„Ein Glück, dass wir diesen Kindergarten hatten!“ Sagen alle vier. Anfang der 1970er Jahre war das. Agata und Jolanta leben heute in Deutschland, Dorota und Iwona sind in Masuren geblieben. Ort des Glücks war das Lehndorffsche Schloss, der „Pałac“. In den herrschaftlichen Räumen erlebten sie Geborgenheit, sie spielten zwischen den alten Eichen, badeten im See. Ein Mikrokosmos abseits der Erwachsenenwelt, ihrer Sorgen und Traumata.
Der Mikrokosmos der Kinder. Sztynort in den 1970er Jahren
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Seltsam, dieser Gleichklang der Erinnerungen! „Für mich war und ist das Schloss ein magischer Ort“, schwärmt Agata Kern, heute Kulturreferentin am Ostpreußischen Landesmuseum Lüneburg. Schon lange hatte sie den Wunsch, sich noch einmal mit einigen Kindern von damals auszutauschen.
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In der Erinnerung von Agata, Dorota, Iwona und Jolanta *1 ist der Kindergarten quicklebendig. Wer war der schönste Junge? Jurek! Mittagsruhe? Von 13 bis 15 Uhr! Noch immer kennt jede den Weg im Schlaf – vom Haupteingang des Pałac die gewaltige Treppe hoch in den ersten Stock. Riesenräume, „nicht für Kinder gedacht“, die man an ihre Bedürfnisse angepasst hatte: Holzleisten an den Fenstern, damit keines hinausfällt, Zwergenwaschbecken und -klos, zur Sicherheit wurde ein herrschaftlicher Kamin zugenagelt.
„Wir lebten in einer Herde.“ Dorota, Bankerin in
Giżycko
deu. Lötzen

Giżycko ist eine Stadt in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren. Sie wurde 1340 zum ersten Mal als „Letzenburg“ und „Lezcen“ urkundlich erwähnt. Giżycko liegt auf einer Landenge zwischen dem Jezioro Niegocin (Löwentinsee) und dem Jezioro Kisajno (Kissainsee), einem Becken des Jezioro Mamry (Mauersee).
2016 hatte Giżycko 29.642 Einwohner:innen.

Das Bild zeigt eine Stadtansicht von Giżycko /Lötzen auf einer Postkarte von vor 1945.

, meint damit nicht ein kommunistisches Kollektiv, sondern eher einen natürlichen Zustand, so selbstverständlich wie Goggelmoggel, die Süßigkeit (Zucker mit Ei verquirlt), die ihre Mütter und Großmütter oft zubereiteten. Ihr Herdenleben ist für die selbstbewussten Mittfünfzigerinnen bis heute etwas ganz und gar Positives.
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Mittelpunkt ihres Lebens war damals der Pałac. „Er war einfach da“, Lebensort von morgens bis abends. Nicht nur Kindergarten, auch Arbeitsplatz der Mütter von Agata, Iwona und Dorota, die Buchhalterinnen waren. Er war Behausung für Arbeiter, Jolantas Familie war eine Zeitlang notdürftig im Ostflügel des Pałac untergebracht. Überwiegend diente er der Verwaltung des Erholungszentrums OSWIR, Ośrodek sportów wodnych i rekreacji – Büros und Kantine, Schlafsäle, in denen im Sommer jugendliche Segler logierten. Es gab Musikunterricht und einmal die Woche Kino, ziemlich ungewöhnlich für ein Dorf.
Lebensmittelpunkt Pałac
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Erst in der Grundschule oder noch später erfuhren die Mädchen von der Grafenfamilie Lehndorff und ihrem Schicksal. Jolanta zum Beispiel in einer Heimatkunde AG, zum Lehrplan gehörte auch ein Besuch der Wolfsschanze. Wolfsschanze. Die „Wolfsschanze“ wurde im Zweiten Weltkrieg errichtet und zählte zu den „Führerhauptquartieren“. Die Anlage mit Bunkern und zahlreichen Gebäuden befand sich oberirdisch, jedoch getarnt in einem Waldgebiet nahe der Stadt Rastenburg (heute Kętrzyn). Von  1941 bis 1944 hielt sich Hitler vorwiegend dort auf. Heute sind die Ruinen der Wolfsschanze, die von der Wehrmacht bei ihrem Rückzug gesprengt wurden, eine Touristenattraktion. Als gute Schülerin kannte sie die Ortsnamen vor 1945.
 
