Sportlehrer Mazik im Artikel "Ershter yidisher sport-klub in Kutne". anonym / New York Public Library,
CC BY-NC-ND 4.0
Einführung
Sport stiftet Gemeinschaft auch und möglicherweise vor allem im Krieg. Der Erste Weltkrieg wird trotz Krisen zu einer Zeit des Aufblühens der jüdischen Turn- und Sportvereine. Turner und Sportler beteiligten sich am Krieg. Der Krieg sorgte wiederum für die Verbreitung der jüdischen Turn- und Sportbewegung.
Text
Auch für die Zeit des Ersten Weltkriegs ist die hier vorgestellte Hauptquelle der jüdischen Sportgeschichte das Zentralorgan der jüdischen Turnerschaft. In dieser Zeitung, die von 1913 bis 1918 Jüdische Monatshefte für Turnen und Sport. Organ der jüdischnationalen Jugendbewegung hieß, war es ebenso wie in der Turnerschaft selbst, bereits seit 1911 zu einem Generationswechsel gekommen. Der 1888 geborene angehende Zahnarzt Henry Unna hatte die Verantwortung für die Geschäftsführung der Turnerschaft und für die Zeitung übernommen. Mit ihm wurde die Trennung zwischen
Turnen
Turnen
Turnen wurde im deutschsprachigen Raum während der napoleonischen Kriege als erzieherisches Programm zur Einübung von im Krieg nützlichen Bewegungsaktivitäten eingeführt. Nicht der Wettbewerb oder gar das Spiel standen im Mittelpunkt, sondern die Erziehung des Einzelnen zur Vervollkommnung des kollektiven (Volks-)Körpers. Im Gegensatz dazu wurde ausgehend von England der moderne Sport immer populärer. Ihn kennzeichneten vor allem der Wettkampfcharakter und die Regelhaftigkeit, die für eine faire Konkurrenz (und das Wetten auf den Sieger) notwendig waren. Den Turnern galt der Sport mit seiner als individualistisch geltenden Konzentration auf Leistungen und Rekorde lange als „undeutsch“, trat aber wegen seiner Popularität, vor allem des Fußballsports, auch in Mittel- und Osteuropa bald seinen Siegeszug an.
und Sport endgültig aufgehoben1, die schon vor dem Krieg von der Realität überholt wurden war. Die meisten Aktiven interessierten sich unabhängig von den ideologischen Gräben zwischen Turnen und Sport für beides, und so passten auch die Vereine, und rasch auch die jüdische Turnerschaft als Ganzes ihre Praxis pragmatisch den Bedürfnissen ihrer Mitglieder an.
Auch der zionistische Charakter der Zeitschrift wurde deutlicher. Unna propagierte eine Turnfahrt nach Palästina, die bereits 1913 umgesetzt und in den Jüdischen Monatsheften für Turnen und Sport entsprechend begleitet wurde. Und schließlich berichtete der „neue“ Herausgeber auch als Soldat während des Ersten Weltkriegs „Aus dem Felde“ – typisch für die deutschsprachigen jüdischen Athleten.
