Bildbeschreibungen, nicht die Bilder und Fotos selbst, formen Marcel Beyers Poetikvorlesungen mit dem Titel Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha (2023). Am 18. Mai 2022 beginnt er seine Vorlesung mit folgenden Worten „Ich will nichts erfinden. Ich will berichten, was ich gesehen habe“. Dieses Sehen ist immer vermittelt, über Fotografien, Videos, Nachrichten, Radioberichte und Social Media, die der Autor gebannt verfolgt. Er beschreibt, dass ihm an den Bildern das Fehlen der Krähen aufgefallen ist – eine Referenz auf den Essay über die Blockade von Petersburg (1921/22) des russischen Literaturtheoretikers Viktor Šklovskij.
Gleichzeitig reflektiert er über die Beschreibung der Bilder aus der sicheren Distanz: „Es mag obszön klingen, auf die An- oder Abwesenheit von Krähen auf Fotografien […] zu achten, wenn von Bildern aus dem Krieg die Rede ist, der jetzt, unmittelbar während ich diese Sätze schreibe, mit bestialischer Wucht gegen ein Land geführt wird, das zwei Flugstunden entfernt liegt.“
Über die Reflexion der eigenen Position in Raum und Zeit, die Gleichzeitigkeit des Krieges und des Beobachtens aus der Distanz nähert sich Beyer dem Krieg auf verschiedenen Ebenen. Bei der Beschreibung eines verängstigten Hundes, der inmitten des Krieges von einem Mann beruhigt wird, verweist er auf die akustische Dimension, die der Fotografie fehlt, aber die Situation erklären kann. Die Empathie, die für Tier und Mann in diesem Bild durch die detaillierte Beschreibung entsteht, ist eine Form des zärtlichen Erzählens, wie sie von Olga Tokarczuk in ihrer Nobelpreisrede 2019 entworfen wurde: „tenderness is the art of personifying, of sharing feelings, and thus endlessly discovering similarities“.
Beyers Texte helfen, die eigene Position des Beobachtens aus Deutschland zu reflektieren und Ähnlichkeiten zwischen den ukrainischen und deutschen Perspektiven zu sehen, ohne dabei zu belehren oder abzulenken.
Deutsche Literatur bietet also beides: einen westlichen Blick auf die Ukraine, der Opfer- und Täterperspektiven verschwimmen lässt und eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe unmöglich macht. Und Literatur, die emphatisch in den Austausch tritt und sich der eigenen Limitierung bewusst ist.
Im Lichte der Öffentlichkeit ziehen jedoch die Texte Aufmerksamkeit auf sich, die von der Ukraine ablenken und sich lieber mit innerdeutschen Debatten beschäftigen. Zeh und Urban standen wochenlang in den Beststellerlisten. Auf diese Aufmerksamkeitslücke hinzuweisen, ist auch die Aufgabe von Literaturwissenschaft.