Keine noch so düstere Geschichtslektion jedoch hat vermocht, ihre Kindergartenidylle zu trüben. Über viele Jahrzehnte blieb die Erinnerung daran unberührt: Holzspielzeug und Buntstifte, Basteln mit Kastanien, Singen und Tanzen, Lieder wie „Pieski małe dwa chciały przejść przez rzeczkę“ („Zwei kleine Hündchen wollen einen Fluss überqueren“). Ein Arztzimmer und ein Frisörsalon im Miniaturformat, man stelle sich vor, und nicht zu vergessen Marianna, die liebste der Kindergärtnerinnen. „Wenn ich im Nachhinein daran denke: Wir waren am Ende der Welt“, staunt Agata, „und da passierte so viel!“
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„Wir alle waren gleich.“ Noch eine Generation zuvor spielte die Herkunft eine wichtige Rolle. Die Eltern, während des Krieges oder kurz danach geboren, waren Vertriebene. Ihre Familien waren in den polnischen Ostgebieten zuhause und wurden nach 1945 umgesiedelt nach Masuren, „repatriiert“, wie es offiziell hieß. Agatas Familie stammte teils aus
Vilnius
deu. Wilna, rus. Вильнюс, rus. Wilnjus, yid. ווילנע, yid. Wilne, bel. Вільня, bel. Wilnja, pol. Wilno

Vilnius ist die Hauptstadt und bevölkerungsreichste Stadt Litauens. Sie liegt im südöstlichen Teil des Landes an der Mündung der namengebenden Vilnia (auch Vilnelė) in die Neris. Wahrscheinlich bereits in der Steinzeit besiedelt, datiert die erste schriftliche Erwähnung auf 1323; Magdeburger Stadtrecht erhielt Vilnius 1387. Von 1569 bis 1795 war Vilnius Hauptstadt des litauischen Großfürstentums in der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Mit der dritten Teilung von Polen-Litauen verlor sie im Russischen Zarenreich diese Funktion. Erst durch die Gründung der Ersten Litauischen Republik 1918 wurde Vilnius kurzzeitig erneut Hauptstadt. Zwischen 1922 und 1940 gehörte Vilnius zur Republik Polen, weshalb Kaunas zur Hauptstadt Litauens ausgebaut wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg war Vilnius bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens 1990 Hauptstadt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

Bereits im Mittelalter galt Vilnius als Zentrum der Toleranz. Insbesondere Juden fanden in Vilnius Zuflucht vor Verfolgung, so dass sich Vilnius bald als "Jerusalem des Nordens" einen Namen machte. Nicht zuletzt mit dem Goan von Wilna, Elijah Ben Salomon Salman (1720-1797), war Vilnius eines der bedeutendsten Zentren jüdischer Bildung und Kultur. Bis zur Jahrhundertwende war die größte Bevölkerungsgruppe die jüdische, während laut der ersten Volkszählung im russischen Zarenreich 1897 lediglich 2% der litauischen Bevölkerungsgruppe angehörten. Ab dem 16. Jahrhundert entstanden zahlreiche barocke Kirchen, die der Stadt auch den Beinamen "Rom des Ostens" eintrugen und die bis heute das Stadtbild prägen, während die zahlreichen Synagogen der Stadt im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Zwischen 1941 und 1944 unterstand die Stadt dem sog. Reichskommissariat Ostland. In dieser Zeit wurde fast die gesamte jüdische Bevölkerung ermordet, nur wenige konnten fliehen.

