Russische Medienkriege

Was wir von einem ukrainischen Medientheoretiker über die Wirkungsweise russischer Propaganda lernen können
,
Jeden Tag produzieren russische propagandistische Medien neue Falschinformationen: Wie eine Fabrik, die pausenlos an der Konstitution einer parallelen Welt arbeitet. Viele fragen sich in diesem Zusammenhang trotzdem: Darf denn Russland keine eigene Meinung, keine eigene Sichtweise auf die Ereignisse haben? In diesem Beitrag geht es darum, zu erklären, wie die Akteure der russischen Propaganda genau diesen naiven Glauben ausnutzen, um die eigene aggressive politische Agenda durchzusetzen. Die Grundstrategien des russischen Informationskrieges werden in diesem Beitrag anhand des Begriffs der ‚Medienkrise‘ erklärt, wie er durch den ukrainischen Medientheoretiker Georgij Potschepzow im Jahr 2003 geprägt worden ist.

Medien als Waffe

Die Akteure der russischen Propaganda sind für ihre notorische Kritik an der Glaubwürdigkeit der westlichen Presse bekannt. Sehr oft verweisen sie auf die Einseitigkeit bei der Darstellung der Ereignisse in Kriegsgebieten und auf die Voreingenommenheit der Journalist:innen auf beiden Seiten. Sie nutzen dabei jede Möglichkeit, um den Begriff der Meinungsfreiheit zu bagatellisieren oder gar ins Gegenteil umzukehren.1 Was als Kritik der Informationsgesellschaft auftritt, versucht tatsächlich aber nur, die eigene aggressive politische Agenda zu rechtfertigen.
Aggressiv ist diese Agenda nicht nur, weil Russlands militärische Interventionen Hand in Hand mit der Propaganda gehen, sondern weil diese Propaganda ein Weltbild vermittelt, in dem es scheinbar keine Wahrheit mehr gibt.2 Dieses Weltbild prägt auch ein Medienverständnis, welches unter journalistischer Arbeit buchstäblich ein Mittel der medialen Kriegsführung und Meinungslenkung versteht, und keine Plattform für gesellschaftlichen Dialog oder kulturelle Selbstreflexion.3
So beschwörte im Jahr 2012 Margarita Simonjan, die Direktorin des Senders RT (ehem. Russia Today) den weltweiten erstarkenden „Informationskrieg“ herauf, um im nächsten Atemzug die Notwendigkeit einer „russischen Waffe“ (nämlich RT) als Ergebnis daraus abzuleiten.4 Diese eigentümliche Eigenlegitimation, so auch Anton Shekhovtsov, bestätigt die militante Agenda des Senders.5 Obwohl der staatlich geförderte Fernsehkanal RT zunächst nur als Pendant zu den britischen und amerikanischen Sendern mit weltweiter Reichweite wie BBC oder CNN ins Leben gerufen wurde – als ein Instrument der sogenannten ‚soft power‘– sind die darin enthaltenen Nachrichten ungefähr seit 2008 immer aggressiver und anti-westlicher geworden.6
Im Kontext des Angriffskrieges Russlands auf die Ukraine hat diese aggressive Agenda ihren bisherigen Höhepunkt erreicht. Viele internationale Journalist:innen haben mit Besorgnis die verschwimmenden Grenzen ihres Berufsfeldes konstatiert, als sie sich vor die Aufgabe gestellt sahen, offensichtliche Falschmeldungen und Lügen von der russischen Seite mit Feldforschung und Dokumentationsarbeit (Fact-Checking) konterkarieren zu müssen: Beispielsweise als das von Bomben verwüstete Krankenhaus in Mariupol, oder die Verwüstungen von Bucha von Seiten der russischen Propagandist:innen zu einer ‚Inszenierung‘ erklärt wurden.7
Die kontrafaktischen Aussagen der russischen Propagandist:innen wirken oft irritierend, weil sie die Rezepient:innen an einem objektiven Realitäts- und Wahrheitsverständnis8 zweifeln lassen. Dabei operieren sie im Feld der Kommunikation mit banalsten Mitteln der Einflussnahme, die vom ukrainischen Medientheoretiker Georgi Potschepzow in seinem Buch „Informationspolitische Technologien“ bereits im Jahr 2003 ausführlich beschrieben wurden. Gut zwanzig Jahre nach Erscheinen dieses Buches wird dieses Erklärungsmodell von Medienkrisen selbst von der russischen Propaganda als Manipulation gegen die Ukraine instrumentalisiert.

