Die Schauspielerin Hanna Schygulla war dreißig, als sie 1973 Gottliebe von Lehndorff kennenlernte. Schauplatz der Begegnung: die Künstlerkolonie im alten Pfarrhof Peterskirchen, östlich von München. Dreizehn Jahre lebten sie dort, Wand an Wand. Trotz des Altersunterschieds hatten sie viele Gemeinsamkeiten, nicht zuletzt der Erfahrung des Heimatverlustes. In dem Podcast werden die gemeinsamen Peterskirchener Jahre lebendig.
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Komposition, Einspielung und Editing: Maurice de Martin
Gemeinsame Jahre im alten Pfarrhof Peterskirchen
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Hanna Schygulla liest1 
“Jemand hatte mir erzählt von einer Künstler-Hausgemeinschaft jenseits des Inns, in einem alten Pfarrhof, der kurz nach der Dorfgrenze von Peterskirchen schon von weitem sichtbar irgendwie eher italienisch anmutend in schönem Sienarot in die hügelige Landschaft schaue. Dort gäbe es im Seitenflügel eine Musikerfamilie, die auf selbstgebauten Instrumenten und zwischen selbstgeschaffenen Skulpturen gelegentlich mit Friedrich Gulda experimentiere. Im Haupthaus gäbe es zwei junge Maler und Fotografen und dazwischen die weltbekannte Schöne, Veruschka, die über das Modeln weit hinaus ihre eigene erstaunliche Bodyart verwirkliche. Und mit im Haupthaus wohne auch ihre Mutter, die Gräfin von Lehndorff, mit ihrem Lebensgefährten Fritz, einem ehemaligen Mathematiklehrer, der ganz auf Heideggers Existenzialismus abgefahren philosophisch ambitionierte Erlebniscamps ausrichte.“
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Ulla Lachauer
Es waren die Jahre nach der Studentenrevolte. Hanna Schygulla war damals dreißig, am Anfang ihrer großen Karriere als Schauspielerin. Nach einigen Filmen unter der Regie von Rainer Werner Fassbinder suchte sie Ruhe auf dem Land. Die Künstlerkolonie im alten Pfarrhof bei Peterskirchen, östlich von München, schien der geeignete Ort dafür zu sein. Dort begegnete sie Gottliebe von Lehndorff - vom ersten Augenblick an mochten die beiden einander.
 
Hanna Schygulla liest
„Ebendiese Gräfin von Lehndorff ist es, die mir die Tür öffnet. Als ich, aus der Autoradiokassette die Pink Floyds mit ihrem ‚all in all…it’ s just another brick in the wall‘ noch im Ohr, in den wunderbar halbwilden Innenhof hineingefahren war.“
‚Ich bin die Gottliebe‘, sagt sie. Das Wort Gräfin und auch das ‚von‘ hatte sie weggelassen.“
Dieser Name, den ich bisher noch nie gehört habe, weckt in mir den ersten Gedanken, ob sie wohl einen Gott habe, den sie liebt oder der sie liebt?“
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Ulla Lachauer
Diesen Augenblick im Jahr 1973 hat Hanna Schygulla später in einem kleinen, poetischen Text beschrieben. Er trägt den Titel „Meine Freundin Gottliebe“.
 
Hanna Schygulla liest
„Noch während ich zum ersten Mal in dieses offene Gesicht schaue voll leiser Melancholie und Spuren preußischer Festigkeit, die sich im Nu wie unterm Weichzeichner auflöst, als sie mir ihr schönstes Lächeln schenkt, das mich während der darauffolgenden dreizehn Jahre noch oft bezaubern wird und es mir und allen anderen auf dem Pfarrhof ziemlich leicht macht, diese Gottliebe so ganz menschlich nah eben einfach zu lieben.“
Ulla Lachauer
Dieser Text, den Hanna Schygulla 2010 in ihrer Wahlheimat Paris schrieb, ist auch schon wieder Vergangenheit. Unser Gespräch2   findet in ihrer Berliner Wohnung statt, kurz nach dem russischen Überfall auf die
Ukraine
ukr. Ukrajina, eng. Ukraine

Die Ukraine ist ein von ungefähr 42 Millionen Menschen bewohntes Land im östlichen Europa. Kiew ist die Hauptstadt und zugleich größte Stadt der Ukraine. Das Land ist seit 1991 unabhängig. Der Dnieper ist der längste Fluss der Ukraine.

