Nach politischer Unabhängigkeit kamen NS-Besatzung und Kommunismus: Die Städte Ostmitteleuropas sind in der Mitte des 20. Jahrhunderts von zahlreichen Umbrüchen und Zäsuren geprägt. Krieg und Zerstörung, wechselnde Verwaltungen, der sich anschließende Wiederaufbau und neue, ideologisch geprägte Städtebaukonzepte schlagen sich nicht nur im Stadtbild, sondern auch in Karten, Plänen und weiteren schriftlichen Quellen nieder. Wie aber werden diese Entwicklungen hier dargestellt? Wie werden sie eingeordnet – oder bewertet?
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Geographisches Wissen und Raumaneignung vereinen immer historische, soziale, politische und ökonomische Aspekte. Das Projekt setzt sich zum Ziel, nicht nur die Herstellung, Verteilung und Rezeption von Städtekarten und Begleittexten zu untersuchen, sondern fragt, wie Karten auch die Wahrnehmung von Städten und deren „Charakter“ formen.
Das Projekt analysiert sechs Städte (
Brzeg
deu. Brieg

Brzeg ist eine von 36.000 Menschen bewohnte Stadt in der polnischen Woiwodschaft Oppeln (Opole). Sie liegt im Südwesten Polens an der Oder. Brzeg liegt zwischen Breslau und Oppeln. Die Stadt lag bis 1945 im Deutschen Reich.

Kołobrzeg
deu. Kolberg

Kolberg ist eine Stadt an der polnischen Ostseeküste in der Woiwodschaft Westpommern (Polnisch: Zachodniopomorskie). In der Stadt wohnen ungefähr 46.000 Menschen. Sie liegt im Nordwesten des Landes und ist ein wichtiger Ort für Tourismus, Hafen- und Fischereiwirtschaft. Kolberg liegt ca. 145 km in nordöstlicher Richtung von Szczecin/Stettin entfernt.

Drogobič
rus. Drogobyč, pol. Drohobycz, ukr. Drohobytsch, ukr. Дрогобич, ukr. Drohobych, yid. דראהביטש, rus. Дрогобыч, yid. Drohobjtš

Drohobytsch ist eine Stadt (Bevölkerungszahl 2021: 73.682) im äußersten Westen der Ukraine, in der Oblast Lwiw. Nördlich von Drohobytsch liegt Lwiw (Lemberg). Die Stadt gehörte mehrere Jahrhunderte lang zum Königreich Polen und war einst ein bedeutender Ort für das Judentum in Galizien. In der Zwischenkriegszeit war Drohobycz das Zentrum der polnischen Erdölindustrie, das in den 1920er Jahren zu den führenden Erdölproduzenten Europas gehörte.

Grodno
bel. Гродна, yid. Grodne, lit. Gardinas, yid. גראָדנע, rus. Гродно, rus. Grodno

Hrodna ist eine Großstadt im Westen des Landes Belarus. Sie wird von 370.000 Einwohner:innen bewohnt und liegt unmittelbar an der Grenze zu Polen. Sie liegt an der Memel und gilt als Verwaltungssitz der Woblasz Hrodna. Seit 1991 zählt die Stadt zu Belarus und ist bis heute von einer großen polnischsprachigen Minderheit geprägt. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten in der Stadt viele Polen und Juden.

Brest
pol. Brześć, lit. Brestas, bel. Брэст, pol. Brześć nad Bugiem, bel. Берасьце, eng. Brest-Litovsk, eng. Brest-on-the-Bug, pol. Brześć Litewski

Brest ist eine Großstadt im Südwesten von Belarus. Die Stadt liegt unmittelbar an der Grenze zu Polen am Fluss Bug. Die Stadt gehörte lange Zeit zu Polen und ist heutzutage Hauptstadt des Woblasz Brest.