Georgij Potschepzow zwischen Ukraine und Russland

Georgi Potschepzow (geb. 1949) ist ein ukrainischer Medientheoretiker und Autor von mehr als 65 Büchern, darunter von 40 theoretischen Werken zu Medienwissenschaft und Informationstechnologien, der Funktionsweise von Propaganda und Meinungsmanipulation wie auch von Science-Fiction-Romanen für Kinder und junge Erwachsene. Er ist Professor emeritus der Universität Mariupol und ehemaliger Leiter des Departements für Kommunikation und Öffentlichkeitsarbeit am Institut für internationale Beziehungen der Taras Shevchenko Universität in Kyiv (Ukraine). Die einzige ins Deutsche übertragene Schrift von ihm ist ein Auszug (ein Kapitel) aus seinem Buch Informacionno-političeskie technologii [Dt.: Informationspolitische Technologien] aus dem Jahr 2003, der von Ulrich Schmid in den von ihm herausgegebenen Sammelband „Russische Medientheorien“ im Jahr 2005 aufgenommen wurde.
Potschepzow als einen ‚russischen Medientheoretiker‘ zu kategorisieren, erscheint im Lichte der jüngsten politischen Ereignisse als ziemlich fragwürdig. Dennoch ist diese Schrift, wie viele weitere Werke Potschepzows, tatsächlich in russischer Sprache verfasst und in Moskau (im Verlag Centr) publiziert worden. Informationspolitische Technologien kann deshalb als Einführung in dieses Thema für ein auf diesem Gebiet tendenziell unerfahrenes russischsprachiges Publikum verstanden werden. Darin knüpft Potschepzow an bekannte Werke der westlichen Forschung zu Propaganda und Meinungslenkung in demokratischen Systemen an9 und versucht deren Erkenntnisse zu systematisieren und für die postsowjetische Situation im Allgemeinen produktiv zu machen. Gerade für die Analyse des russischen Propagandaapparates erweist sich die Perspektive Potschepzows auf die Medien als erkenntnisreich.

Russische Medien, post-sowjetische Medien, westliche Medien: Was ist der Unterschied?