. Die Künstlerkolonie Peterskirchen und die wilde Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs liegen jetzt ein halbes Jahrhundert zurück.
 
Hanna Schygulla
„Zu der Zeit hat man noch nicht gedacht, dass die Welt wirklich so kurz vor dem Aus steht, also bis am Rande ihrer selbsterzeugten Katastrophe. Ja, jetzt auch noch ein Krieg zu allem Überfluss dazu. Ein zweiter Hitler ist da geradezu auferstanden, russischer Prägung.“
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Ulla Lachauer
Die nationalsozialistischen Schrecken hat Hanna Schygulla als kleines Mädchen noch erlebt, als sie mit ihrer Mutter 1945 aus
Oberschlesien
eng. Upper Silesia, pol. Górny Śląsk

Oberschlesien (polnisch Górny Śląsk, tschechisch Horní Slezsko) ist der südöstliche Teil Schlesiens im heutigen Polen und Tschechien. Die Region liegt an der Oder und einem Teil des östlichen Sudetengebirges. Als historische Hauptstadt Oberschlesiens gilt Oppeln (poln. Opole).

flüchtete.3  In Gottliebe von Lehndorff lernte sie eine Zeitzeugin kennen, die im Widerstand gegen Hitler alles auf Spiel gesetzt hatte.
 
Hanna Schygulla
„Die Zeit, die ich auf dem Pfarrhof verbracht habe, war etwa dreizehn Jahre, naja, da wird sie damals 65 oder 63 gewesen sein. Also dreißig Jahre Unterschied zwischen uns, sogar nen bisschen mehr. Aber sie war immer einerseits so offen, und andererseits war sie in gewissen Schichten unerreichbar. Sie war ja auch eine tragische Verwicklung in die Zeitgeschichte. Heldenhaft, tragisch und sicher auch mit Schuldgefühlen beladen.“
 
Ulla Lachauer
Die junge Schauspielerin hatte ein Gespür für diese Tragik. Von Gottliebes Verwicklung in die Vorbereitungen des Attentats auf Hitler wusste Hanna Schygulla anfangs nicht viel. Nur dass ihr Ehemann, Heinrich Graf von Lehndorff, 1944 als Verschwörer hingerichtet wurde. Und das Schloss in Masuren, wo die Grafenfamilie früher lebte, Steinort hieß. Im großen Wohnzimmer des Pfarrhofs hing ein riesiger Gobelin - eines der letzten Relikte aus der verlorenen Heimat.
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Ulla Lachauer
Im Pfarrhof Peterskirchen lebte man hier und jetzt. Gottliebe Lehndorff hatte ihn in den 60er Jahren gekauft – für sich und ihren Lebensgefährten, den Aktionskünstler Fritz Schranz. Seine Kurse über Platon, Nietzsche oder Heidegger und philosophischen Erlebniscamps waren weithin bekannt.
 
Hanna Schygulla
„Der Fritz Schranz, der wurde von uns als totales Original natürlich auch betrachtet. Er war ja derjenige, der das damals auch ausgebaut hat, zusammen mit anderen noch. Er sah sehr seltsam aus… Der sah nicht sehr deutsch aus, der Fritz. Dunkel war der, sehr dunkel. Krauses Haar, sieht man selten in Bayern, und hatte es zu einem Mozartzopf zusammengebunden. Er hatte seine Schreibkapelle hinten. Der Pfarrhof war ja mal ein kirchlicher Ort. Und da hat er sich regelmäßig wie zu Exerzitien zurückgezogen und geschrieben. Er war wohl auch nen Messdienerkind und so was. Also hat er auch gerne von dem Ritual der Messe dann in seinen Camps irgendwie durch die Hintertür wieder reingebracht.“
 
