Das ostpreußische Adelsgeschlecht Lehndorff lässt sich bis ins 13. Jahrhundert zurückverfolgen. Seine Geschichte und Erinnerungskultur sind beispielhaft für viele andere Adelsgeschlechter im östlichen Europa. Unser Autor Hans-Jürgen Bömelburg erläutert die Rolle des adeligen Erinnerns und plädiert für eine neue Annäherung an Regionalgeschichte.
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Adel als eine auf Dauer angelegte Elite bemüht sich seit Jahrhunderten um ein Oben-Bleiben in historischen und aktuellen Gesellschaften. Dabei spielt die Pflege der Memoria, einer angemessenen Erinnerung, eine zentrale Rolle. Alle großen Adelsfamilien haben die eigene Erinnerung, herausragende Taten und zu gedenkende Ereignisse aufgeschrieben, dabei natürlich auch weniger ehrenvolle Episoden diskret unter den Tisch fallen lassen und aus dem Gedächtnis getilgt. Herausragende Einzelne dienen als Belege für die Hochwertigkeit des gesamten Adels. Alles Erinnern bedeutet Auswählen, adliges Erinnern zeichnet zumeist nur eine besondere Virtuosität aus.
 
Also nicht-erinnern, vergessen? Das ist aus mehreren Gründen nicht praktizierbar. Ländliches, agrarisches Erinnern gerade in den Gutsgesellschaften des östlichen Europa kreist vielfach um die adligen Patrone. In älteren Epochen sind häufig nur adlige Erinnerungen oder Texte von Bediensteten wie Hofmeistern und Sekretären erhalten. Verzichtete man auf diese Texte, bliebe buchstäblich oft nichts übrig. Ziel kann es deshalb nur sein, diese Erinnerung in ihren Begrenzungen zu erkennen und sorgfältig gegen den Strich zu lesen.
 
Die Lehndorffs sind dabei ein für den ostpreußischen Adel herausragendes Beispiel, denn sie verkörpern Grundzüge adliger Erinnerungstradition, nämlich Alteingesessenheit, eine dem Stand angemessene agrarische Tradition (Pferdezucht!), militärische Lebenswelten, aber auch ein über Jahrhunderte immer wieder nachweisbares literarisches Schaffen. Schließlich stehen sie für eine gewisse adlige Widerständigkeit, die in bestimmten Situationen Monarchen und der Obrigkeit die Stirn bot. Möglich wäre es, eine Geschichte des ländlichen östlichen Preußens seit dem 16. Jahrhundert auf der Basis der Geschichte des Adelsgeschlechts zu schreiben. Hans von Lehndorff (1910-1987) hat dies eher essayistisch in seinen Erinnerungen versucht.
 
Was wissen wir über die Lehndorffs? Selten und für die preußische Traditionsstiftung wichtig ist, dass die Familie, soweit die Erinnerung zurückreichte, in Preußen ansässig war. Sie führte sich selbst, wie die Kalneins Kalneins Das Adelsgeschlecht der Kalneins war insbesondere durch zwei Heiraten eng mit dem der Lehndorffs verbunden. 1855 hatte Georg Graf von Lehndorff (1833-1914) Clara Gräfin von Kalnein geheiratet. 1937 heiratete Heinrich von Lehndorff Gottliebe von Kalnein. , auf prußische Vorfahren zurück, was den Namensträgern gerade im geschichtsversessenen 19. Jahrhundert, in dem zugleich ein Preußen-Kult en vogue war, ein besonderes Renommee gab. Leider sind durch die Zerstörung der Familienarchive Materialien zerstreut, was aber zugleich eine Mythologisierung erleichtert. Aktuelle Digitalisierungsprojekte geben erste Einblicke.1
Die Steinorter Lehndorffs sind seit dem 16. Jahrhundert in der Region ansässig, als die Familie größeren Lehnsbesitz in der damals noch schwach besiedelten „Steinorter Wildnis mit dem See Wargapiwa“2 erhielt. Ihr Aufstieg verläuft parallel zu anderen Familien wie den Dohnas oder Dönhoffs und stützt sich auf große Verschreibungen von ehemaligen Gütern des Deutschen Ordens, die nun säkularisiert wurden. Dies gab den Familien Einkünfte zu Lasten der abhängigen Bauern, die im 16. Jahrhundert im samländischen Bauernaufstand revoltiert hatten. In den Akten finden wir wiederholt Berichte über entlaufene Bauern, die sich anderswo, vor allem in Städten, ein neues Leben aufbauen wollten und teilweise mit Gewalt zurückgebracht wurden.
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Religiös erwies sich die Familie als anpassungsfähig: Zunächst zum Luthertum übergegangen, entwickelte die Familie um 1600 wie auch andere ostpreußische Herren eine Neigung zur rationaleren reformierten (calvinistischen) Tradition, die sie in die Nähe zum reformierten Hohenzollernhaus brachte. Zugleich aber, und dies wurde in der Familiengeschichte vergessen, konvertierten mehrere Familienmitglieder zum Katholizismus und bekleideten Ämter im Jesuitenorden. So war etwa Bogusław Albrecht (1655-1711) Superior der Jesuitenresidenzen in Tarnowitz und Deutsch-Piekar in Schlesien.
 