Im Kontext der Auflösung der Sowjetunion und der daraus resultierenden Pluralisierung der Medien unternimmt Potschepzow eine kritische Analyse seiner eigenen Informationsumgebung, die sich in einem akuten Transformationsprozess befindet, und legt ihre Schwachstellen im Vergleich zu dem westlichen Modell offen.
Im Westen stehen laut Potschepzow drei unabhängige Akteure der Regierung gegenüber: eine starke politische Opposition, eine qualitativ gute und professionelle Presse sowie eine aktive Bevölkerung. In Kontrast dazu zeichnet sich die postsowjetische Medienlandschaft durch einen stärkeren Gegensatz zwischen den Medien und der viel mächtigeren Regierung aus, während die Opposition und die Bevölkerung als tendenziell schwach oder inaktiv bezeichnet werden. In einer solchen Situation übernehmen die Medien sowohl die Funktion der politischen Opposition als auch die Funktion der Zivilbevölkerung – solange sie unabhängig agieren. Weil aber die Medien auf massive finanzielle Ressourcen angewiesen sind, die aber entweder vom Staat oder von anderen mächtigen Geldgebern abhängig sind, sieht Potschepzow die Aufgabe eines professionellen Journalismus, die Gesellschaft zu ‚lenken‘, in der postsowjetischen Situation als erheblich eingeschränkt.
Für eine kurze Zeit nach dem Zerfall der Sowjetunion galt der NTV „als meinungsbildend in Politik und Gesellschaft“10 sowie als Vorzeigemodell für unabhängiges Fernsehen11, weil er sich durch hohe professionelle Standards und kritische Analysen auszeichnete.12 Die positive Reputation des Senders basierte u.a. auf seiner kritischen Berichterstattung über den ersten Tschetschenienkrieg, im Zuge derer er „regelmäßig über gravierende Menschenrechtsverletzungen durch rußländische Truppen in Tschetschenien berichtete“.13 
Ab der feindlichen Übernahme des Senders durch den Medienkonzern Gazprom im Jahr 2001 schlug er aber auf eine regierungskonforme Linie ein.14 Kritische oder ironische Aussagen über die Regierung waren ab diesem Zeitpunkt nicht mehr erlaubt. Noch bis zum Jahr 2022 existierte aber weiterhin eine Spaltung des medialen Raums in systemkonforme Medien (Pervyj Kanal, Rossija-1 oder NTV) und finanziell und politisch unabhängige Medien (wie Echo Moskvy, Dožd, Meduza). Die Mehrheit davon musste aber nach Verabschiedung eines neuen Gesetzes zur Kriegsberichterstattung15 in Russland ihre Arbeit entweder komplett unterbrechen, oder ihren Sitz ins Ausland verlagern.16
Das Scheitern der gesellschaftlichen Aufgabe der Medien in einer postsowjetischen Landschaft hat aus der Perspektive Potschepzows aber einen regelhaften Charakter. Je weniger sich eine Gesellschaft ihrer gemeinsamen Ziele und Prioritäten bewusst ist, desto mehr muss sich die Presse auf Inhalte konzentrieren, die die Gesellschaft als ‚Masse‘ von Menschen ansprechen würde.17 Wenn die Medien aber vordergründig nur als ‚Massenkommunikationsmittel‘ ‚Massenkommunikationsmittel‘ Im Russ. Original wird oft der Begriff ‚mass-media‘ verwendet, oder die Abkürzung ‚SMI‘, stellvertretend für „sredstva massovoj informacii“, zu dt. Mittel der Massenkommunikation. funktionieren, ist der Informationsraum geradezu anfällig dafür, als ein Feld der Skandalisierung und des Konflikts missbraucht zu werden. In diesem Kontext stellt Potschepzow sein Modell von ‚Medienkrisen‘ vor.

