„Ich habe meine Heimat verloren“, sagte Vera von Lehndorff einmal, „aber verlorene Kindheit trifft es besser.“ Als ihr Vater am 4. September 1944 hingerichtet wurde, war sie fünf Jahre. Ihre Schwester Eleonore, „Nona“, sechseinhalb, Gabriele zwei. Catharina erst 19 Tage alt, sie wurde im Gefängniskrankenhaus Torgau geboren. Die Nazis hatten die Mädchen und ihre Mutter Gottliebe in „Sippenhaft“ genommen. Eine traumatische Zeit, und sie war nach 1945 nicht vorbei.
Von Steinort in die Welt und zurück
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„Wir erinnern uns nicht an
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

“, sagt Gabriele von Plotho. Sie und ihre Schwester Catharina, „die Kleinen“, wie sie in der Familie genannt wurden, sind diesmal ohne ihre Schwester Vera nach Sztynort gekommen.1  Nona ist 2018 gestorben, seitdem sind die Lehndorff-Töchter nur noch zu dritt.
 
Seit einiger Zeit treffen sich die Nachkommen von Heinrich und Gottliebe von Lehndorff in Masuren. Töchter, Enkel und Urenkel, Verwandte aus der Dönhoffschen Linie. Kleine gemeinsame Sommerferien, abends sind sie Ehrengäste beim Schlossfestival.
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„Was sollen wir Ihnen schon erzählen?“ Gabriele von Plotho lächelt. „Unsere Mutter Gottliebe hat nicht viel über die Vergangenheit gesprochen.“ Fügt ihre Schwester Catharina hinzu. „Natürlich haben wir als Kinder ihre Schwermut mitbekommen.“
 
Unsere Begegnung ist kurz und herzlich. Der Tag ist grau, vor dem Fenster des Cafés schießen pausenlos und blitzschnell die Schwalben vorbei, verschwinden Richtung Mauersee.
 
„Unseren Vater Heinrich kennen wir nur vom Hörensagen. Mutter sagte mal, wenn er in den Raum kam, dann strahlte er.“ Das Leuchten hat offenbar die verwaiste Familie begleitet. „Seine Lebenslust muss ja auch in unserer DNA sein.“
 
Sätze, Andeutungen, die nicht zu Geschichten werden.
 
Karin von Dönhoff, ihre ältere Cousine, wird später erzählen2 , Heinrich von Lehndorff habe sie einmal in die Luft geworfen, „wie man das mit Kindern so macht.“ Der letzte Schlossherr von Steinort war ihr Patenonkel. Zu Weihnachten, weiß sie noch, hat er ihr eine weiße Ziege mit einer kleinen Kutsche geschenkt, 1942 oder ein Jahr später.
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Im Archiv des Ostpreußischen Landesmuseums3 befindet sich ein Fotoalbum, das Einblicke in das damalige Leben auf Schloss Steinort gibt. Gottliebe von Lehndorff hat es 1937, anlässlich der Geburt ihres ersten Kindes, angelegt.
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Es zeigt die junge Mutter im Ambiente des Schlosses und des großen Parks. Offenbar ist die Städterin Gottliebe in der Welt ihres Mannes angekommen. Nona ist zu sehen, dann Vera auf einer Decke. Die zwei Schwestern im Sandkasten, auf dem Schaukelpferd, später auf Ponys. In schicken zweireihigen Mäntelchen, einen Jagdhund an der Leine.
 
Notizen der Mutter in Tintenschrift berichten vom Zahnen, ersten Schritten. Zu Veras Geburt vermerkt sie: „Sie wog 6 ½ Pfund, war sehr lang und dünn. Besonders auffallend waren ihre langen Füße.“ Eleonore, heißt es weiter, „war sehr erstaunt über das Schwesterchen und dachte erst, es wäre ein kleiner Hund. Sobald Vera bei mir trank, wurde sie eifersüchtig und wollte durchaus auch etwas haben.“
 
Dokumente einer behüteten, privilegierten Kindheit. Zum Alltag gehört auch das geliebte Kindermädchen Fräulein Gräber.
 