Der Krieg führte zunächst in vielen gesellschaftlichen Schichten und auch im jüdischen Bürgertum zu nationalpatriotischer Euphorie. Auch die jüdischen Turn- und Sportvereine, die in der Tradition der deutschen Turner die Jugend zur Wehrhaftigkeit ausbilden wollten, erlebten die Rekrutierung eines Großteils ihrer männlichen Jugend. Das erfüllte einige ältere Funktionäre durchaus mit Stolz. Die große Zahl jüdischer Soldaten widersprach der antisemitischen Propaganda, viele Juden hätten sich vor dem Frontdienst in der Armee gedrückt. Diese Annahme wurde durch die sogenannte "Judenzählung" im deutschen Heer 1916 nicht ausgeräumt, sondern vielmehr noch verstärkt.2
Die unterschiedliche Wahrnehmung derjenigen, die sich als Teil der deutschen Nation fühlten, und der zionistisch gesonnen Turnerinnen und Turner zeigt sich vor allem an der Beschreibung der negativen Auswirkungen des Krieges. Denn rasch erlebten die Menschen an der sogenannten Heimatfront die Folgen von Mangel an Arbeitskräften, Lebens- und Transportmitteln. Diese Krisen erschwerten auch das Leben in den jüdischen Turn- und Sportvereinen. Zahlreiche Mitglieder waren „im Felde“. In diesen Jahren übernahmen vor allem Frauen die Aufgaben in den Vereinen. Allerdings waren gerade Frauen von den verschiedenen Versorgungskrisen besonders betroffen, da sie sich alleine um das Auskommen der Familien kümmern und unter erschwerten Bedingungen zahlreiche Aufgaben wahrnehmen mussten, um die sich in Familien sonst zwei Erwachsene kümmerten. Der Weg zur Arbeit, aber auch zum Sport war in den Kriegsjahren viel beschwerlicher als im Frieden. Die Versorgung der Kinder war schwerer, das Heizen der Wohnungen nur unter großen Entbehrungen bzw. gar nicht möglich.
Doch während die Bedeutung der turnerischen oder sportlichen Aktivitäten in den Vereinen abnahm, wurden diese als Orte der Begegnung und Gemeinschaft immer wichtiger. Der IFFTUS in Berlin etwa verfügte über eine zumindest im Winter 1917/18 beheizte Wohnung, in der Shabbatfeiern und jüdische Feiertage von Frauen und ihren Kindern gemeinsam begangen wurden.
Aber auch an der Front machten sich die jüdischen Turn- und Sportvereine um die Vergemeinschaftung der jüdischen Athleten verdient. Berichte von jüdischen Soldaten in Kriegsgefangenschaft zeigen, dass die Nachrichten ihrer Sportvereine sie erreichten, ihnen das Gefühl von Zugehörigkeit vermittelten und ihnen in der häufig krisenhaften Gegenwart Mut machten. Zudem veröffentlichten die Vereinszeitungen
Feldpostadressen
Feldadresse
auch:
Feldpostadresse
Feldadressen dienten dazu, die Verbindung zwischen Heimat und Front mithilfe von Briefen, Karten und Geschenken, der sogenannten Feldpost, aufrecht zu erhalten. Über 28 Milliarden Briefe wurden während des Ersten Weltkriegs von der Reichspost versandt. Die Feldadressen ordneten die Soldaten ihrer jeweiligen militärischen Einheit zu. Dass diese Adressen nicht im Zusammenhang mit den Orten, an denen die Einheiten stationiert waren, genannt werden durften, geschah aus militärstrategischen Gründen.
, um die Kontakte der Aktiven untereinander zu erleichtern. Die Vereine versuchten aber auch, in der sogenannten „
Etappe
Etappe
Im militärischen Sinne das Gebiet hinter der Front. Dort befand sich vor allem die Verwaltung und Lazarette. Transport und Nachschub wurden ebenfalls in der Etappe organisiert. Im Ersten Weltkrieg entwickelte sich eine negative Einstellung der Frontsoldaten gegenüber den Einsatzkräften in der Etappe, die auf die unterschiedlichen Einsatzbedingungen zurückzuführen ist.