Lenkung der Massen

Konträr zu der aktuell gebräuchlichen Vorstellung von einer ‚Medienkrise‘ im Sinne der Krise von Medien, die mit dem Verlust der Glaubwürdigkeit und des Vertrauens in die öffentlich-rechtliche Medien und Expert:innenmeinungen verbunden wird, versteht Potschepzow 2003 unter einer Medienkrise Medienkrise Potschepzow definiert Medienkrise als Kampf um die Deutungshoheit in einer Situation: „Bei einer Medienkrise kollidieren jeweils zwei Informationssysteme. Es wird ein heftiger Kampf darum ausgefochten, welche Interpretation der Geschehnisse die einzig richtige sei.“ Damit prallen also über einem Ereignis zwei entgegengesetzte Interpretationen aufeinander. eher ein abstraktes ‚Modell‘, mit dem er die grundlegenden Funktionsweisen eines Informationsraums erklären möchte – und dieses Modell, so glaubt er, kann sowohl im westlichen, als auch dem postsowjetische System wiedererkannt werden.
Zu einer Medienkrise kommt es, wenn es in einem bestimmten Informationsraum zu konträren Interpretationen von ein und demselben Ereignis kommt. Obwohl Potschepzow darauf hinweist, dass Medienkrisen sowohl ungeplant und unkontrolliert, d. h. als ‚natürliche‘ Phänomene in einem medialen Raum auftreten können, versteht er darunter in erster Linie ein Mittel der politischen Einflussnahme. Potschepzows Definition von einer Medienkrise setzt dementsprechend voraus, dass man unter medialer Kommunikation keinen Informationstausch, sondern in erster Linie einen ‚Informationskampf‘ versteht: die Proklamation einer bestimmten Weltsicht und die Verbreitung dieser Weltsicht an ein möglichst großes Publikum.
Das wissenschaftliche Interesse Potschepzows gilt in diesem Zusammenhang vor allem den Interessen des politischen Zentrums und den Gefahren, denen es ausgesetzt werden kann. Folglich stützt sich seine Argumentation auf Beispiele, in denen die Medien ein Mittel des politischen Drucks (Erpressung) auf das Machtzentrum darstellen: Etwa wenn ein an die Presse geleitetes Dokument die Korruptheit eines Politikers nachweist und dazu führt, dass dieser Politiker von seiner Führungsposition zurücktreten muss.18
Potschepzow spricht andauernd von der Notwendigkeit des ‚Beherrschens‘ eines Informationsraums und vom ‚Ausfechten‘ von Medienkrisen, vom Kampf der Interpretationen ein und desselben Ereignisses, von der gewaltsamen Einnahme der virtuellen (Informations-)Räume [ Russ. zachvat virtual’nych territorij] und vom Informationskampf [ Russ. Informacionnaja bor’ba]. Entweder konsolidiert die Regierung Medien und Macht an ihrer Seite, oder aber die Opposition übernimmt die Kontrolle über die Masse mithilfe der Medien und stürzt die Regierung. Leider klammert Potschepzow in seinen Ausführungen damit vollständig aus, dass die Medien auch eine kontrollierende Funktion gegenüber dem Staat und der legislativen und gesetzgebenden Gewalt haben können.
Gerade eine solche militarisierende Perspektive auf Medien spielt als Argument in die Hände von Propagandist:innen ein, die die Instrumentalisierung von Medien zu regierungszwecken als gerechtfertigt und sogar für unumgänglich erklären. Es überrascht daher wenig, dass die von Potschepzow genau beschriebenen Strategien im Gewinnen von Medienkrisen gut 20 Jahre nach Erscheinen seines Buches in die Praktiken der russischen Propaganda hinübergewandert sind, wie im Folgenden anhand von Beispielen gezeigt werden soll.

Wer gewinnt einen Medienkrieg?