Auf den letzten Albumseiten sind die Ferien 1943 an der Ostsee verewigt. Der Vater ist dabei, es ist der Sommer vor dem Attentat auf Hitler. Heinrich von Lehndorff ist längst in die Verschwörung verwickelt, lebt mit seiner Frau ein gefährliches Doppelleben.
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Wer hat die Fotos gemacht? Gabriele, die dritte Tochter, ist in diesem Album nicht zu sehen. Nach dem Tod ihrer Mutter, erzählt Gabriele von Plotho, habe sie in einer Truhe Babyfotos von sich gefunden. „Das hat mich sehr bewegt.“
 
Ausführlichere Schilderungen der Kinderjahre verdanken wir der 1939 geborenen Vera von Lehndorff.4  Als „Veruschka“ weltweit bekannt, hat sie sich spät in ihrer Karriere auf ein langes biografisches Interview – mit dem Autor Jörn Jakob Rohwer – eingelassen.
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Sie erinnerte sich an Außenminister von Ribbentrop, den ungebetenen Gast, der im Westflügel des Schlosses residierte und sich gern mit der Grafenfamilie fotografieren ließ. Dann wurden sie und Nona in weiße Kleidchen gesteckt und bei der Hand genommen. Einmal schenkte Ribbentrop ihnen zwei Ponys, für die Mädchen war er „der liebe nette Onkel, der uns Geschenke gab.“5  Als erwachsene Frau hat sie die inszenierten Fotos mit Grauen betrachtet.
Vertreibung aus dem Paradies
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Vera von Lehndorff hat in ihrer Generation die Rolle der Chronistin übernommen. Bilderfetzen, die sie später in größere Zusammenhänge brachte – vom Frühling im Park und dem nahen See, dem Kanarienvogel Hansi. Er durfte mit, als die drei Mädchen im Juli 1944 mit ihrer Gouvernante zum Großvater nach Graditz geschickt wurden.
 
Klar und schmerzhaft ist ihr der Abschied vom Vater in Erinnerung. „Wir saßen bereits im Zug.“ Er schaute von außen durchs Fenster, „sein Blick war mir so ungewohnt, so ernst.“ Sein Gesicht in diesem Augenblick hat sie nie vergessen.
 
Auf einem Foto einige Wochen zuvor sitzt Vera lachend auf der Schaukel. Über ihr der Vater, groß und aufrecht, in Gedanken scheint er woanders zu sein.
 
„Ich habe meinen Vater sehr geliebt. Bei ihm erlebte ich das Gefühl von Zärtlichkeit.“
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Am 25. August 1944, mitten in der Nacht, wurden Nona, Vera und Gabriele im Haus ihres Großvaters aus den Betten gerissen. Und nach Bad Sachsa im Harz gebracht, in das NS-Kinderheim Borntal, dort wurden die Kinder der Beteiligten des 20. Juli interniert. Drei Monate Angst und Verlassenheit, Schikanen. Ein Albtraum, ein radikaler Bruch mit ihrem bisherigen Leben.  
 
Bad Sachsa, deutet Gabriele von Plotho an, belastet sie bis heute. Zwei war sie damals. Ihre fünfjährige Schwester Vera versuchte, sie zu beschützen.
 
Im Dezember 1944 durften die Mädchen zur Großmutter in der Uckermark. Dort sahen sie ihre Mutter wieder, im Arm das neue Schwesterchen Catharina.
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Gemeinsam flohen sie im Januar 1945 vor der Roten Armee Richtung Bremen. Zwischenstation Berlin, SS-Führer Wolff hatte sie ins Hotel Adlon einbestellt, um ihr den Abschiedsbrief ihres Mannes auszuhändigen.
 
Nach Kriegsende fanden sie und die Töchter bei der befreundeten Familie von Alvensleben, im „Fichtenhof“, unweit von Bremen, für einige Jahre Obdach und Ruhe. Anfangs schien die Witwe noch gefasst. Entschlossen, „einen neuen Sinn in ihr Leben zu bringen“, so schrieb sie im Juli 1946 an die Dichterin Ricarda Huch.
Vier Schwestern auf eigenen Wegen
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Ende der 1940er Jahre versank Gottliebe von Lehndorff in Traurigkeit. Das treue Fräulein Gräber sorgte für die Kinder. Zwischenzeitlich wurden sie fortgeschickt, in Kinderheime, Internate, zu Pflegefamilien. „Meine Mutter hat getan, was sie konnte, aber Liebe konnte sie uns nicht geben.“ Urteilte Vera von Lehndorff rückblickend.
 
