Steinort ist ein europäischer Erinnerungsort, denn hier kreuzen, verflechten und überschreiben sich verschiedenste Geschichten und Erinnerungen. Das Interviewprojekt von Ulla Lachauer und Agata Kern geht diesen vielfältigen subjektiven Erinnerungssträngen nach und legt unterschiedliche Erinnerungskulturen frei.
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Das ganze östliche Europa ist eine Art Pompeji. Dieses Pompeji fasziniert nicht nur jene, die ihre Heimat verloren haben, sondern jene, die sie neu gewonnen haben und sie sich aneignen.1

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Unzählige Herrenhäuser im östlichen Europa teilen eine ähnliche Geschichte. Einst waren es Sitze alteingesessener, vielfach deutscher Adelsfamilien, heute sind oder werden viele von ihnen aufwendig restauriert, andere wiederum sind verfallen und zeugen nur noch als Ruinen von ihrer wechselvollen Geschichte. Sie alle, ob restauriert oder verfallen, sind Teil einer „Topographie des Verlustes“ im östlichen Europa, Zeugen von Flucht und Vertreibung, Zeugen von Hunger, Deportationen, Zerstörung und Vernichtung. Sie sind Zeugen einer Geschichte, die das östliche Europa zum Schauplatz von Krieg und Massenvernichtung gemacht hat. Zugleich legen sie Zeugnis ab von der Aneignung, dem Wiederaufbau, der Inbesitznahme durch Menschen, die ihrerseits vertrieben worden sind etwa aus den ehemals polnischen Ostgebieten, aus
Lwiw
deu. Lemberg, pol. Lwów, eng. Lviv, rus. Lwow, rus. Львов, yid. Lemberg, yid. לעמבערג, ukr. Львів, ukr. L'viv

Lwiw (deutsch Lemberg, ukrainisch Львів, polnisch Lwów) ist eine Stadt in der Westukraine in der gleichnamigen Oblast. Mit knapp 730.000 Einwohner:innen (2015) ist Lwiw eine der größten Städte der Ukraine. Die Stadt gehörte lange zu Polen und Österreich-Ungarn.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.

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Brest
pol. Brześć, lit. Brestas, bel. Брэст, pol. Brześć nad Bugiem, bel. Берасьце, eng. Brest-Litovsk, eng. Brest-on-the-Bug, pol. Brześć Litewski

Brest ist eine Großstadt im Südwesten von Belarus. Die Stadt liegt unmittelbar an der Grenze zu Polen am Fluss Bug. Die Stadt gehörte lange Zeit zu Polen und ist heutzutage Hauptstadt des Woblasz Brest.

oder
Vilnius
deu. Wilna, rus. Вильнюс, rus. Wilnjus, yid. ווילנע, yid. Wilne, bel. Вільня, bel. Wilnja, pol. Wilno

Vilnius ist die Hauptstadt und bevölkerungsreichste Stadt Litauens. Sie liegt im südöstlichen Teil des Landes an der Mündung der namengebenden Vilnia (auch Vilnelė) in die Neris. Wahrscheinlich bereits in der Steinzeit besiedelt, datiert die erste schriftliche Erwähnung auf 1323; Magdeburger Stadtrecht erhielt Vilnius 1387. Von 1569 bis 1795 war Vilnius Hauptstadt des litauischen Großfürstentums in der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Mit der dritten Teilung von Polen-Litauen verlor sie im Russischen Zarenreich diese Funktion. Erst durch die Gründung der Ersten Litauischen Republik 1918 wurde Vilnius kurzzeitig erneut Hauptstadt. Zwischen 1922 und 1940 gehörte Vilnius zur Republik Polen, weshalb Kaunas zur Hauptstadt Litauens ausgebaut wurde. Nach dem zweiten Weltkrieg war Vilnius bis zur Wiedererlangung der Unabhängigkeit Litauens 1990 Hauptstadt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik.