In einer Medienkrise unterscheidet Potschepzow grundsätzlich nur zwei Typen von Akteuren: den aggressiven Typus des Sprechers „der Straße“ und den zurückhaltenden Typus des Sprechers „im Parlament“, von denen er beide als „Anführer“ [Russ. lider] bezeichnet.19 Der Erstere ist der aktive Erzeuger der Medienkrise, weil er schnell, flexibel und „publikumsnah“ agieren und somit eine Volksbewegung anführen kann. Der zweite Sprechertyp hingegen kann nur eine passive Rolle einnehmen, weil er „systemgebunden“ und nur langsam agieren kann und sich nur „auf standardisierte Vorgehensweisen“ stützt.20
Es liegt auf der Hand, dass der ‚Anführer der Straße‘ in allen Medienkrisen die Nase vorn hat und somit immer eine potenzielle Gefahr für das Machtzentrum darstellt. Es gehörte daher schon sehr früh zu den Strategien und Techniken der russischen Propaganda, im Inland die Instrumentalisierung dieser Rolle durch die oppositionellen Medien zu minimieren, um im Ausland sich selbst in der Position der ‚Anführer:in der Masse‘ zu inszenieren.
Das beste Beispiel dafür liefert die Gründung des Sender RT im Jahr 2005, die sich zunächst zum Ziel setzte (oder, so wurde es zumindest öffentlich proklamiert), die ‚russische‘21 Perspektive auf die Nachrichten der Welt zu präsentieren und damit einen Gegenpol zu den westlichen öffentlich-rechtlichen Medien zu bilden, die pejorativ als ‚Mainstream‘22 bezeichnet wurden. ‚Question more‘ wurde deshalb passend als Slogan von RT gewählt, um auf seine hinterfragende Haltung gegenüber der ‚Einseitigkeit‘ und ‚Manipulation‘ der Medien hinzuweisen.
In ihrem Bestreben, auf etwas hinzuweisen, was bisher ‚übersehen‘ oder ‚verschwiegen‘ worden war oder einfach, um eine ‚alternative‘ Meinung darzustellen, eignete sich der Sender die Position des ‚Anführers der Straße‘ an. Dem Sender gelang es in den frühen Jahren seiner Ausstrahlung, ein breites internationales Publikum und Popularität zu gewinnen, indem er sich bei jeder Frage um eine ‚alternative‘23 Meinung bemühte. So führte RT Interviews mit dem Gründer von WikiLeaks, Julian Assange, dem kapitalismuskritischen linken Philosophen Slavoj Zizek, und wurde sogar für die Reportage zur Occupy Bewegung in den USA, die gegen die Geschäfte großer Banken protestierte, für den Emmy nominiert. All das sicherte eine positive Reputation von RT im Westen und schien seine grundsätzlich ‚antihegemoniale‘ Haltung in den Nachrichten zu bestätigen. Wenn es aber um die Darstellung der Regierung im Kreml ging, war plötzlich keine anti-hegemoniale Kritik mehr erlaubt.24
Das wichtigste Mittel der Einflussname der russischen Propagandist:innen, die sich an das westliche Publikum richten, liegt aber in der Praxis des Umbenennens, wie es im Folgenden anhand von Beispielen erläutert werden soll. Das Umbenennen hat laut Potschepzow zum Ziel, eine Medienkrise in Gang zu setzen und im Informationsraum eine Spannung auszulösen, die sich später in eine reale Konfrontation übersetzen (in den Worten Potschepzows „entladen“) ließe. Und gerade der, oder diejenige, die die Bezeichnung der handelnden Akteure vorgibt, kann längerfristig die Kontrolle über einer Medienkrise behalten und sich später zum Gewinner (oder Gewinnerin) der Medienkrise erklären.25

