es ganz in den Kontext der medialen Wahrnehmung des russischen Angriffskrieges.23
 


In jener heute unendlich weit zurückliegenden Zeit, in jener mittlerweile zwei oder drei oder vier oder fünf oder sechs oder acht oder mehr Wochen zurückliegenden, ein für alle Mal abgeschlossenen Epoche, als man noch versuchen konnte, sich angesichts eines allgegenwärtigen, unentrinnbaren Grauens wenigstens geistig in Sicherheit zu bringen.24
 

Beyer zufolge irritiert der 24. Februar 2022 das Zeitempfinden – diese Irritation kommt in der formulierten Unklarheit performativ zum Ausdruck – und stellt unsere gewohnten Parameter in Frage. Auch die Bedingungen für das Schreiben haben sich verändert. Immer wieder reflektiert der Autor über den Vorgang der Beschreibung bzw. des Erzählens und erklärt, wo der Bereich der Imagination beginnt. Wie können wir über diesen Krieg sprechen? Wie sollen wir umgehen mit der darin zum Ausdruck kommenden Obszönität und Bestialität?
Seine Teilnahme ist eine medial vermittelte, die sich dem Umstand verdankt, dass „Russland seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine vor aller Augen führt, vor den Augen der Welt.“25. Seine Wuppertaler Vorlesungen thematisieren diese „obszöne“26 Zurschaustellung und sind ihr zugleich entgegengerichtet, ebenso wie gegen den Informationskrieg. Bewusst werden Kriegsfotografien für eine Beschreibung ausgewählt. Dabei geht es darum, „vor dem inneren Auge ein Bild entstehen zu lassen, das nichts verschweigt und nichts verfälscht.“27 Um dies zu erreichen, verengt er die Auswahl der Bilder, die immer nur einen Wirklichkeitsausschnitt darstellen, indem er seinen Suchfokus auf die Tiere im Krieg richtet und damit die Wahrnehmungskonvention gleichsam verschiebt. Er wendet sich den Haustieren zu, den Hunden und Katzen, zurückgelassen oder mit den Menschen auf der Flucht. Außerdem gilt seine Aufmerksamkeit den Nutztieren, etwa in Form verbrannter Pferde, und explizit auch den Wildtieren wie Krähen, Tauben etc. Der Suchfokus richtet sich auf Tiere, die dem Kriegslärm, den Bomben und der Zerstörung ausgesetzt sind wie der „vor Angst erstarrte Labrador […] auf einer Straße mitten in Irpin“28. Beyer begreift damit gerade das nichtmenschliche Lebewesen „als Hüter der Menschlichkeit“ in Zeiten, in denen diese in Frage steht29. Er entlarvt zum einen unsere medialen Mechanismen, also die Selektion der Bilder und deren Präsentation sowie unsere Wahrnehmungsmuster. Zum anderen befreit Beyer uns durch den Fokus auf die Tiere im Krieg und die sich anschließende Blickverschiebung von dieser Erfahrungsabstumpfung und Darstellungssteigerung der Grausamkeiten des Krieges. Diese Poetologie der Verschiebung verweigert sich unseren Wahrnehmungsgewohnheiten und erweitert zugleich unseren Erfahrungsraum. Des Weiteren wird diese Erweiterung auch durch Überschreitung der Grenzen zwischen den Sinnen angestrebt, indem Beyer den Blick auf stumme Fotografien um die naheliegende Akustik in der inneren Vorstellung erweitert. Dem Hund auf der Straße in Irpin hält sein Besitzer vermutlich die Ohren zu, weil das Tier die Explosionen um ein Vielfaches stärker empfindet als die Menschen. Und plötzlich wird das Geschehen über das stumme Bild (auf dem keine Grausamkeit, sondern ein um seinen Hund besorgter Mensch dargestellt wird) mit den Ohren des Hundes erfahrbar. Jenseits ihrer medialen Obszönität wird die Grausamkeit des Krieges sehend hörbar.
Dabei wird das Entsetzen über die Unmenschlichkeit literarisch durch beschriebene Gesten der Humanität verdeutlicht – Gesten nicht Menschen, sondern Tieren gegenüber. Den Explosionen im Gehör des Hundes steht im gleichen Bild die Fürsorge des Hundebesitzers gegenüber. An diesen Stellen eines ansonsten betont sachlich gehalten Textes demonstriert sich zugleich eine starke emotionale Anteilnahme eines Autors, der „auf der Seite der Ukraine“ steht30.

Brüche und Aufbrüche

Durs Grünbeins, Kerstin Preiwuß’ und Marcel Beyers Texte lassen sich als poetisch-poetologische Suchbewegungen nach dem 24. Februar 2022 begreifen. Ihre literarischen Reaktionen haben, trotz unterschiedlicher Zielsetzungen und Strategien, einige Aspekte gemeinsam: Alle drei haben ihre Buchprojekte, mit denen sie vor dem 24. Februar 2022 begonnen hatten, angesichts des Bruchs modifiziert. Grünbein hat seinem entstehenden Gedichtband Äquidistanz Gedichte mit explizit geschichtsphilosophisch-politischem Bezug eingefügt. Deren zentrale Figur ist der Einbruch der Vergangenheit in die Gegenwart. Preiwuß bezieht die Katastrophe des eskalierten Krieges in ihr Buch über Krisen und Katastrophen im Spannungsfeld persönlicher und gesellschaftlich-politischer Erschütterungen ein. Dabei reflektiert sie zugleich, dass keine nahtlose Reihung möglich ist – nicht zuletzt deshalb, weil die Sprache vom Krieg nicht unberührt bleibt. Der Krieg verschiebt die Bedeutungen der Wörter und verändert auch unsere Denkmodelle. Beyer ändert die Ausrichtung seiner Poetik-Vorlesungen über das faktuale Erzählen und widmet sie ganz der medialen Berichterstattung über den Krieg. Über die Fokusverschiebung auf die Tiere bzw. den Tierblick erarbeitet er eine Poetik der Kriegsberichterstattung jenseits der Obszönität.
Die Werke von Grünbein, Preiwuß und Beyer offenbaren ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Zäsur des 24. Februar 2022. Die Autor:innen ringen um angemessene literarische Mittel, um die Tragweite des Geschehens zu erfassen und zu vermitteln. Gemeinsam ist ihnen, dass der eskalierte Krieg entweder gesellschaftliche oder eigene Denk- und Wahrnehmungsmuster irritiert und dass sie nach sprachlichen Ausdrucksformen suchen, um dieser Irritation und Erschütterung Ausdruck zu verleihen. 
Dieser Beitrag geht zurück auf die Tagung „30 Jahre – aktuelle Grenz(über)fälle, Grenzbegehungen, Grenzgänge ab 2000“, die vom 18. bis 20. September 2023 an der Universität in Łódź stattfand, und ist die modifizierte Version meines Aufsatzes „Ausdrucksformen für Krisenbewusstsein. Durs Grünbeins, Kerstin Preiwuß’ und Marcel Beyers Reaktionen auf Russlands Krieg gegen die Ukraine“, der bald in dem Tagungsband „Grenz(über)fälle“ (hg. v. Gudrun Heidemann u. Maja Dębska) erscheint.

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