Solche konfessionelle Anpassungsfähigkeit war wichtig, denn sie beförderte Karrieren in verschiedene Richtungen: Gerhard Ahasverus von Lehndorff (1637-1688) besuchte die Jesuitenkollegien in Braunsberg und Thorn, war nach einer achtjährigen Bildungsreise Kammerherr beim polnischen König Johann Kasimir, dann preußischer Kämmerer und Oberst in niederländischen und dänischen Diensten. 1687 wurden er und seine Familie auf Fürsprache des (reformierten) Kurfürsten Georg Wilhelm vom (katholischen) Kaiser Leopold in den Reichsgrafenstand erhoben. Dieser Aufstieg sicherte der Familie, die zwar dem gegenüber dem allgemeinen preußischen Adel herausgehobenen Herrenstand angehört hatte, in der titel- und rangbewussten Adelswelt des 18. und 19. Jahrhunderts eine entsprechende Position.
 
Ernst Ahasverus (1727-1811), durch eine Behinderung zum Kriegsdienst unfähig, wurde auch aufgrund seines Titels Kammerherr von Friedrichs II. ungeliebter Gattin; seine in französischer Sprache verfassten umfangreichen Tagebücher, leider nur unzureichend in verkürzten deutschen Übersetzungen ediert, sind eine wichtige Quelle adligen Denkens des 18. Jahrhunderts. Lehndorff unterhielt breitere Beziehungen auch zum polnischen Adel, persönlich war er mit dem ermländischen Bischof und aufgeklärten Schriftsteller Ignacy Krasicki befreundet. Beide besuchten sich wiederholt, berichteten sich über ihren Alltag und ironisierten ihre wechselseitigen Zwänge gegenüber ihren Monarchen.
 
Gerade diese Offenheit insbesondere gegenüber dem polnischen Adel wurde allerdings nach den Teilungen Polen-Litauens kaum erinnert. Polen oder Litauer tauchen zwar in der Erinnerung häufig auf, aber durchweg paternalistisch als „treue Arbeiter“ oder exotische Teile der Gutsbelegschaft. Das setzt sich im 20. Jahrhundert nahtlos fort: Die polnischen, belarusischen oder ukrainischen Zwangsarbeiter des Zweiten Weltkriegs werden in der adligen Erinnerung bestenfalls als gutmütige Arbeitskräfte, in schlimmeren Fällen als brutale Gegner erinnert. Die Verkettung der Gewalt, die nicht selten von deutschen Militärs und Behörden ausgeht, wird nicht reflektiert.
 