Der Mythos der ‚faschistischen‘ Ukraine

Als Auslöser für die  Euromaidan
Euromaidan
auch:
Euromaijdan, Revolution der Würde
Der Euromaidan bezeichnet Proteste in der Ukraine. Nachdem die Regierung im November 2013 erklärt hatte, das Assoziierungsabkommen mit der EU nicht wie geplant zu unterzeichnen, fanden bis Februar 2014 Massenproteste auf dem zentralen Platz Majdan Nesaleschnosti statt.
-Demonstrationen in Kyiv (2013/2014), auch kurz ‚Maidan‘ genannt, diente das im November 2013 nicht unterzeichnete Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union von Seiten der damaligen ukrainischen Regierung Janukovich. Die Proteste nahmen ab dem 1. Dezember 2013 Massencharakter an und richteten sich nicht zuletzt direkt gegen die geopolitische Einmischung Russlands, die sich bis dahin stark in die innenpolitischen Angelegenheiten der Ukraine eingemischt hat. 26 Die zunehmende Härte der polizeilichen Gewalt gegenüber den friedlichen Protestierenden (wie z.B. Studierenden) war einer der Gründe, warum die Demonstrationen lang anhaltenden Charakter hatten und zu einer immer stärker werdenden Vertrauenskrise gegenüber der pro-russischen Regierung in Kyiv führten.
In den staatlich kontrollierten russischen Fernsehsendern wie Pervyj Kanal oder NTV wurde der allgemeine Charakter des Widerstandes und die gesamte Bedeutung dieses politischen Ereignisses in der Ukraine stark verzerrt. Anstatt die Forderungen der Massen zum Rücktritt des Präsidenten, nach demokratischen Reformen und zu der allgemeinen europäischeren (anstelle der pro-russischen27) Ausrichtung der Politik in den Vordergrund der medialen Darstellung des Protests zu stellen, wurde der Euromaidan aus der Sicht russischen staatlichen Medien zu einem bewaffneten „Staatsstreich“ gemacht, der angeblich von gewaltbereiten rechtsradikalen Gruppierungen (kurz: von ukrainischen ‚Terroristen‘ und ‚Nationalisten‘28) dominiert wurde.
Ein geringfügiger Anteil der Rechtsradikalen auf dem Euromaidan, die aller aktuellen Einschätzungen zu Folge nur einen Bruchteil29 der allgemeinen Bewegung ausmachte, wurde damit zu einer akuten ‚neo-nazistischen‘ Gefahr30 für den russischsprachigen Anteil der ukrainischen Bevölkerung erklärt.31
Eine solch gezielte Umbenennung der handelnden Parteien von den russischen Medien hatte einen spezifisch medialen Zweck im Sinne des von Potschepzow beschriebenen Modells zu erfüllen: Nämlich, sie bereitete die erste Stufe einer Medienkrise vor, die den späteren Übergang von der verbalen zur physischen Gewalt legitimieren sollte.
So fand bereits kurz nach dem Euromaidan, am 16. März 2014, auf der Halbinsel Krim ein umstrittenes Referendum Referendum Die Ergebnisse des Referendums werden international nicht anerkannt, weil das Parlament der bis dahin autonomen, aber zur Ukraine zugehörigen Republik Krim von bewaffneten Soldaten besetzt wurde. Das Parlament der Autonomen Republik ernannte im Februar 2014 den russischen Nationalisten Sergej Aksjonow zum Regierungschef der Krim, setzte im März ein Referendum über den Status der Krim an, und beschloss dann gleich selbst den Beitritt zur Russischen Föderation. statt, bei dem unter nicht völlig aufgeklärten Umständen die völkerrechtswidrige Annexion der Krim durch russische Besatzungstruppen beschlossen wurde.32 Zwei Tage nach dem Referendum, am 18. März 2014, hielt Vladimir Putin im Kreml eine feierliche Rede, in der er letztendlich zugab, dass die Annexion das Ergebnis der russischen militärischen Intervention33 war und als ‚notwendige‘ Maßnahme zur Rettung der russischsprachigen Bevölkerung auf der Krim diente. Diese musste nämlich von den „wilden Horden“ der ukrainischen „Terroristen“ und „Banditen“ vom Euromaidan geschützt werden.34
Die von Russland daraufhin auf die Krim geschickten Soldaten (als „grüne Männchen“35 bekannt) sollten ursprünglich nur den Anschein einer aus der Ukraine selbst erwachsenen Bewegung erwecken, doch später, als bekannt geworden war, dass sich dahinter ein Täuschungsmanöver verbarg, machte man keinen Hehl mehr daraus.36 Auch in der Ostukraine wurden erst durch den Medienkrieg die Bedingungen für den ‚hybriden Krieg‘ geschaffen: Die heute als Separatisten bekannten Formationen wurden in den staatlichen Medien in Russland als ‚Freiwilligenkämpfer‘, ‚Volksmiliz‘ oder als ‚Heimatverteidiger‘ bezeichnet, um den Mythos aufrechtzuerhalten, die ukrainische Bevölkerung werde durch rechtsradikale ‚Terroristen‘ oder gar ‚Faschisten‘ beherrscht.37
 
Der Medienkrieg Russlands gegen die Ukraine ist also nicht erst seit 2022 in einen realen Krieg umgeschlagen – vielmehr hatte der ‚Informationskrieg‘, der um 2014 begonnen hat, den Einflussbereich Russlands in der Ostukraine ständig erweitert und die Möglichkeit des realen Angriffskrieges Schritt für Schritt ermöglicht.

