Seit Beginn des russischen Angriffskrieges steht die Ukraine im Fokus der Weltöffentlichkeit. Ist jetzt die Stunde der Ukraine-Expert:innen? Mit Beginn des Krieges ist vielen Menschen bewusst geworden, wie wenig sie eigentlich über dieses Land und seine Geschichte wissen. Um diese Wissenslücke zu füllen oder aber bestehende Kenntnisse zu vertiefen, empfehlen wir den Band „Die heutige Ukraine und ihre sowjetischen Wurzeln“ von 2021: Der von Stephan Rindlisbacher und Dimitri Tolkatsch herausgegebene Sammelband eröffnet eine Facette von Themen, die dazu beitragen, die heutige Ukraine und ihre Position in der post-sowjetischen Welt besser zu verstehen.
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Mit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 hat sich zwar ein politischer, sozialer und wirtschaftlicher Umbruch vollzogen – dennoch kann und sollte man die Ukraine nicht unabhängig von ihrer sowjetischen Vergangenheit betrachten, denn so manche Strukturen, Grenzen oder Aspekte der Sozialisation haben bis in die Gegenwart überdauert. Die Transformationen des Jahres 1991 haben sich in verschiedenen Regionen und Milieus auf andere Arten und Weisen niedergeschlagen, und der ukrainische Staat selbst geht nicht zuletzt in seinen Institutionen auf die Ukrainische Sowjetrepublik zurück – So greifen die Beiträge des Bandes auch ganz unterschiedliche, spezifische Themen der ukrainischen Zeitgeschichte auf, deren Auswirkungen bis heute relevant sind. Regionen, Transformationen und Politisierung von Geschichte kommen zur Sprache: Stephan Rindlisbacher informiert über das Territorium der Ukraine. Svetlana Boltovska setzt sich mit der gesellschaftlichen Transformation Polesiens durch die Atomwirtschaft auseinander. Kyrylo Tkachenkos erster Beitrag befasst sich mit dem 
Donbas
rus. Донбасс, ukr. Донбас, deu. Donbass, deu. Donezbecken
 im 20. und 21. Jahrhundert, einer Region, die in der aktuellen Krise eine Schlüsselrolle spielt. In einem zweiten Aufsatz wirft er die Frage auf, wer die Gewinner der Marktwirtschaft sind. Denys Gorbach analysiert poststalinistische Arbeitsverhältnisse und politische Apathie. Marina Shcherbakova beschäftigt sich mit Judaica-Ausstellungen in den Museen der sowjetischen Ukraine, während Yuri Radchenko die Politisierung der Geschichte der ukrainischen Hilfspolizei im Holocaust analysiert. Matthäus Wehowskis Beitrag untersucht die Rolle des Kosakenaufstandes und des „wilden Ostens“ im Film. Karten und Glossar bieten zusätzliche Orientierung.
Jenseits einer einfachen Nationalgeschichte hilft der vorliegende Band, die Ukraine in ihrer Komplexität einzuordnen und ihre eigenen Entwicklungen als postsowjetischer Staat nachzuvollziehen – relevante Einblicke in ein vielseitiges Land und seine Geschichte, die nicht nur aufgrund der aktuellen Kriegssituation von Interesse sein sollten.