“3 Anlaufstellen für jüdische Soldaten zu annoncieren, an denen sie Gleichgesinnte treffen konnten. So wurden Kontaktorte für jüdische Turner sowohl an der Westfront, in Belgien und Frankreich, als auch an der Ostfront, in Polen, Lettland, der Türkei und in Rumänien geschaffen. Anhand der Orte, an denen sich die jüdischen Turner trafen, wird deutlich, wie transnational die (gewaltsame) Erfahrung des Krieges für die männliche Jugend Europas war. Die Funktionäre der jüdischen Turnerbewegung griffen nicht nur die „Anregung“ eines jüdischen Soldaten auf, solche Stammtische zu organisieren, sie verbündeten sich auch mit anderen nationaljüdischen Institutionen, wie etwa dem jüdischen Kartellverband, mit dem sie normalerweise konkurrierten. Zwar blieben die politisch-ideologischen Gräben zwischen nationaljüdischen und zionistischen Aktivisten bestehen. Aber angesichts des Krieges und vor allem des wachsenden Antisemitismus wurden verschiedene Vereinigungsprozesse zwischen den verschiedenen nationaljüdischen Vereinen und Verbänden angestoßen. Dies zeigt insbesondere der „Ausschuss für die nationaljüdische Jugendarbeit“, der im März 1917 in Berlin mit dem Ziel gegründet wurde, die verschiedenen Aktivitäten der zahlreichen Vereine und Organisationen zu bündeln.4
Auch wenn im östlichen Europa, vor allem in den polnisch-ukrainischen Gebieten des Habsburger Reiches, also in Galizien, die jüdische Turn- und Sportbewegung schon vor 1914 relativ weit verbreitet war, so galt das nicht für das preußische und noch weniger für das russische Teilungsgebiet. Aufgrund politischer Repressionen waren Jüdinnen und Juden Vereinsgründungen erschwert, vor allem der Aufbau von als politisch und militaristisch wahrgenommenen Turn-Vereinen. Einige wenige Ausnahmen gab es jedoch, in Preußen etwa in Posen und Stettin und im russischen Teilungsgebiet z.B. in Bedzin. In diesen Gebieten wurden ab 1916 unter deutscher Besatzung eine große Zahl jüdischer Turn- und Sportvereine zugelassen, die vorher häufig bereits im Verborgenen, z.B. unter der Schirmherrschaft von Kulturvereinen, existiert hatten. Im Dezember 1916 wurde in Lodz der Erste Kongress der jüdischen Sportvereine im besetzten Polen einberufen und dort der Zentralverband der Jüdischen Turn- und Sportvereine gegründet.5 Überraschenderweise erlebte der jüdische Sport im östlichen Europa gerade während des Ersten Weltkriegs einen Aufschwung, institutionalisierte und vernetzte sich. Fragen und Diskussionen, die den Sport auch in der Zwischenkriegszeit noch beschäftigen sollten, kamen bereits auf. Eine wichtige Frage war die der Sprache der jüdischen Turnerschaft, die ebenfalls 1916 in
Die Kreisfreie Stadt Łódź (Bevölkerung 2022: 658.444) liegt in der gleichnamigen Woiwodschaft in der Mitte Polens. Die bis in die 1820er Jahre unbedeutende Kleinstadt erfuhr einen enormen Aufschwung nach dem Ausbau zum führenden Industriezentrum in autonomen Königreich Polen und einem der wichtigsten Industriezentren im gesamten Zarenreich. Wegen der dominierenden Textilindustrie, die mit deutschem, jüdischem, polnischem und russischem Kapital aufgebaut wurde, erhielt die Stadt den Beinamen "Manchester Polens". Allerdings hielt der Wohnungsbau und der Ausbau der Infrastruktur dem Ausbau der Industrie nicht Schritt, sodass in der Stadt neben prunkvollen Palästen breite Teile der Stadtbevölkerung in prekären Verhältnissen, oft ohne Kanalisation und ohne Zugang zu Bildung, lebten.