Ulla Lachauer
„Jeder Mensch ist ein Philosoph und Priester“ war sein Credo. Fritz Schranz inspirierte die damalige Kulturszene: der Pianist Friedrich Gulda und der Theaterregisseur Peter Zadek kamen zu Besuch, der Dichter Thomas Bernhard, die Schauspielerin Ingrid Caven, das berühmte Paar Uschi Obermeier und Rainer Langhans aus der Kommune 1 in Berlin. Rainer Werner Fassbinder ging in Peterskirchen ein und aus.
Eine intensive Zeit des Suchens und Ausprobierens. Die Lust auf Neues verband auch so unterschiedliche Frauen wie Hanna Schygulla und Gottliebe von Lehndorff.
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Hanna Schygulla
„Das hat uns ganz bestimmt verbunden. Weil ich immer schon gerne aufgebrochen bin zu neuen Ufern sozusagen. Und ja auch ganz am Anfang einer neuen Bewegung im deutschen Film war, und eben dieses Vorurteilsfreie, es anders machen, das war für mich mein Einstieg ins Berufsleben. Also diese Dinge, das war ihr schon, weil sie hatte ja auch an ihrer Seite einen experimentierfreudigen Lebensgefährten. Der übrigens ganz aus der anderen Schicht kam. Sie war ja Aristokratin, und Fritz Schranz kam aus dem Proletariat. Und ich kam so halb aus dem Proletariat väterlicherseits, und mütterlicherseits schon etwas aufstrebendes Kleinbürgertum.“
 
Ulla Lachauer
Klassenschranken sollten keine Rolle mehr spielen. Im Reich der Phantasie waren alle gleich. Und der alte Pfarrhof mit dem verwilderten Garten war so geräumig, dass alle Platz für ihre Künste und individuellen Bedürfnisse hatten. Hanna Schygulla führte ein „Zugvogelleben“, wie sie sagt. In diesen Jahren explodierte ihre Karriere geradezu. Mit Fassbinder drehte sie „Effi Briest“, „Die Ehe der Maria Braun“, „Lilli Marleen“, sie stand unter der Regie von George Tabori auf der Bühne. Und immer kehrte sie in die ländliche Oase Peterskirchen zurück.
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Hanna Schygulla liest
„Es werden ganze dreizehn Jahre glücklicher Nachbarschaft unter uns Einzelgängern auf dem Pfarrhof, die wir nur über den Flur zu gehen brauchten, um schon beim anderen im Haus zu sein, und auch die Gräfin gehörte ganz mit dazu. Sie war zwar die sehr viel Ältere, aber es gab bei ihr nicht die üblichen Grenzen und Vorurteile der vorherigen Generation. Sie hatte die Bereitschaft fürs Neue derjenigen, die entwurzelt sind.“
 
Ulla Lachauer
Die Erfahrung der Entwurzlung teilten Hanna Schygulla und Gottliebe von Lehndorff. Gesprochen haben die beiden darüber kaum. Die Schauspielerin war damals noch sehr jung. Das Flüchtlingskind, das sie war, hatte sie hinter sich gelassen.4 
 
Hanna Schygulla
„Ich hab ja auch manche Dinge nie erzählt, wie zum Beispiel, dass ich mit meiner Mutter noch immerhin auf einen der letzten Züge draufkam, und alles, was mir meine Mutter über diese Zeit erzählt hat, dass in dem Zug schon Russen waren, ein betrunkener Russe ins Abteil gekommen ist und gesagt hat, ich schmeiß sie aus den Fenstern raus, die Nazi-Brut. Ich war ja Nazi-Brut. Ich hab dann plötzlich Polnisch geredet, obwohl ich nur ein paar Brocken konnte. ‚Bendzemi jest?‘ ‚Gibt’s was zum Essen?‘ Und dann hat der Russe gedacht, naja, das ist nen Polenkind und ist weitergegangen.“
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Ulla Lachauer
Weder Hanna noch ihre Freundin Gottliebe erzählten von ihren traumatischen Erfahrungen. Als gemeinsam empfanden sie wohl, dass sie aus einer Welt kamen, zu der das Polnische gehörte – in Oberschlesien ganz ähnlich wie in Masuren.
 