Propaganda ‚von unten‘

Das einmalige Umbenennen reicht aber nicht aus, um für eine längerfristig Kontrolle über eine Medienkrise und für das Aufrechterhalten der Deutungshoheit zu sorgen. Deshalb soll die russische Perspektive auf die Ereignisse in der Ukraine von möglichst vielen Akteuren der Propaganda wiederholt und vor allem an das westliche Publikum weiterverbreitet werden. Zu diesem Zweck werden sowohl bereits etablierte Medien wie RT (ehemals Russia Today), aber auch scheinbar unabhängigen Blogger:innen oder unprofessionelle Schreiber:innen im Westen engagiert.
Obwohl man mit Sicherheit nicht überprüfen kann, ob die eine oder andere Sprecherin tatsächlich aus eigener Überzeugung die Inhalte der russischen Propaganda verbreitet, oder zu einem der zahlreichen gefälschten oder simulierten Accounts der berüchtigten Trollfabrik in Olgino (genannt „The Internet Research Agency“ „The Internet Research Agency“ Nach den ersten großen Protest-Demonstrationen im Jahr 2011/2012 in Russland wurde dieses Institut von der russischen Regierung ins Leben gerufen, um die öffentlichen Debatten in den Sozialen Medien langfristig unter seine Kontrolle zu bringen. Die Aufgabe von sogenannten ‚Internet-Trollen‘ (od. auch Cybersöldner genannt), d.h. Menschen, die dafür bezahlt werden, dass sie unter einem oder mehreren gefälschten Accounts auf diversen Online-Plattformen stundenlang Kommentare und Beiträge schreiben, bestand darin, die Haltung der Regierung als Haltung der Bevölkerung aussehen zu lassen. )38 zugehört, kann man oft nur anhand der Rhetorik und der in einem Online-Beitrag enthaltenen Schlüsselwörter diesen einwandfrei der Kategorie ‚Propaganda‘ zuordnen. So auch – im folgenden Beispiel.
Eine Nutzerin gibt auf Facebook nur wenige Tage vor dem russischen Großangriff auf die Ukraine ihren Sorgen darüber Ausdruck, dass „ukrainisches Militär“ angeblich die eigene Bevölkerung angreift und beschießt. Dass dabei real stattgefundenen Beschießungen von Wohnhäusern und Schulen im Donbass durch die hybride Kriegsführung Russlands verursacht wurden, soll hier erstmal ausgeklammert werden, denn es müssen andere für diese Verwüstungen schuldig gemacht werden: die Ukrainer:innen selbst. Der Post endet mit den Worten ‚ich kann nicht schweigen‘, um die Emotionalität und Dringlichkeit ihrer Botschaft zu unterstreichen. Auf Russisch heißt der Satz ‚Ne mogu molchat‘ (ich kann nicht schweigen) – und ist ein direktes Zitat aus Lew Tolstojs berühmten Essay gegen die Todesstrafe, den er im Jahr 1908 veröffentlichte und der seitdem im pazifistischen und menschenrechtlichen Kontext unzählige Male neuzitiert und wiederverwendet wurde.
Das Minsker Abkommen kann dabei als ein besonderer Schlüsselbegriff gelesen werden, weil er auffällig oft in der Rhetorik der russischen Propaganda verwendet wird. Damit wird auf einen in der Vergangenheit liegenden Präzedenzfall verwiesen, demzufolge die ukrainische Seite angeblich als erste die zwischen der Ukraine und Russland unterzeichnete Friedensvereinbarung von 2015 nicht befolgt habe, was aber nicht den Tatsachen entspricht. 39 Beispielsweise sah das Minsker Abkommen vor, dass die Regionen Donezk und Luhansk Teil der Ukraine bleiben und dort Kommunalwahlen nach ukrainischem Recht abgehalten werden.
Konträr zu diesen Vereinbarungen erklärte Präsident Putin am 21. Februar 2022, dass es für das Minsker Friedensabkommen „keine Aussichten mehr gebe“, d. h. keine Aussichten auf eine friedliche Lösung, und unterzeichnete am selben Tag die Anerkennung der selbstproklamierten und international nicht anerkannten Volksrepublik Luhansk (LNR) und der Volksrepublik Donezk (DNR) als eigenständige Staaten. Die darauffolgende Entsendung von Truppen in die von Separatisten kontrollierten Gebiete wurde als Antwort auf das Gesuch der Volksrepubliken des Donbas dargestellt, die Russland „um Unterstützung gebeten“40 hatten (Umbenennung). Damit wurde de facto ein Angriffskrieg Russlands auf das gesamte Territorium der Ukraine erklärt.
Die Menge an Falschinformationen, die in diesem Beitrag dicht zusammengefasst werden, zeigen das Prinzip des Umbenennens, den Potschepzow zum wichtigsten Instrument im Gewinnen von Medienkrisen erklärt hat, in seiner vollen Wirksamkeit. Nicht die russische militärische Intervention, die seit 2014 im Osten der Ukraine permanent für Krieg und Verwüstung gesorgt hat, wird hier zum Terroristen erklärt, sondern die ukrainische Regierung. Nicht die russische Seite, die sich nicht an das Minsker Abkommen nicht hält, wird hier dämonisiert, sondern die Ukraine. Und trotzdem verschwinden die offensichtlichen Falschinformationen schnell aus dem Blickfeld, weil die Aufmerksamkeit der Lesenden ständig auf den nächsten Gegenstand verlagert wird, der erneut zur Debatte gestellt werden muss.
Eine solche Rhetorik spiegelt sehr gut den Impetus der russischen Propagandist:innen, die nur daran interessiert sind, eine transparente und lösungsorientierte politischen Debatte auf ein unsicheres Feld der Desinformation und der Medienkrise überzuführen, wo immer nur um eine ‚alternative‘ Meinungen gerungen wird, und die Wahrheit angeblich niemals gefunden werden kann.