Nach Ende des Ersten Weltkriegs gehörte Łódź zum wiederhergestellten polnischen Staat. Neben dem Wiederaufbau der kriegszerstörten Industrie wurde auch verstärkt in die Verbesserung der Lebensbedingungen der Stadtbevölkerung investiert. Nach dem Deutschen Überfall auf Polen im September 1939 wurde die Stadt ins Deutsche Reich eingegliedert und ihr offizieller Name zunächst in Lodsch, dann in Litzmannstadt geändert. 1940-1944 existierte in der Stadt eins der größten Ghettos im Reichsgebiet, in dem neben der beinahe gesamten örtlichen jüdischen Bevölkerung (mit ca. 220.000 etwa ein Drittel der Stadteinwohnerschaft) auch jüdische Bevölkerungsteile aus anderen Gebieten Polens und des Auslands sowie Sinti und Roma auf kleinstem Raum interniert waren. Nur wenige Menschen haben das Ghetto bzw. den Ort der anschließenden Verschleppung überlebt.
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 stellte Łódź eine intakte Stadt dar. Als die zu diesem Zeitpunkt größte Stadt Polens und wegen ihrer Nähe zur formellen, aber fast komplett zerstörten Hauptstadt Warschau, fungierte sie für drei Jahre als Regierungssitz.
Die Krise der Textilindustrie begann in den 1980er Jahren, um kurz nach Beginn der politischen Transformation Anfang der 1990er Jahre zusammenzubrechen. Die Stadt stürzte in eine tiefe Krise, in deren Folge ihre Bevölkerung zwischen 1989 und 2022 um 200.000 Einwohner sank. Vom zweiten Platz im Ranking der größten Städte des Landes ist Łódź an die vierte Stelle nach Krakau und Breslau zurückgefallen. Die Investitionen in die Sanierung, den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und den Kultursektor trugen im 21. Jahrhundert zu einem deutlich besseren Image der Stadt bei, die heute als einer der wichtigsten Standorte für Bildung, Kultur, die Designbranche und Filmindustrie in Polen gilt.
diskutiert wurde, „einige Deligierten [sic] verlangten die hebräische Sprache als die Umgangssprache der Turner, während andere nur Jiddisch (Chargon) als die Hauptsprache durchzusetzen bemüht waren.“ Schließlich nahmen die Turner beide Sprachen als gleichberechtigt an: „Die hebräische Kommandosprache soll jedoch erst dann eingeführt werden, wenn sie so ausgeübt wird, daß sie im Turnbetrieb keine Schwierigkeiten macht.“ Damit räumten die Turner die Schwierigkeiten mit dem Hebräischen und die daraus resultierende vorherrschende Bedeutung des Jiddischen ein. Außerdem wurden 1.000 Rubel zur Herausgabe einer Sportzeitung in jiddischer Sprache bereitgestellt.
So wurden in der Zeit des Ersten Weltkriegs bedeutende Weichen für die Zwischenkriegszeit gestellt, in der der jüdische Sport zu einer Blüte kam, die er vorher und nachher nie wieder erreichen sollte.
Georg Eisen, Zionism, Nationalism and the Emergence of the Jüdische Turnerschaft, in: Leo Baeck Insitute Year Book XXVIII, 1983, S. 247-262, besonders S. 261-262
2.
Michael Berger: Judenzählung, in: Dan Diner (Hg.) Enzyklopädie jüdischer Kulturen, Bd. 3, Stuttgart/Weimar 2012, S. 242 – 244.
3.
Vgl. Bruno Thoß, Etappe, in: Gerhard Hirschfeld/Gerd Krumeich/Irina Renz (Hg.): Enzyklopädie Erster Weltkrieg, Paderborn u. a. 2.2014, 465.
4.
Anne Weberling, Zionistische Debatten im Kontext des Ersten Weltkriegs am Beispiel der Herzl-Bund-Blätter 1914 – 1918, Potsdam 2019, S. 85.
5.
Vgl. Anke Hilbrenner, Die Wurzeln des jüdischen Sports in Polen. Die Gründung jüdischer Sportvereine in Galizien und im russischen Teilungsgebiet vor dem Ersten Weltkrieg, in: Anke Hilbrenner, Dittmar Dahlmann (Hg.) „Dieser Vergleich ist unvergleichbar“. Zur Geschichte des Sports im 20. Jahrhundert, Essen 2014, S. 79-97, hier S. 91.