Literarisches Krisenbewusstsein
Geistesgegenwart und Krisenbewusstsein: Durs Grünbein
Am 24. Februar geschah das Undenkbare: Die Streitkräfte der Russländischen Föderation, im Westen kurz Russland genannt, marschieren in ein souveränes Nachbarland ein, die Ukraine. Sie überfallen ein Land, dessen Unabhängigkeit auch Russland in bilateralen Verträgen mehrfach verbürgt hat. Seit mehreren Wochen führen die Russen nun Krieg. Sie führen einen Krieg, den sie nicht einmal Krieg nennen können, das ist erbärmlich. Sie führen ihn unter Vorwänden, die ihnen niemand abkauft, nicht einmal sie selbst, das ist absurd. Sie führen ihn stümperhaft und unter hohen eigenen Verlusten, das ist selbstzerstörerisch. Sie führen ihn, miserable Militärstrategen, vor allem gegen die schutzlose Zivilbevölkerung, und das ist ein Kriegsverbrechen.6
Diesem Datum, das im Gedächtnis ost(mittel)europäischer Länder wie Polen oder Estland einen festen Platz hat, gilt auch sein Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Der 23. August 1939, das der Lyriker in seinen im Juli 2022 erscheinenden Lyrikband Äquidistanz einfügt. In diesem Gedicht werden zeithistorische und aktuelle Zäsur in mehrfacher Hinsicht miteinander verbunden:
[…]
Flieg zurück an den Anfang, Seele, zurück
[10] zu den Jahren der Formation, Jahren der Illusion für Millionen, an die unheimliche Schwelle,
als die Drachen sich beinah küßten, wie in Paris
auf der Weltausstellung die turmhohen Pavillons,
und der Polyp Cosmocrator, unheilbringend,
[15]als Schatten sich über die Massen legte.
Dreh deine Runden überm Europa der Friedenszeit
bevor die Massaker begannen, die Säuberungen
im Paranoiagelände der neuen Arbeiterparadiese,
der Arbeitslager, Großbaustellen, Hüttenwerke,
[20] in der Weltsekunde des Zitterns, wo alles möglich war
zwischen Faschismus und Kommunismus,
[…]
[25] Es war ein unauffälliger Tag, als ein paar
untersetzter Männer, inferiore Typen, Tyrannen,
unter sich ganze Völker austauschten,
als die Blindenführer des Jahrhunderts beschlossen,
ihre Bevölkerungen als Geiseln zu nehmen,
[30] mit den Grenzen zu spielen, den Landschaften.
Stunde der Kartographen in ihren Büros,
Stunde der Aktenkonzentration (NKWD, Gestapo),
Erfassung der Menschen im eigenen Reich
wie in allen besetzten Gebieten
[35] mit Kenn-Nummern, Photos, Fingerabdrücken,
zur Weiterverwendung (Arbeit oder Tod).
[…]9
Sowohl sein Essay Nichts berechtigt uns zur Hoffnung als auch das Gedicht spielen am Schluss auf Walter Benjamins Freitod im Sommer 1940 an und enden durch die damit hergestellte Parallele zwischen 1940 und 2022 mit einer fast gespenstischen Warnung.
Für Grünbein als gleichermaßen geschichtsphilosophischen wie politischen Lyriker sind zeitpolitisches Engagement und das Schreiben von Gedichten keine Gegensätze, sondern bedingen einander. Seine Texte sind geschichtsgetränkt und zugleich gegenwartsbezogen. Geistesgegenwart, damit benennt er in seinem gleichnamigen Essay aus dem Frühjahr 2023 sowohl den Moment der lyrischen Inspiration als auch die wache Teilnahme am Zeitgeschehen10. Wenn er den Hitler-Stalin-Pakt, der im Nachkriegsdeutschland nicht wie in Polen, in der Ukraine und im Baltikum als Zäsur verstanden wurde, in seinem gleichnamigen Gedicht als historischen Bruch darstellt, fordert er damit auch eine Wahrnehmungsverschiebung hinsichtlich insbesondere im Westen etablierter Narrative ein. Grünbein verbindet die aktuelle russische mit der damaligen Aggression, bei der Hitler und Stalin Osteuropa untereinander aufteilten. Damit unterscheidet sich seine Position deutlich von der Juli Zehs, Simon Urbans und Alexander Kluges, die ebenfalls historisch, im Rekurs auf den Zweiten Weltkrieg, argumentieren, aber in ihrem Pazifismus blind für die Erfahrung der Bloodlands zwischen Moskau und Berlin bleiben. Wie Jana Mende herausgestellt hat, verschieben letztgenannte Autor:innen damit den Diskurs weg vom Kriegsleid der Angegriffenen hin zu Kriegsängsten und Kriegserinnerungen aufseiten der Deutschen.