Zusammenfassung und Fazit

Die Besonderheit der Entwicklungen des russischen Propaganda-Apparates kann entsprechend des Modells von Potschepzow folgendermaßen zusammengefasst werden: Sie liegt im Austausch der gängigen Sprecherpositionen. Während der Staat üblicherweise in der Sprecherposition des ‚Anführers im Parlament‘ auftritt und die öffentliche Presse grundsätzlich die Position des ‚Anführers Straße‘ einnimmt, um Kritik und potentiellen Druck auf die Regierung auszuüben, inszeniert sich die Regierung in Russland selbst als eine ‚Anführerin‘ der Masse und hetzt die eigene Bevölkerung ständig zu einem neuen Kampf auf: gegen die USA, gegen die sog. ukrainischen ‚Faschisten‘, aber auch gegen die oppositionellen Gruppen oder Minderheiten, welche sie als ‚extremistisch‘ bezeichnet.41
Die scheinbar anti-hegemoniale Sprecherperspektive, die sich russische propagandistische Medien im Westen angeeignet haben, führt aber gerade viele kritisch gesinnte Leser:innen und Journalist:innen in die Irre, weil sie ohnehin schon aus eigener Überzeugung der Politik und den öffentlich-rechtlichen Medien misstrauen und sich nach einer Alternative sehnen.42 Genau diese Resignation nutzt die russische Propaganda aus, um die eigene aggressive politische Agenda durchzusetzen.
Und weil nämlich die Vielfalt der verschiedenen Sprecher:innen und Akteuren der russischen Propaganda im Ausland nicht genau ermittelt werden kann, sollte der Fokus philologischer Untersuchungen nicht nur auf der Korrektur der von ihnen verbreiteten Falschinformationen liegen, sondern auf der Analyse der Perspektive, des Standpunktes und der Intonation der damit gemachten Aussagen. Hierbei kann das Konzept der Medienkrise von Potschepzow ein hilfreiches Instrument sein.

Informations-Bereich