Bereits im Mittelalter galt Vilnius als Zentrum der Toleranz. Insbesondere Juden fanden in Vilnius Zuflucht vor Verfolgung, so dass sich Vilnius bald als "Jerusalem des Nordens" einen Namen machte. Nicht zuletzt mit dem Goan von Wilna, Elijah Ben Salomon Salman (1720-1797), war Vilnius eines der bedeutendsten Zentren jüdischer Bildung und Kultur. Bis zur Jahrhundertwende war die größte Bevölkerungsgruppe die jüdische, während laut der ersten Volkszählung im russischen Zarenreich 1897 lediglich 2% der litauischen Bevölkerungsgruppe angehörten. Ab dem 16. Jahrhundert entstanden zahlreiche barocke Kirchen, die der Stadt auch den Beinamen "Rom des Ostens" eintrugen und die bis heute das Stadtbild prägen, während die zahlreichen Synagogen der Stadt im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden. Zwischen 1941 und 1944 unterstand die Stadt dem sog. Reichskommissariat Ostland. In dieser Zeit wurde fast die gesamte jüdische Bevölkerung ermordet, nur wenige konnten fliehen.

Auch heute noch zeugt die Stadt von einer "phantastische[n] Verschmelzung von Sprachen, Religionen und nationalen Traditionen" (Tomas Venclova) und pflegt ihre vielkulturelle Geschichte und Gegenwart.

. Steinort gehört in herausragender Weise zu dieser „Topographie des Verlustes“, wie sie Karl Schlögel 2000 beschrieben hat, die in den Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg mit neuem Leben überschrieben worden ist:
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„Die historischen Landschaften, die alte und die neue, übereinandergelagert und ineinandergespiegelt, entfalten nun einen doppelten Reichtum. Die alten Übergangslandschaften in ihren komplizierten und oft tödlichen Gemengelagen werden sichtbar. Fast überall bekommen wir nicht nur eine Geschichte, sondern mindestens zwei zu sehen, wenn wir nur aufmerksam genug sind. Alles gibt es doppelt und dreifach: das
Riesengebirge
ces. Krkonoše, pol. Karkonosze

Das Riesengebirge ist eine Gebirgskette im polnischen und tschechischen Teil Schlesiens. Der höchste Gipfel des Riesengebirges ist mit 1603 Metern die Schneppe (Polnisch: Śnieżka, Tschechisch: Sněžka).

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Gdańsk
deu. Danzig

Danzig ist eine Großstadt an der Ostsee in der polnischen Woiwodschaft Pommern (Pomorskie) mit ca. 470.000 Einwohner:innen. Sie liegt am Fluss Motława (dt. Mottlau) an der Danziger Bucht.

Historische Orte
Danzig
 
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Kaliningrad
deu. Königsberg, rus. Калинингра́д

Kaliningrad ist eine Stadt im heutigen Russland. Sie liegt im Oblast Kaliningrad, einer russischen Exklave zwischen Litauen und Polen. Kaliningrad, ehemals Königsberg, gehörte über mehrere Jahrhunderte zu Preußen und war dessen nordöstlichste Großstadt.

, die Masuren,
Praha
deu. Prag, eng. Prague, lat. Praga

Prag ist die Hauptstadt Tschechiens und wird von ungefähr 1,3 Millionen Menschen bewohnt, was sie auch zur bevölkerungsreichsten Stadt des Landes macht. Sie liegt am Fluß Moldau in der Mitte des Landes im historischen Landesteil Böhmen.

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Brno
deu. Brünn

Die im Südosten der Tschechischen Republik gelegene Stadt Brünn (tsch. Brno) ist mit ca. 380.000 Einwohnern nach Prag die zweitgrößte Stadt des Landes. Sie löste 1641 Olmütz (tsch. Olomouc) als Hauptstadt Mährens ab. Heute ist Brünn/Brno Verwaltungssitz der Südmährischen Region (Jihomoravský kraj) und ein wichtiges Industrie-, Handels- und Kulturzentrum. Die Universitätsstadt ist Sitz des Verfassungsgerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts Tschechiens.

, das
Baltikum
eng. Baltics, lat. Balticum, deu. Baltische Staaten, deu. Baltische Provinzen

Das Baltikum ist eine Region im Nordosten Europas und setzt sich aus den drei Staaten Estland, Lettland und Litauen zusammen. Das Baltikum wird von knapp 6 Millionen Menschen bewohnt.