Persönliche und gesellschaftliche Erschütterung: Kerstin Preiwuß
Die Autorin ist sich der Problematik der Zurschaustellung solch privater Erfahrungen und Ängste bewusst. Allerdings haben ihr zufolge gesellschaftlich-politische Erschütterungen das Verhältnis von Persönlichem und Öffentlichem, zwischen eigener und allgemeiner Katastrophe verändert, was im Abschnitt zur Corona-Pandemie verdeutlicht wird:
In dem Moment, wo sich eigenes Unglück und allgemeine Katastrophe decken, ist das Unglück auf paradoxe Weise nicht mehr privat, sondern wird mitteilbar, denn an der Katastrophe leiden alle.14
Deine Bezüge lösen sich auf in den Tönen der Sirenen, die feinen Systeme, in denen Du zu denken gewohnt bist, vereinfachen sich brutal. Die Sicherheit deines etablierten Denkens löst sich auf mit jedem Bombeneinschlag.17
Dein Frühwarnsystem hat nicht funktioniert, obwohl der Schwellenwert überhandnahm, sich an der Grenze anstaute und man doch dabei zuschauen konnte, wie der Angriff seinen Lauf nahm. […] [W]ährend du auf Zeichen gewartet hast, die dir etwas vorhersagen sollten, damit du dich orientieren konntest, in diesem Sommer zwischen zwei Wellen, übersahst du die Drohkulisse, die sich Zeichen für Zeichen aufbaute. Der Krieg war schon da, aber er drang nicht über die Schwelle.19
Anwaltschaft aus der Distanz: Marcel Beyer
Literarisch reagierte er bereits im Frühjahr 2022, unmittelbar nach der Eskalation, auf den Krieg: In dieser Zeit hatte er gerade in Wuppertal die erste Poetikdozentur für faktuales Erzählen übernommen. Infolge der Ereignisse in der Ukraine veränderte er das Projekt und stellte es ganz in den Kontext der medialen Wahrnehmung des russischen Angriffskrieges.23
In jener heute unendlich weit zurückliegenden Zeit, in jener mittlerweile zwei oder drei oder vier oder fünf oder sechs oder acht oder mehr Wochen zurückliegenden, ein für alle Mal abgeschlossenen Epoche, als man noch versuchen konnte, sich angesichts eines allgegenwärtigen, unentrinnbaren Grauens wenigstens geistig in Sicherheit zu bringen.24
Seine Teilnahme ist eine medial vermittelte, die sich dem Umstand verdankt, dass „Russland seinen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine vor aller Augen führt, vor den Augen der Welt.“25. Seine Wuppertaler Vorlesungen thematisieren diese „obszöne“26 Zurschaustellung und sind ihr zugleich entgegengerichtet, ebenso wie gegen den Informationskrieg. Bewusst werden Kriegsfotografien für eine Beschreibung ausgewählt. Dabei geht es darum, „vor dem inneren Auge ein Bild entstehen zu lassen, das nichts verschweigt und nichts verfälscht.“27 Um dies zu erreichen, verengt er die Auswahl der Bilder, die immer nur einen Wirklichkeitsausschnitt darstellen, indem er seinen Suchfokus auf die Tiere im Krieg richtet und damit die Wahrnehmungskonvention gleichsam verschiebt. Er wendet sich den Haustieren zu, den Hunden und Katzen, zurückgelassen oder mit den Menschen auf der Flucht. Außerdem gilt seine Aufmerksamkeit den Nutztieren, etwa in Form verbrannter Pferde, und explizit auch den Wildtieren wie Krähen, Tauben etc. Der Suchfokus richtet sich auf Tiere, die dem Kriegslärm, den Bomben und der Zerstörung ausgesetzt sind wie der „vor Angst erstarrte Labrador […] auf einer Straße mitten in Irpin“28. Beyer begreift damit gerade das nichtmenschliche Lebewesen „als Hüter der Menschlichkeit“ in Zeiten, in denen diese in Frage steht29. Er entlarvt zum einen unsere medialen Mechanismen, also die Selektion der Bilder und deren Präsentation sowie unsere Wahrnehmungsmuster. Zum anderen befreit Beyer uns durch den Fokus auf die Tiere im Krieg und die sich anschließende Blickverschiebung von dieser Erfahrungsabstumpfung und Darstellungssteigerung der Grausamkeiten des Krieges. Diese Poetologie der Verschiebung verweigert sich unseren Wahrnehmungsgewohnheiten und erweitert zugleich unseren Erfahrungsraum. Des Weiteren wird diese Erweiterung auch durch Überschreitung der Grenzen zwischen den Sinnen angestrebt, indem Beyer den Blick auf stumme Fotografien um die naheliegende Akustik in der inneren Vorstellung erweitert. Dem Hund auf der Straße in Irpin hält sein Besitzer vermutlich die Ohren zu, weil das Tier die Explosionen um ein Vielfaches stärker empfindet als die Menschen. Und plötzlich wird das Geschehen über das stumme Bild (auf dem keine Grausamkeit, sondern ein um seinen Hund besorgter Mensch dargestellt wird) mit den Ohren des Hundes erfahrbar. Jenseits ihrer medialen Obszönität wird die Grausamkeit des Krieges sehend hörbar.
Dabei wird das Entsetzen über die Unmenschlichkeit literarisch durch beschriebene Gesten der Humanität verdeutlicht – Gesten nicht Menschen, sondern Tieren gegenüber. Den Explosionen im Gehör des Hundes steht im gleichen Bild die Fürsorge des Hundebesitzers gegenüber. An diesen Stellen eines ansonsten betont sachlich gehalten Textes demonstriert sich zugleich eine starke emotionale Anteilnahme eines Autors, der „auf der Seite der Ukraine“ steht30.
Brüche und Aufbrüche
Die Werke von Grünbein, Preiwuß und Beyer offenbaren ein ausgeprägtes Bewusstsein für die Zäsur des 24. Februar 2022. Die Autor:innen ringen um angemessene literarische Mittel, um die Tragweite des Geschehens zu erfassen und zu vermitteln. Gemeinsam ist ihnen, dass der eskalierte Krieg entweder gesellschaftliche oder eigene Denk- und Wahrnehmungsmuster irritiert und dass sie nach sprachlichen Ausdrucksformen suchen, um dieser Irritation und Erschütterung Ausdruck zu verleihen.