), die im Zeitraum 1939-1953 massive politische, administrative, ethnische und bauliche Veränderungen durchliefen und analysiert diese anhand von vier Leitfragen:
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  1. In welchem Verhältnis stehen Diskurse über Um- und Aufbau von Städten einerseits in kartografischen Quellen, andererseits in textlichen Quellen?
  2. Welche Akteure (Kartenautor:innen und Textautor:innen) prägen diese Diskurse, und wer kann sich im Verlauf des Untersuchungszeitraums mit welchen Diskursen durchsetzen?
  3. Wie entwickelte sich das Verhältnis zwischen einerseits den städtischen Neu- und Umbauvorhaben ab 1941 im Zuge der Inbesitznahme der Städte durch NS-Zivilverwaltungen bzw. ab 1944/45 durch den Einzug einer sozialistischen Stadtverwaltungen, und andererseits den Zielsetzungen eines Wiederaufbaus und der jeweils lokalen Aneignung von historischer Bausubstanz?
  4. In welcher Weise stritten die Akteur:innen darum, was unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs an „Verlust“ und was als „Gewinn“ oder auch „Fortschritt“ im Um- und Wiederaufbau der Städte zu werten sei? 
Text
Der interdisziplinäre Ansatz bringt Kartenmaterial (Karten und Kartenentwürfe zur Planung oder Bestandserhebung, interne und veröffentlichte Stadtpläne) und Textmaterial verschiedener Provenienz zusammen (Reiseführer, universitäre und schulische Lehrwerke und sog. graue Literatur wie Jubiläumsschriften und Städtechroniken).
Neben der Analyse der Gewinn- und Verlustrhetorik der jeweiligen Städte im Angesicht von Kriegszerstörungen, gilt es das Zusammenspiel zwischen allgemeiner sozialistischer Maxime und den jeweils länderspezifischen (
Polen
eng. Poland, pol. Polska

Polen ist ein Staat in Mittelosteuropa, ein Mitglied der Europäischen Union. Unter dem heutigen Namen ist das Land seit dem 10. Jahrhundert bekannt.

Belarus
bel. Belarus', rus. Белоруссия, deu. Weißrussland, bel. Беларусь, eng. Belarus

Belarus ist ein von ungefähr 9,5 Millionen Menschen bewohnter Staat im östlichen Europa. Die Hauptstadt und bevölkerungsreichste Stadt des Landes ist Minsk. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 ist der Staat unabhängig. Belarus grenzt an die Ukraine, Polen, Litauen, Lettland und Russland.

Ukraine
ukr. Ukrajina, eng. Ukraine

Die Ukraine ist ein von ungefähr 42 Millionen Menschen bewohntes Land im östlichen Europa. Kiew ist die Hauptstadt und zugleich größte Stadt der Ukraine. Das Land ist seit 1991 unabhängig. Der Dnieper ist der längste Fluss der Ukraine.

) Interpretationen des Städtebaus zu hinterfragen: Wie werden die Neuformung des historischen Bewusstseins mit nationalen Stadtraum-Narrativen in Einklang gebracht? Wie wird z.B. die Verantwortlichkeit für die Zerstörung thematisiert, kam es doch in vielen Städten nach Ende des Krieges zu massiven Schäden durch Brandlegungen im Zuge von Plünderungen durch verschiedene Gruppen, denen die stark eingeschränkt funktionierende Feuerbekämpfung wenig entgegensetzen konnte. Wie versuchen zudem die lokalen Akteur:innen (im Angesicht der Zensur) eigene Visionen des Wiederaufbaus zu präsentieren?
Das Projekt ist ein Teilprojekt des Forschungsverbunds „UrbanMetaMapping – Kartieren und transformieren: Interdisziplinäre Zugriffe auf Stadtkarten als visuelles Medium urbaner Transformation in Mittel- und Osteuropa, 1939-1949“. Beteiligt sind darüber hinaus das Institut für Archäologische Wissenschaften, Denkmalwissenschaften und Kunstgeschichte (KDWT) der Universität Bamberg, das Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften in Mannheim (GESIS), das Leibniz-Institut für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) und die Technische Universität Wien. Geleitet und koordiniert wird das Verbundvorhaben von Dr.-Ing. Carmen M. Enss.

Siehe auch