. Die Schichten, die wieder sichtbar gemacht werden, machen sie zu den kulturell reichsten Depots, über die Europa verfügt.“2
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Das von Ulla Lachauer und Agata Kern initiierte und durchgeführte Interviewprojekt rund um
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

macht genau diese „Gemengelage“ sichtbar, das Verschränktsein und Ineinandergreifen der verschiedenen Geschichten. Da ist zum einen die Erinnerung an Heinrich Graf von Lehndorff und seine Familie, die nicht selten eine wehmütige und verklärende ist. Mit Heinrich Graf von Lehndorff, der am Attentat vom 20. Juli 1944 beteiligt war und am 4. September 1944 in Plötzensee in Berlin hingerichtet worden ist, hat sich Steinort nicht nur in die Topographie des Verlustes, sondern auch in die Karte der deutschen Widerstandsgeschichte eingeschrieben. Die Geschichte des Widerstandskämpfers überdeckt jedoch auch die Ambivalenzen einer deutschen Adelsfamilie, wie Hans-Jürgen Bömelburg in seinem Beitrag herausarbeitet. Sie hat ihren Anteil an einem nur allzu leicht entstehenden idealisierten, fast schwärmerischen Blick auf die Geschichte eines ostpreußischen Großgrundbesitzes mit Schloss und Parkanlagen, der unter dem Vorbesitzer Carl Meinhard (Carol) Graf von Lehndorff bis 1936 in Wirklichkeit heruntergewirtschaftet und erst durch Heinrich Graf von Lehndorff wieder instandgesetzt worden war.3
In den nachfolgenden Beiträgen wird sowohl mit Distanz als auch mit Nostalgie auf das Gestern und Heute der Welt der Lehndorffs und auf Steinort geschaut. Persönlich und liebevoll werden Biografien aus drei Generationen erzählt. Die Interviews etwa mit Hanna Schygulla, den Lehndorff-Schwestern oder auch mit Hans-Eckardt Wenzel sind ein wichtiges Zeugnis dieser Form des Erinnerns, Mit-Erlebens und Nachlebens, werden selbst wiederum zu Zeugnissen und Quellen der Erinnerungskultur der Nachkriegszeit.
 
Zum zweiten sind es Erinnerungen an die spätere, an die Nachkriegsgeschichte des Steinort-Anwesens, die etwa den Kindergarten in Schloss Steinort in den Blick nehmen und vor allem das Ankommen und die Integration der polnischen Bevölkerung nach 1945 thematisieren. Wenn Maria Zarębska von Lehndorff spricht, der auch in den Nachkriegsjahren in Erzählungen präsent war, steht nicht der Widerstandskämpfer im Vordergrund, sondern die hegemoniale Rolle der Adelsfamilie und ihres damaligen Oberhauptes: „Er war ein Graf, hieß es, sehr reich, und ihm gehörten viele Menschen.“
 
Die dritte Steinort-Geschichte ist wohl die des Wiederaufbaus seit der Jahrtausendwende. Es ist die Geschichte von Enthusiasten wie Bettina Bouresh, Wolfram Jäger, Hannah Wadle oder auch Marek Makowski und Piotr Wagner. Sicherlich spielt auch hier ein romantischer Blick eine Rolle, doch überwiegt der Wunsch, Steinort zu einem Begegnungsort zwischen Deutschen und Polen auszubauen, zu einem Begegnungsort mit den vielfältigen Geschichten des Ortes.
 
Das Interview-Projekt macht diese Schichten der Steinort-Geschichte sinnfällig. Hoffentlich trägt es dazu bei, Steinort zu einem lebendigen Ort des Austauschs und der Begegnung mit europäischer Geschichte und Geschichten in all seiner Komplexität werden zu lassen. Nicht zuletzt steht zu hoffen, dass Steinort tatsächlich zu einem europäischen Erinnerungsort mit hoher Identitätsrelevanz für verschiedene europäische Gesellschaften werden wird.4 

Siehe auch