Auch heute noch zeugt die Stadt von einer "phantastische[n] Verschmelzung von Sprachen, Religionen und nationalen Traditionen" (Tomas Venclova) und pflegt ihre vielkulturelle Geschichte und Gegenwart.

, teils aus
Wolhynien
eng. Volhynia, pol. Wolyń, ukr. Воли́нь, ukr. Wolyn, deu. Wolynien, lit. Voluinė, rus. Волы́нь, rus. Wolyn

Die historische Landschaft Wolhynien liegt in der nordwestlichen Ukraine an der Grenze zu Polen und Belarus. Bereits im Spätmittelalter fiel die Region an das Großfürstentum Litauen und gehörte ab 1569 für mehr als zwei Jahrhunderte zur vereinigten polnisch-litauischen Adelsrepublik. Nach den Teilungen Polen-Litauens Ende des 18. Jahrhunderts kam die Region zum Russischen Reich und wurde namensgebend für das Gouvernement Wolhynien, das bis ins frühe 20. Jahrhundert Bestand hatte. In die russische Zeit fällt auch die Einwanderung deutschsprachiger Bevölkerungsteile (der sog. Wolhyniendeutschen), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Wolhynien zwischen Polen und der ukrainischen Sowjetrepublik aufgeteilt, ab 1939, infolge des Hitler-Stalin-Paktes, vollständig sowjetisch und bereits 1941 von der Wehrmacht besetzt. Unter deutscher Besatzung kommt es zur systematischen Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung sowie weiterer Bevölkerungsgruppen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Wolhynien erneut zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und seit 1992 zur Ukraine. Die Landschaft ist namensgebend für die - räumlich nicht exakt deckungsgleiche - heutige ukrainische Oblast mit der Hauptstadt Luzk (ukr. Луцьк).

, Dorotas und Iwonas Mutter ebenfalls aus Wolhynien, ihr Vater war Ukrainer, die Familie wurde 1947 im Rahmen der „Aktion Weichsel“ „Aktion Weichsel“ „Aktion Weichsel“ (polnisch Akcja Wisła) bezeichnet die Zwangsumsiedlung von etwa 150.000 ethnisch ukrainischen, lemkischen und bojkischen Menschen aus den polnischen Ostgebieten in die sog. „Wiedergewonnenen Gebiete“ im Westen des Landes, größtenteils im Zeitraum von April bis Juli 1947. aus dem
Karpartenvorland
slk. Čelná karpatská priehlbina, ces. Vněkarpatské sníženiny, ukr. Прикарпаття, eng. Outer Subcarpathia, pol. Podkarpacie Zewnętrzne, pol. Podkarpacie

Als Karpatenvorland bezeichnet man das Gebiet an der äußeren Seite des Karpatenbogens. Es ist namensgebend für die polnische Woiwodschaft Podkarpackie.

hierher deportiert. Im Pass von Jolantas Mutter steht „geboren 1944 in Magdeburg“, die Eltern hatten sich – als Zwangsarbeiter - auf einem stadtnahen Bauernhof kennengelernt.
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

