Der Begriff 'Migration' verweist auf räumliche Bewegungen von Menschen. Nicht jede Ortsveränderung aber gilt als Migration. Welche Phänomene und Prozesse regionaler Mobilität in wissenschaftlichen, politischen, medialen oder öffentlichen Debatten als Migration verstanden werden, ist umkämpft und unterliegt einem steten Wandel.
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Der Begriff Migration ist zwar bereits von antiken Autoren auf räumliche Bewegungen von Menschen angewendet worden. Eine weite Verbreitung fand er in Europa allerdings erst mit dem Aufstieg der Migrationsforschung im späten 20. Jahrhundert und dem Eingang in öffentliche Debatten seit Beginn des 21. Jahrhunderts. Seine Verwendung unterliegt einem steten Wandel, als auffällig erweist sich dabei die stete Expansion: Für die besonders in den 1970er Jahren intensivierte und seit den 1990er Jahren stark angestiegene wissenschaftliche Produktion von Wissen über die Wanderungsverhältnisse lässt sich festhalten, dass die Beschreibungsformel Migration immer häufiger verwendet worden ist und zunehmend mehr Prozesse räumlicher Bewegung darunter subsumiert wurden. Begriff und Konzept Migration hatten zweifelsohne in den vergangenen zwei, drei Jahrzehnten wissenschaftliche Konjunktur.
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Als Migration ordneten wissenschaftliche Beiträge anfänglich vornehmlich die grenzüberschreitende Mobilität von lohnabhängigen Arbeitskräften ein. Bewegungen von Menschen mit höheren und hohen Qualifikationen, von Studierenden, Wohlhabenden sowie Selbstständigen und Eliten traten besonders seit der Wende zum 21. Jahrhundert vermehrt hinzu. Bis in die 1980er Jahre waren Fluchtbewegungen, Vertreibungen und Deportationen beinahe ausschließlich Themen von Flüchtlingsforschung, Refugee Studies oder Exilforschung. Dann aber führten in den englischsprachigen Refugee Studies intensive Debatten um das eigene Selbstverständnis zur Herausbildung der Forced Migration Studies. Sie setzte sich fortan mit Ansätzen und Perspektiven der Migrationsforschung auseinander, zugleich nahmen mit dem Konzept Migration arbeitende Wissenschaftler vermehrt als politisch definierte Verfolgungen bzw. Kriegsereignisse als Hintergrund für die Mobilisierung von Menschen im Raum wahr und konzeptualisierten sie als 'Zwangsmigration'.
 
Als jüngste Erweiterung in der Beschreibung des Gegenstands der eigenen Forschung können erste Ergebnisse der Debatte um 'Immobilität' und 'Immobilisierung' gewertet werden: Ist Migrationsforschung nicht erst dann in der Lage, Ansätze zu entwickeln, die der Komplexität ihres Gegenstandes entsprechen, wenn sie auch erklären kann, warum sich Menschen nicht bewegen? Schließlich kennzeichnet bereits seit langem ein Paradoxon den wissenschaftlichen Umgang mit dem Begriff Migration: Ein Großteil der Arbeiten, die sich als Beiträge zu einer Erforschung von Migrationsphänomenen verstehen, gilt explizit nicht der Bewegung selbst, ihren Hintergründen und Bedingungen, sondern ausschließlich ihren Folgen. Sie zielen auf die (dauerhafte) Niederlassung und die über Generationen beobachtete Anwesenheit im Zielland der räumlichen Mobilität der Vorfahren, beschreiben Migration mithin als Erfahrung, die dahin tendiert, unabgeschlossen zu bleiben ('Menschen mit Migrationshintergrund'). Migrationsforschung erlebte in den vergangenen Jahren vor allem deshalb einen erheblichen Zuwachs an Aufmerksamkeit, weil ihre Ergebnisse für unterschiedliche Anwendungskontexte belangvoll zu sein schienen und die politische, mediale und öffentliche Debatte um einzelne Erscheinungsformen und Effekte regionaler Mobilität stark angewachsen ist. Dem raschen Wachstum angesichts ausgeprägter Anwendungsorientierung und hoher außerwissenschaftlicher Aufmerksamkeit vermochte das Ausmaß an Reflexion über die Bedingungen und Ergebnisse des eigenen wissenschaftlichen Handelns, die reflexive Begriffsbildung und die Theorieproduktion nicht zu folgen. Zu häufig übernimmt die Migrationsforschung weiterhin politische und rechtliche Begriffe ebenso unkritisch (so in der deutschen Debatte etwa den Begriff des 'Migrationshintergrundes', der 'Armutsmigration' oder die rechtliche Kategorie des 'Flüchtlings') wie die Ergebnisse amtlicher Datenproduktion.
