Ein Sommerapfel. Der erste, der reif wurde. Polnisch „Papierówka“, zu Deutsch „Papierapfel“. Fast überall in Masuren und Ermland wuchs er, auch im Garten von Stefan Tymiec‘ Großmutter Gertrud. „Er duftete und schmeckte köstlich“, schwärmt er, „und das Gelb!“ Zu seinem 60. Geburtstag hat er sich Setzlinge aus einer polnischen Baumschule nach Wuppertal geholt.
Wanderung einer Apfelsorte
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Mittlerweile sind die Bäumchen, die Stefan Tymiec in einem Anfall von Nostalgie kaufte, sechs Meter hoch. Am liebsten isst er sie, wie in
Kossewen
deu. Rechenberg

Kosewo ist ein Dorf am Jezioro Probarskie (Probergsee) in der polnischen Woiwodschaft Ermland-Masuren, das 1546 als „Kossewen“ gegründet wurde. Von 1938 bis 1945 hieß es Rechenberg (Ostpr.) 2011 hatte Kosewo knapp über 400 Einwohner:innen.

Kinderzeiten, frisch vom Baum. Oder als Apfelkompott, ganz traditionell mit Flinsen, den typisch ostpreußischen kleinen Pfannkuchen.1
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Die Apfelbäume hatten die Siedler nach 1945 – wie so Vieles – von den vertriebenen Vorgängern „geerbt“. Ihren Namen, „Augustäpfel“, übernahmen sie nicht, sondern nannten sie, wie in Polen üblich, „Papierówki“. Die meisten Bäume dürften damals noch jung gewesen sein, denn im bitterkalten Winter 1928/29, bei Minustemperaturen bis zu 42 Grad, waren fast alle Obstbäume erfroren. Woraufhin alles neu begonnen hatte – eine gewaltige Anstrengung zum Wohl künftiger Generationen.
 
Als Junge hatte Stefan Tymiec (1950 geboren) reichlich Gelegenheit zum Pflücken. In den Gärten seiner Freunde und auf verlassenen Grundstücken, die die niemand nutzte. Oder im ermländischen
Kajkowo
deu. Buchwalde

Kajkowo ist ein Dorf am Jezioro Sajmino (Großer Zehmen-See), nahe der Stadt Ostróda. 1335 wurde es erstmals urkundlich erwähnt. Im Jahr 2011 lebten 1092 Menschen in Kajkowo.

, wo seine Großmutter zuhause war. Dort hatte ein Onkel kurz nach Kriegsende Setzlinge gepflanzt, die er aus einer herrenlosen Baumschule mitgenommen hatte. Ihr Besitzer war vor der Roten Armee geflüchtet…
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In Stefan Tymiec‘ Kindheit waren die frühen, robusten Äpfel mit der papierdünnen Schale sehr populär. Viele Landbewohner waren Selbstversorger, auch die Kollektivwirtschaft lebte noch im Rhythmus früherer Agrargesellschaften. Frisches, vitaminreiches Gemüse und Obst kamen oft erst im Sommer auf den Tisch.
 
Mehr als ein Jahrhundert lang war der Sommerapfel heiß begehrt. Sein Ursprungsort ist , eine Gärtnerei namens Wagner. Ab 1852, auch das weiß man, wurde er von der französischen Baumschule Leroy in Europa verbreitet. Als „Weißer Transparent“ oder „Klarapfel“ wanderte er immer weiter, nahm neue Namen an, wie „Pomme de Reval“, „Grand Sultan“, „Jakobiapfel“, „Haferapfel“, „Augustapfel“ oder eben „Papierówka“.
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Irgendwann, spätestens in den 1980er Jahren, ging die Zeit dieses Apfels zu Ende. Mit den Supermärkten, die ganzjährig viele Sorten aus aller Welt anbieten, makellos und haltbar. Die ziemlich saure, schnell vergängliche Frucht aus Riga hatte keine Chance mehr.
 
Vor dem Schloss in Sztynort stehen noch einige Papierówki. Es heißt, sie seien in den 1960er Jahren gepflanzt worden, auf Wunsch des damaligen Vorsitzenden der Kollektivwirtschaft. Späte Ehre – heute fallen die Äpfel vom Baum, und keiner sucht sie auf.
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Auf privaten Grundstücken sieht man die „Papierówki“ nicht mehr. Der wahrscheinlich letzte Baum ging vor etwa zehn Jahren im Hausgarten von Maria Zarębska ein. „Trotz guter Pflege“, erzählte sie. Noch einmal kochte sie Apfelkompott, und wie der Zufall es wollte, kam in diesem Sommer Vera Gräfin Lehndorff zu Besuch – sie schenkte ihr ein Glas.
 
Der Dorfimker vermisst die frühe Blüte der Bäume, die seinen Bienen reichlich Nahrung gaben. Auch er ist der letzte seiner Art. Vor 1989 waren es noch zwölf in Sztynort…
 
„Papierówki“ haben heutzutage nur noch Liebhaberwert, für Menschen wie Stefan Tymiec.