Hanna Schygulla
„Wir waren eher so Wahlverwandte in gewisser Hinsicht, aber jetzt nicht Mutter-Tochter, sondern ich glaub, ich hab sie in manchem an diese polnischen Leute erinnert, mit denen sie viel Kontakt hatte. Und da hat sie eben immer gesagt, sie hatte in
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

die Polen so gern. Die seien so herzliche Leute gewesen. Das hat sie öfter immer wieder erzählt.“
 
Ulla Lachauer
Hanna Schygullas Gesicht weckte bei Gottliebe Erinnerungen an die polnischen Landarbeiter und Instleute auf Gut Steinort. Die Nähe zu ihnen war Gottliebe im Gedächtnis geblieben, auch ihr Ehemann Heinrich habe sie gemocht und gelebt, „Heini“, wie sie ihn in Gesprächen mit vertrauten Menschen immer noch nannte.
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Hanna Schygulla
„Das war so noch, wie soll man sagen, die Gutsherrschaft mit menschlichem Antlitz. Das war nicht so ein ausbeuterisches Verhältnis, wir sind die Herren hier, und ihr habt uns zu dienen. Der war ja auch sehr naturverbunden, der Heini. Ich hab ihn ja nie gekannt. Aber was sie so erzählt hat, er kannte alles in der Natur, und er liebte das auch.“
 
Ulla Lachauer
Von ihrer Ehe sprach Gottliebe eher wenig. Doch sie erzählte gern von ihrer ersten großen Liebe. Zu einem älteren Mann namens Bogislav Krahmer, einem Tierarzt, dem sie als siebzehnjährige Gymnasiastin ihr Herz schenkte. Damals in Dresden, als sie noch Gottliebe Gräfin von Kalnein hieß. An den liebestrunkenen gemeinsamen Sommer 1931 erinnerte sie sich oft – eine glückliche, prägende Zeit. Sie endete jäh, weil Gottliebes Eltern die Beziehung unterbanden. In ihren Augen war sie nicht standesgemäß, und: Bogislav Krahmer war Jude.
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Hanna Schygulla
„Sie wurde ja gewaltsam getrennt von ihrem Liebhaber. Also das ist, glaube ich, ein Schlüssel dazu, warum sie so leidenschaftlich sich gegen Hitler aufgelehnt hat. Und vielleicht sogar den, denke ich mal, den Heini auch darin beflügelt hat. Ich glaube, wenn Gottliebe nicht getrennt worden wäre von ihrer ersten Lieben, hätte sie vielleicht auch gar nicht so. Ich glaube fast, dass sie eine treibende Kraft war. Aber das ist Glauben. Weil Gottliebe konnte schon großen Einfluss ausüben, sie hatte Charisma, wie man immer sagt.“
 
Ulla Lachauer
Die Verfolgung und Vernichtung der Juden traf sie persönlich, vermutet Hanna Schygulla. Außerdem war Gottliebe eher eine rebellische Natur, anders als ihr in sich ruhender, fröhlicher Heinrich. Vielleicht war sie es ja, die voranging, zum Widerstand drängte?
 
Hanna Schygulla
„Und das kann aber eben auch sein, dass ihr das nachher sehr zu schaffen gemacht hat, dass sie sich sagt: ‚Mein Gott, was haben wir nur damit angerichtet. Ich meine, gelungen ist das Attentat nicht. Heini ist erhängt worden, ich war von den Kindern getrennt. All das.‘“
 
Hanna Schygulla
„Deshalb hat sie wahrscheinlich viel von Schicksal gesprochen. Und dann kam der Fritz und hat ihr gesagt, hör mal: Schicksal ist ein Begriff, der nicht kreativ ist. Wahrscheinlich irgendwie so wird er es gesagt haben. Begreif dich doch mal als Summe dessen, der Umstände und dessen, was du draus gemacht hast und deiner Möglichkeiten genützt oder ungenützt der Entwicklung.“
 
Ulla Lachauer
Kreativ sein als Therapie, sich von Vergangenem lösen, frei werden. Vielleicht war es das, was Gottliebe in Peterskirchen suchte?
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Hanna Schygulla
„Ihre eigentliche Seele, wenn man das Wort noch so altmodisch in den Mund nehmen will, die wollte schon immer die Flügel weiterspannen.
 