Geläufige Definitionen des Begriffes Migration, wie sie die Vereinten Nationen oder nationale Statistikbehörden verwenden und die Migrationsforschung aufgreift, wollen eindeutige Unterscheidungen vornehmen, um Daten erheben zu können. Anders als vielfach angenommen, wird dabei allerdings in der Regel keineswegs Bewegung (Mobilität) von Nicht-Bewegung (Sesshaftigkeit) unterschieden. Vielmehr bildet das zentrale Kriterium die Veränderung der rechtlichen Position eines Menschen, die sich aus dem Übertritt in einen anderen Rechtsverband und dessen Geltungsbereich (meist verstanden als ein Überschreiten einer politisch-territorialen Grenze) ergibt. Hinzutreten kann eine Messung der Dauer des Aufenthalts andernorts. Bewegungen innerhalb von Rechtsräumen oder kürzere Aufenthalte gelten demgegenüber häufig nicht als Migration. Übersehen wird dabei, dass auch Menschen, die keine Grenzen überschritten haben, sich mit wirtschaftlichen Gegebenheiten und Ordnungen, kulturellen Mustern sowie gesellschaftlichen Normen und Strukturen auseinanderzusetzen haben, die sich zum Teil erheblich von denen des Herkunftsortes unterscheiden.
Aktuellen wissenschaftlichen Debatten folgend, können unter den verschiedensten Formen räumlicher Mobilität menschlicher Körper jene als Migrationen verstanden werden, bei denen die Bewegung weitreichende Konsequenzen für die Lebensverläufe der Wandernden hat und aus denen Wandel in verschiedenen gesellschaftlichen Teilbereichen im Herkunfts-, Transit- und/oder Zielkontext resultiert. Eine solche offene Perspektive geht also nicht von dem Blick des (National)Staates auf ›seine‹ Bevölkerung und dessen (noch) nicht als zugehörig verstandene, weil zugewanderte Teile aus. Sie stellt vielmehr zum einen Erfahrungen von Menschen in den Vordergrund, die räumliche Bewegungen unternommen haben, zum anderen verweist sie auf Veränderungen von Gesellschaften, die durch Bewegungen induziert werden.
Migration kann unidirektional eine Bewegung von einem Ort zu einem anderen meinen, umfasst aber nicht selten auch Zwischenziele, die häufig dem Erwerb von Mitteln zur Weiterreise dienen oder erzwungen wurden, weil eine Bewegung aufgehalten worden war. Migration ist meist nicht als eine einzelne Handlung zu verstehen, sondern als eine Folge von Handlungen, die eine stete Auseinandersetzung mit der Ermöglichung oder der Blockade von Bewegungen bildet. Fluktuation, beispielsweise zirkuläre Bewegung oder Rückwanderung, bildete immer schon ein zentrales Element von Migration. Die dauerhafte Ansiedlung andernorts stellt also nur eines der möglichen Ergebnisse von Wanderungsbewegungen dar. Der Prozess der Migration bleibt grundsätzlich ergebnisoffen, denn das Wanderungsergebnis entspricht bei weitem nicht immer der Wanderungsintention: Eine geplante Rückkehr wird aufgeschoben oder räumliche Bewegungen werden abgebrochen, weil bereits ein zunächst nur als Zwischenstation gedachter Ort (unverhofft) neue Chancen bietet. Umgekehrt kann sich das geplante Ziel als ungeeignet oder wenig attraktiv erweisen, woraus eine Weiterwanderung resultiert.
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Migration kann eine Verlagerung des Lebensmittelpunktes bedeuten, ist aber häufig durch zeitlich begrenzte Aufenthalte andernorts gekennzeichnet, die nicht explizit den Lebensmittelpunkt versetzen: Saisonwanderungen, die mehr oder minder regelmäßig zu wochen- oder monatelangen Aufenthalten andernorts führen, sind beispielsweise darauf ausgerichtet, Geld zu verdienen, um die Existenz der Familie am Ort des Lebensmittelpunktes aufrechterhalten zu können. Zahlreiche Beispiele für solche mitunter über längere Zeit hinweg strukturstabilen Formen zirkulärer Migration finden sich in agrarisch geprägten Herkunftsgesellschaften bzw. Herkunftsregionen, aber auch im Kontext der seit dem 19. Jahrhundert weltweit beschleunigten Urbanisierung: Eine lineare Wanderung vom Land in die Stadt als ›Einbahnstraße‹ bietet nur eines unter vielen Mustern jener Migrationen, die das massive Wachstum der städtischen Agglomerationen in aller Welt wesentlich tragen. Ein weiteres Mobilitätsmuster ist der ›Kreisverkehr‹ von temporären Land-Stadt-Land-Wanderungen, die nach Jahren in dauerhaften Niederlassungen in den Städten enden können, aber nicht notwendigerweise müssen.
