Unter den zahlreichen Trachtenstücken im Siebenbürgischen Museum Gundelsheim befindet sich eines, dessen Besitzerwechsel und der damit verbundene Ortswechsel es symptomatisch erscheinen lassen für das kollektive Schicksal ganzer Familien, ja ganzer sächsischer Dorfgemeinschaften aus Nordsiebenbürgen im 20. Jahrhundert.
Text
Der üppig dekorierte Kirchenpelz, eine Frauentracht aus
Arcalia
deu. Kallesdorf, hun. Árokalja

Arcalia (deutsch Kallesdorf) ist eine kleine Ortschaft in Rumänien. Sie gehört zum Kreis Bistriţa-Năsăud in Siebenbürgen.

bei
Bistrița
eng. Bistrița, deu. Bistritz, hun. Beszterce

Bistrița (deutsch Bistritz) ist eine rumänische Stadt im Kreis Bistrița-Năsăud, einem Teil Siebenbürgens. In der Stadt wohnen ungefähr 75.000 Menschen. Der alte deutsche Name der Stadt war Nösen.

, ist ein kostspieliges Kleidungsstück, das neben der ethnischen Zugehörigkeit vor allem den wirtschaftlichen Aufstieg und Wohlstand der Familie anzeigen sollte. Das unverwechselbare Erscheinungsbild des „Kirchenpelzes“ verdankt sich einem Zusammenspiel westlicher und östlicher Modeeinflüsse. Der Schnitt lehnt sich an den militärischen Reitermantel der ungarischen wie polnischen Kavallerie an, der bereits im 17. Jahrhundert im so genannten Menté/Mentek, einem pelzgefütterten Mantel des sächsischen Bürgertums, aufgegriffen wurde.
Mit dem Pelz verknüpft sich eine ergreifende Geschichte. Das Kirchenkleid ist auf das Jahr 1906 datiert, wie es in roter Seidenstickerei auf dem Vorderteil ablesbar ist. Ein in blau ausgeführtes Stickmonogramm „M. Sch.“ bestätigt die Auskunft seitens der Schenkerin im Hinblick auf die ursprüngliche Besitzerin des kostbaren Gewandes – dieses war die am 6. April 1889 in Kallesdorf bei Bistritz in
Siebenbürgen
eng. Transylvania, deu. Transsylvanien, deu. Transsilvanien, ron. Transilvania, ron. Ardeal

Siebenbürgen ist eine historische Landschaft im heutigen Rumänien. Sie liegt im Zentrum des Landes und wird von ca. 6,8 Millionen Menschen bewohnt. Die größte Stadt Siebenbürgens ist Cluj-Napoca. In Siebenbürgen lebten einst deutschsprachige Minderheiten.

geborene Bauerntochter Maria Schuster. Der Pelz gehörte zur Mitgift der jungen Frau, als sie 1906 siebzehnjährig in Kallesdorf den Bauernsohn Johann Theis heiratete und den Pelz zum ersten Mal als Braut beim Kirchgang anlegen durfte.
Von Maria ging der Pelz auf ihre am 14. September 1910 geborene Tochter Sophia Theis anlässlich deren Hochzeit mit Johann Schuster über. Als die schwangere Sophia mit ihren noch minderjährigen fünf Kindern und ihrem Mann im Spätsommer 1944 vor der näher kommenden Front flüchten musste, nahm sie das wertvolle Stück, das auch ihr einst als Brautmantel gedient hatte, mit auf den langen Weg. Die Kinder und Frauen aus Kallesdorf traten am 17. September 1944 in
Sărățel
deu. Reussen, hun. Szeretfalva

Sărățel ist ein Dorf in Siebenbürgen und gehört heute zur Gemeinde Șieu-Măgheruș im Kreis Bistrița-Năsăud.

ihre Reise in Eisenbahnwaggons über
Ungarn
hun. Magyarország, eng. Hungary

Ungarn ist ein Staat in Mitteleuropa, dessen Hauptstadt Budapest ist. Das Land wird von ungefähr 10 Millionen Menschen bewohnt und war für mehrere Jahrhunderte Teil des sogenannten Habsburgerreich. Ungarn gehört seit dem 01.05.2004 der Europäischen Union an. Der größte Fluss des Landes ist die Donau.

in Richtung
Österreich
eng. Austria

Österreich ist ein von ungefähr 8,9 Millionen Einwohner:innen bewohntes Land in Mitteleuropa. Hauptstadt des Landes ist Wien.

an. Es ist überliefert, dass die Männer mit den Viehgespannen aus Kallesdorf zwei Tage später, am 19. September, 11 Uhr in Richtung der Stadt Bethlen (heute 
Beclean
deu. Bethlen, eng. Beclean, hun. Bethlen, ron. Beclean pe Someș

Beclean (deutsch Bethlen) ist eine von knapp 10.000 Menschen bewohnte Kleinstadt im nördlichen Rumänien. Die Stadt liegt im siebenbürgischen Kreis Bistrița-Năsăud, ca. 500 km nordwestlich der rumänischen Hauptstadt, Bukarest.

 in 
Rumänien
ron. România, eng. Romania

Rumänien ist ein von knapp 20 Millionen Menschen bewohntes Land in Südosteuropa. Die Hauptstadt des Landes ist Bukarest. Der Staat liegt direkt am Schwarzen Meer, den Karpaten und grenzt an Bulgarien, Serbien, Ungarn, die Ukraine und Moldau. Rumänien entstand 1859 aus dem Zusammenschluss der Moldau und der Walachei. In Rumänien liegt das für die dortige deutsche Minderheit zentrale Gebiet Siebenbürgen.

) aufbrachen. Über Ungarn erreichte der Flüchtlingstreck schließlich am 19. November 1944 Oberösterreich, wo die beiden Gruppen in Steyr zusammenfanden.
Text
Familie Theis landete schließlich in Rohr im Kremstal, wo Sophia am späten Abend des 18. Januar 1945 mitten in den Kriegshandlungen bei geltender Ausgangssperre mit schweren Geburtskomplikationen niederkam. Die bei der Behörde beantragte Genehmigung zur Überführung der Gebärenden ins Krankenhaus erfolgte zu spät, die mehrfache Mutter verblutete und starb mitsamt ihrem Kind.
Der Pelz kam aus dem Nachlass in den Besitz von Sophias ältestem Sohn, den am 1. Mai 1929 noch in Kallesdorf geborenen Johann Schuster. Von Grünberg in Oberösterreich aus, wo Johann Schuster zeitlebens als angesehener Metzger lebte, ging das Kleidungsstück nach dessen Tod im Jahr 1957 auf seinen Sohn Hans Schuster, einem damals vierjährigen Kind, über.
Hans Schuster jr. wanderte in den 1970er Jahren nach Südafrika aus und nahm das Erinnerungsstück an die Familie und die siebenbürgische Herkunft mit. In seinem Haus in Olifantsfontein hatte der Brautpelz seiner Großmutter und Urgroßmutter über Jahrzehnte einen Ehrenplatz inne. Bei einem Besuch in Österreich im Jahr 2015 brachte der damals 62-jährige Hans den Pelz zu seiner Schwester Brigitte, verheiratete Hillbrand, nach Grünberg zurück – die letzte Station vor Gundelsheim, wo er mit seiner Geschichte, eingebettet in die Zusammenhänge siebenbürgischer Kriegs- und Nachkriegsschicksale im 20. Jahrhundert, seinen endgültigen Platz gefunden hat.