Hanna Schygulla
„Sie hat sehr viel in der Zeit die Nocturnes von Schubert gespielt. Bam, Bam Bampadam, also diese ganz, tamtadati, tidadi, tiptadidadidada, pam, bam, bampadam. Die sind ja sehr melancholisch auch, die Nocturnes von Schubert.“
 
Ulla Lachauer
In gewissen Momenten schien Gottliebe der alte Pfarrhof aus dem 18. Jahrhundert Schloss Steinort ähnlich – imposant, würdevoll, kultiviert.
 
Hanna Schygulla
„Und es gab da auch eine Bibliothek, wie es sich das gehört für einen herrschaftlichen und kulturellen Haushalt. Da standen sehr viel Bücher rum. Gottliebe war jetzt nicht so eine, die in der Kultur ihre Rettung gesucht hätte oder in der Intellektualität. Die war dann mehr, bei ihr ging’s mehr um Sein oder Nichtsein. Also, es gab Momente, da war sie einfach nicht da. Und dann war sie immer froh, wenn sie zurückkam ins Jetzt.“
 
Ulla Lachauer
In einer kleinen privaten Filmsequenz aus den 70er Jahren sieht man die Freundinnen Gottliebe und Hanna Rücken an Rücken. Sie wenden sich einander zu, mal in die Kamera. Im Spiel zeigt Gottliebe ihre verschiedenen Gesichter, ihre rasch wechselnden Stimmungen.
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Hanna Schygulla
„So sah Gottliebe aus, wenn sie ein bisschen versteinert war. Aber sie hat dann trotzdem mitgemacht, und hier löst sich das dann auf in dieses, was mich immer so bezaubert hat, ihr Lachen. Da ist sie dann ganz, da wurde sie dann ganz weich, und es kam eben dieser Charme, der immer sprichwörtlich war von ihr.“
 
Ulla Lachauer
In dem filmischen Dokument ist auch Fritz Schranz5  verewigt, der Lebensgefährte Gottliebes. Deutlich jünger als sie, wie ein großes Kind wirkt er, voller Tatendrang, unablässig in Bewegung.
 
Hanna Schygulla
“War irgendwie nen Original, der Fritz. Er hatte eben auch so eine kindliche Seite, die sie wahrscheinlich auch gerührt hat und hat Gottliebe total verehrt. Also das war für ihn die ‚hohe Frau‘, und das hat ihr sicher auch gefallen. Und gleichzeitig hat er sie belehrt. Ob sie da so glücklich war damit, weiß ich nicht. Also ich glaube nicht, dass ihr dieses zu Kopfige wirklich gutgetan hat.“
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Hanna Schygulla
„Der hat sie wahrscheinlich mehr geliebt als sie ihn, denke ich. Sie war ihm zugetan, ganz bestimmt, aber sie hat auch sehr unter ihm gelitten. Er war ihr eigentlich nicht sehr bekömmlich. Er war einfach too much. Er war so ein Feuerkopf und so ein Besessener. Sie hätte wahrscheinlich eher einen sachteren Gang gehabt, einen behutsameren.“
 
Ulla Lachauer
Mehr als ein Vierteljahrhundert dauerte die Beziehung der beiden, verglichen mit den sieben Jahren, die Gottliebe mit Heinrich von Lehndorff verbrachte, eine lange Zeit. Nirgends war sie länger als in Peterskirchen, der Pfarrhof war bis zu ihrem Tod, 1993, Lebensmittelpunkt. Auch eine ihrer vier Töchter lebte zeitweise dort, Vera, weltweit berühmt als „Veruschka“.
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Hanna Schygulla
„Die Gottliebe war in diesem Sinne nie so eine Mutter, so wie man sich eine Mutter vorstellt, so ein Hort des ‚Kommt zu mir, ihr Kleinen. Bei mir seid ihr Zuhause.‘ Sondern die Gottliebe war ja auch so viel getrennt von den Kindern. Das war zum Teil vielleicht so ein unbestellter Garten, das mit den Kindern. Vera, die war dann viel dort, weil die ihr wahrscheinlich durch das Künstlerische am nächsten war.“
 