Der Vater war verschwunden, in Gesprächen kam er nur selten vor. Die Mutter schärfte den Mädchen ein, nicht öffentlich über ihn zu reden. Lange galten die Männer des 20. Juli vielen Deutschen als Vaterlandsverräter. In der Schule wurde die neunjährige Vera von einer Lehrerin „Tochter eines Mörders“ genannt.
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Eines Tages las Gottliebe von Lehndorff ihren Töchtern aus dem Abschiedsbrief des Vaters vor. Ein tränenreicher Nachmittag. Viel später – Anfang der 1990er Jahre, in Paris – hat Vera zusammen mit einem Therapeuten über den Brief nachgedacht und darin Trost gefunden.
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Ihr war früh bewusst: Schicksale wie ihres gab es millionenfach. Nicht nur die Lehndorffs hatten ihre Heimat verloren. Der Adel hatte kaum mehr gesellschaftliche Bedeutung. Es hieß, eigene Wege finden. Beflügelt vom Freiheitsrausch der 1960er Jahre verwandelte sie sich in „Veruschka“.
 
Unter diesem Namen wurde das dünne traurige Mädchen mit den großen Füßen das erste deutsche Supermodel. Die „schönste Frau der Welt“, nannte sie der Fotograf Richard Avedon. Sie selbst sprach vom Modeln als „eine angenehme Art der Flucht“.6  Sie liebte es, in Rom zu leben, in Paris oder New York.
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Jede der Lehndorff-Töchter hat sich auf ihre Weise durchgekämpft. Die rebellische Nona verließ früh das Haus, heiratete 1957 Jan von Haeften. Auch sein Vater war in Plötzensee hingerichtet worden. Später verband sie sich mit Wieland Wagners Sohn Wolf-Siegfried, begann mit ihm ein neues Leben auf Mallorca.
 
Eigenwillige, emanzipierte Frauen alle vier: Catharina ist gelernte Goldschmiedin, wurde für ihre kunstvollen Kreationen von Ledergürteln bekannt. Gabriele von Plotho entschied sich für die Heilkunst, arbeitete als Homöopathin in München. Ihr Vater Heinrich, der so gern Söhne gehabt hätte, wäre stolz auf sie alle.
Wiederbegegnung mit Steinort
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Schloss Steinort? War fern wie der Mond. 1977 reiste Gottliebe von Lehndorff erstmals wieder nach Masuren. Gabriele und ihr Mann Armin Gebhard von Plotho begleiteten sie. „Wir haben Angst gehabt, dass sie zusammenbricht. Doch das geschah nicht.“  So erzählt Gabriele von Plotho im August 2021 in Sztynort.7
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Im Rahmen der „Lehndorff-Gesellschaft Steinort“ unterstützen sie seither die Wiederbelebung des Schlosses. Ihr Wunsch: die Erinnerung an den Widerstand des 20. Juli wachzuhalten. Im Mittelpunkt soll jedoch nicht die Adelsfamilie stehen, sondern das Schicksal von Polen und Deutschen der Region.
 
„Es muss etwas für die Jugendlichen hier geschehen,“ sagt Gabriele von Plotho. „Vermutlich werden wir nicht mehr erleben, dass das Schloss fertig wird.“ Dessen sind sich beide Schwestern, an diesem Tag im August 2021, sicher.
 
Gestern sind sie durch die alte Eichenallee hinter dem Schloss gewandert. Ob der Baum noch steht, der zu Gabrieles Geburt gepflanzt wurde? So war es Tradition: für jeden neuen Lehndorff-Spross Kind eine junge Eiche. Gabriele war das letzte Kind, das im Schloss zu Welt kam – im August 1942.
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„In der Allee hat mich kurz die Wut gepackt,“ sagt Catharina Kappelhoff-Wulff, „einen Augenblick lang dachte ich, warum konnten wir hier nicht groß werden?“ Gabriele von Plotho ging es nicht so. „Für mich ist alles vorbei. Weit weg.“