Migration ist zwar ein Normalfall menschlicher Existenz, in dem Sinne, dass es immer räumliche Bewegungen gab und gibt. Migration ist damit aber noch kein individueller Normalfall, bildet vielmehr eine voraussetzungsvolle soziale Praxis. Nur für wenige Individuen trifft die geläufige Vorstellung zu, Migration sei das Ergebnis einer rationalen Entscheidung eines autonomen Menschen, der eigensinnig, eigenverantwortlich und selbstständig Ziele für die Zukunft im Kontext eines spezifischen ›Lebensentwurfs‹ zu formulieren vermag. Sozialer Zwang, Regeln und Normen können derart hemmend wirken, dass Migration keine Handlungsoption bietet, Menschen vielmehr immobilisiert werden. Migration kann aber auch Ergebnis sozialen Zwangs sein; denn andere Akteure, Institutionen, Organisationen und Strukturen sind in der Lage, Menschen zu nötigen, mobil zu werden. Menschen können in Handlungsroutinen eingebunden sein, die Bewegung fordern, etwa im Falle von Nomaden oder im Kontext traditionsreicher saisonaler Arbeitswanderungen.
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Sieht man von den gewaltinduzierten Migrationen (Flucht, Vertreibung, Deportation etc.) ab, streben Individuen, Familien oder Kollektive meist danach, mit Hilfe einer Bewegung die Lebenssituation zu verbessern durch das Erschließen von Erwerbs-, Konsum- oder Siedlungsmöglichkeiten, Arbeitsmarkt-, Bildungs-, Ausbildungs- oder Heiratschancen. Abhängig ist die Perspektive, eine Bewegung als Chance zu verstehen, von einer Vielzahl von Faktoren und Elementen: Erfahrungen in der Vergangenheit mit eigenem Gehen oder Bleiben, durch Interaktionen gewonnenes Wissen über räumliche Bewegungen im unmittelbaren Umfeld bzw. im sozialen Kontext, eine Interpretation der Gegenwart, die für die Zukunft Bewegung als Chance erscheinen lässt, weil finanzielle, mentale und soziale Kosten als nicht übermäßig hinderlich wirken.
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Formen von durch Gewalt induzierten räumlichen Bewegungen zeigen sich demgegenüber dann, wenn staatliche, halb-, quasi- und zum Teil auch nichtstaatliche Akteure das Leben von Einzelnen oder Kollektiven weitreichend beschränken. Da deren (Über-)Lebensmöglichkeiten und körperliche Unversehrtheit, Rechte und Freiheit, Chancen der politischen Partizipation, Souveränität und Sicherheit bedroht werden, sehen sie sich zum Verlassen ihrer Herkunftsorte gezwungen, um Handlungsmacht sichern zu können. Gewaltmigration kann in solchen Konstellationen als eine Nötigung zur räumlichen Bewegung verstanden werden, die keine realistische Handlungsalternative zuzulassen scheint.
Der Begriff der Flucht verweist dabei auf das Ausweichen vor (Makro-)Gewalt, die meist aus politischen, weltanschaulichen, rassistischen, genderspezifischen oder religiösen Gründen ausgeübt oder angedroht wird. Im Falle von Vertreibungen, Umsiedlungen oder Deportationen organisieren und legitimieren (staatliche) Organisationen unter Androhung und Anwendung von Gewalt räumliche Bewegungen. Ziel ist es hierbei meist, (Teile von) Bevölkerungen zur Durchsetzung von Homogenitätsvorstellungen und zur Sicherung bzw. Stabilisierung von Herrschaft zu entfernen, nicht selten aus eroberten oder durch Gewalt erworbenen Territorien. Fluchtbewegungen, Vertreibungen und Deportationen finden sich in allen Epochen, meist im Rahmen von Krieg, Staatszerfall oder Neugründung von Staaten sowie als Ergebnis von Maßnahmen autoritärer politischer Systeme.
Staatliches Steuerungsinteresse und staatlicher Kontrollanspruch gegenüber Migrationsbewegungen sind insbesondere seit dem späten 19. Jahrhundert erheblich gewachsen und finden ihren Ausdruck vornehmlich in einer weitreichenden Differenzierung im Blick auf Mobilitätschancen unterschiedlicher Kollektive, die das Wahrnehmen der Chancen durch Migration in hohem Maße beeinflussen. So lässt sich denn seit langem von einer globalen migratorischen Klassengesellschaft sprechen, die für einen kleinen Teil der Bevölkerung weitreichende und (beinahe) unbeschränkte Möglichkeiten der grenzüberschreitenden Migration bietet, die als legitim und vorteilhaft verstanden wird. Ein Großteil der Weltbevölkerung konnte und kann hingegen andere Staaten legal nicht aufsuchen, ist auf Umwege oder beschränkte Kanäle der Migration verwiesen, ihre Bewegung gilt als Gefahr für Sicherheit und Wohlstand und deshalb als illegitim und irregulär.

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