Ulla Lachauer
Nach ihrer Weltkarriere als Model hatte sich Vera von Lehndorff weitgehend zurückgezogen und widmete sich eigenen Projekten. Sie und ihr Lebensfreund Holger Trülzsch waren Pioniere der „bodyart“, entwickelten einzigartige, expressive Körper-Bemalungen.6  Viele entstanden im alten Pfarrhof Peterskirchen.
 
Hanna Schygulla
„Gottliebe hat natürlich ne besondere Beziehung zu Vera gehabt. Aber wer hätte das nicht in der Familie, weil die ja so sichtbar war. Und Vera eben auch so ganz eigene Wege ging. Und sie hat immer gehofft, dass Vera aus diesen periodischen Depressionen herauskommt. Und sie selber wusste ja auch, was das ist. Sie hat Vera immer als sehr gefährdeten Menschen gesehen.“
 
Ulla Lachauer
Vera von Lehndorff selbst hat über ihre Depressionen einige Male öffentlich gesprochen. Von der Hinrichtung des geliebten Vaters traumatisiert, war sie zeitlebens belastet, diese seelischen Nöte waren zugleich Quelle ihrer Kunst.
Auch Hanna Schygulla fand im Pfarrhof Peterskirchen Raum für ihre eigene Kreativität. 1979 realisierte sie dort einige experimentelle Kurzfilme, vor der Videokamera inszenierte sie Träume, die sie nach dem Aufwachen notiert hatte.7  „Traumprotokolle“ - auch ihre Freundin Gottliebe war fasziniert von der Idee.
 
Hanna Schygulla
„Ja, wir haben auch einmal, einen Traum haben wir zusammen inszeniert Was war das denn noch? Wir haben dann nachher so gelacht, es war immer auch mit viel Lachen verbunden. Das hab ich eben so gemeint, sie war auch für allerlei Phantasiespiele zu haben, das hat sie immer interessiert.“
Text
Ulla Lachauer
Gottliebe von Lehndorff hat ihrerseits Träume aufgeschrieben und gemalt, einige ihrer intimen „Traumprotokolle“ liegen – noch ungesichtet – im Depot des Ostpreußischen Landesmuseums in Lüneburg. „Wach auf und träume“ nannte Hanna Schygulla ihre Autobiografie. So wollte sie leben, das wollte sie als Schauspielerin vermitteln.
 
Hanna Schygulla
„Das Intimste ist ja immer das Wertvollste – und Interessanteste. Und das ist es auch, was uns alle verbindet. Nicht die Etikette, die äußere Existenz.“
 
Ulla Lachauer
In diesem Sinne waren die beiden Frauen verbunden. Eine stille Zuneigung in einem Milieu und einer Zeit, wo das Private als politisch galt.
 
Hanna Schygulla
„Ich denke an Peterskirchen mit einer gewissen, ja wie man so sagt, mit einer gewissen Wehmut zurück. War doch eigentlich so schön, die Zeit.“
 
Ulla Lachauer
Es sind die langen zweisamen Spaziergänge, an die sich Hanna Schygulla besonders gern erinnert.
 
Hanna Schygulla liest
“Durch die vom ersten Waldsterben schon filigran ausgedünnten Wälder oder im Tal des Ur, der nur im Frühjahr als kleiner Fluss sichtbar wurde, oder auf dem Weg zum Bauern, um dort Milch und Eier zu holen… oder zum Steg von einem der kleinen Moränenseen, und sich da niederlassen und Natur pur einatmen.“
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Hanna Schygulla
„Jetzt steht das Bild, das ich von Gottliebe am Steg gemacht habe an einem der vergoldeten Tage auf meinem Totentisch, in Gesellschaft all der anderen ‚Vorausgegangenen‘, die mein Leben bereichert haben und die ich nicht vergessen möchte.“