war ein Dorf der Vertriebenen, verschiedener Ethnien und Kulturen. Die dagebliebenen Masuren eingeschlossen – ihr Steinort existierte nicht mehr.
Schatten der Vergangenheit
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„In einer Eiche hatte ich mit meiner Freundin ein Häuschen“, erzählt Dorota. „Dort spielten wir Janek und Marusia, das waren die Hauptfiguren der Serie.“ Ihre Schwester Iwona ergänzt: „Wir verabredeten uns an bestimmten Eichen. Jeder hatte eine eigene Eiche.“ Die Eichenriesen waren die Landmarken ihrer Kindheit. Ihr Rauschen war die Musik, vertraut und „bei Sturm“, erinnert sich Jolanta, „furchterregend“. 
Ihre Generation hatte eine innige Beziehung zur Natur, Landschaft, Wasser, Himmel. Zum Steinorter See waren es nur wenige Schritte. Angeln, Baden, Bötchen fahren, „das war wundervoll“. Masuren war für sie Heimat. Anders als für ihre Großeltern, die Überlebende waren, irgendwo ausgekippt in der Fremde. Anders als für ihre Eltern, die in den armen, kummervollen Nachkriegsjahren groß wurden, nur langsam Wurzeln schlugen.
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Auch Jolantas Großeltern redeten. Über die Jahre als Zwangsarbeiter zum Beispiel überwiegend freundlich. Solche familiären Überlieferungen halfen, Veränderungen anzubahnen. In den 1970er Jahren, gleich nach den Ostverträgen, kamen die Bauersleute aus der Gegend von Magdeburg zu Besuch. In Sztynort wurden damals die ersten Heimwehtouristen gesichtet. Darunter Gottliebe von Lehndorff, 1977 spazierte sie zum ersten Mal wieder durchs Schloss, fast alles, was sie sah, erschien ihr armselig, mit Ausnahme des Kindergartens. „Wo Esszimmer und Billiardzimmer waren“, schrieb sie in einem Brief, „ist jetzt ein Kindergarten, sehr sauber und ordentlich.“
Eine glückliche Generation
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1989 reiste Agata im Zuge der Familienzusammenführung nach Deutschland aus, ihr Stiefvater und ihre Mutter waren bereits dort. Ein schwerer Schritt! Zwei Jahre schon studierte sie Jura in Warschau, war in oppositionellen Kreisen unterwegs, las Bücher, die ihr die Augen öffneten – von Gustaw Herling-Grudziński, Czesław Miłosz, Zbigniew Herbert und Alexander Solschenizyn. Hörte Lieder von Jacek Kaczmarski und Przemysław Gintrowski. „Ich wurde in Warschau ein anderer Mensch“, sagt sie, „und ich war glücklich dort“. Eine Kleinstadt im Bergischen Land, das war ein Abstieg. In der ersten Zeit hat sie viel geweint.
 
Jolanta heiratete im August 1989 ihre Jugendliebe Jacek Gernat. Das junge Paar hatte Deutschland schon im Blick, seine Verwandten dort drängten, die Wirtschaftskrise in Polen tat ihr Übriges – 1994 war es soweit. Jolanta ließ ihre große Familie in Masuren zurück, Gütersloh war lange ein Tal der Tränen.
Iwona und Dorota kämpften sich zuhause durch, Informatik und Finanzwirtschaft waren zukunftsträchtige Branchen. Der Aufschwung in der strukturschwachen Provinz ließ auf sich warten, kam schließlich doch –Familie, Haus und Garten. Dazu die Seen und Wälder, die schon immer da waren.
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Unterdessen verfiel der Pałac, die Welt ihrer frühen Kindheit. Die Dagebliebenen verfolgten mit Trauer und Zorn, wie ein Versuch nach dem anderen, ihn zu retten, scheiterte. Wenn Iwona mit Schulklassen das Schloss besuchte, sah sie das Elend. Ebenso Agata, sie reiste oft mit Schülern aus Deutschland dorthin.
 
Ganz abgerissen sind die Verbindungen aus der Kindergartenzeit nie. Dank Facebook werden sie lebhafter, am eifrigsten kommuniziert Dorota. Sie träumt von einem Treffen aller in Sztynort.
Die vier Frauen haben kürzlich ihre Gedanken über die Zukunft des Schlosses zusammengetragen. Ein Museum für die Geschichte Masurens oder eher für Kunst und Kultur? Eine Bildungsstätte für Jugendliche? Auch die Erinnerung an die sozialistischen Jahre, die heute wenig gelten, wäre wichtig. Zum Beispiel könnte man die Biografien der Mädchen und Jungen aus dem Kindergarten erzählen.

Siehe auch