Auch in der Familie Lehndorff werden im 19. Jahrhundert militärische Karrieren wichtiger. Ahasverus Heinrich (1829-1904) machte Karriere bis zum ordentlichen General. Er war an allen preußischen Kriegen des 19. Jahrhunderts beteiligt und wurde zum persönlichen Mitglied des preußischen Herrenhauses, der höheren Kammer des Landtags, ernannt. Für nachgeborene Söhne bot die Pferdezucht eine dem Adel angemessene Beschäftigung, inklusive Pferderennbahnen. Zu diskutieren wäre, ob dieses Milieu der Gestüte, Zuchtbücher und Rennbahnen, das von den Lehndorffs bis 1945 gepflegt wurde, eine spezifisch konservativ-agrarische Welt konservierte oder riskante Entscheidungen begünstigte. Wie eng waren die mentalen Verbindungen zu erzkonservativen und autokratischen Verwandten wie Elard von Oldenburg-Januschau, der öffentlich von den Sozialdemokraten als „Schweinebande“ sprach und dem Kaiser die Option geben wollte, „zu einem Leutnant zu sagen: Nehmen Sie zehn Mann und schließen Sie den Reichstag“?3
Oder bot der „Rücken der Pferde“ eigensinnige Freiheiten wie von Marion Gräfin Dönhoff immer wieder beschworen? Gottliebe von Lehndorff schien dieser Ansicht zu sein, als sie 1947 schrieb, „dass ich von einem poln[ischen] Freund von uns, einem Grafen Krachiki [Krasicki? H.-J.B.], gehört habe, dass Steinort poln[isch] staatl[iches] Gestüt geworden ist, wahrscheinlich für Araberpferde, und auch ein ganz vernünftiger Leiter dort sein soll. Wenn es wirklich stimmt, was ich nach dieser Nachricht von diesem Herrn annehme, ist es noch nicht das Schlechteste, da es wenigstens in seiner Ganzheit bestehen bleibt und nicht völlig zerschlagen wird. Es ist mir auch ein angenehmer Gedanke, dort edle Pferde zu wissen, besser als grauenhafte Menschen in Massen.“4  
 
Darunter litt ohne Frage die agrarische Basis der Familien. Zwar waren die Güter groß, allein die Steinorter Güter umfassten 5.500 ha (etwa 10 Dorfgemarkungen), doch nach 1918 veränderten sich die landwirtschaftlichen Voraussetzungen. Ostelbische Agrarierfunktionäre wie Oldenburg-Januschau hatten bis 1918 erheblichen Einfluss auf die Agrarpolitik geboten, im vom weiteren deutschen Territorium entfernten Ostpreußen lagen die Agrarpreise niedrig. Anzunehmen ist, dass hieraus zunächst eine Interessenidentität mit der NS-Agrarpolitik resultierte, die ab 1933 durch „Erbhöfe“ den „Reichsnährstand“ schützen wollte. Der Eintritt in die NSDAP, der bei dem jungen Besitzer Heinrich von Lehndorff 1937 erfolgte, als dies nach Aufnahmestopp wieder möglich war, könnte so motiviert sein.
 
Ohne Frage prägte im Krieg die Nähe Steinorts zu Hitlers „Wolfsschanze“ „Wolfsschanze“ Die „Wolfsschanze“ wurde im Zweiten Weltkrieg errichtet und zählte zu den „Führerhauptquartieren“. Die Anlage mit Bunkern und zahlreichen Gebäuden befand sich oberirdisch, jedoch getarnt in einem Waldgebiet nahe der Stadt Rastenburg (heute Kętrzyn). Von  1941 bis 1944 hielt sich Hitler vorwiegend dort auf. Heute sind die Ruinen der Wolfsschanze, die von der Wehrmacht bei ihrem Rückzug gesprengt wurden, eine Touristenattraktion. und die zeitweise Einquartierung von NS-Eliten mit Ribbentrop an der Spitze die Region. Sechs Kilometer nördlich von Steinort hatte das Oberkommando des Heeres sein Bunkersystem „Mauerwald“ gebaut, elf Kilometer östlich befand sich Himmlers Feldkommandostelle „Hegewald“, 25 km südwestlich das „Führerhauptquartier Wolfsschanze“. Heinrich von Lehndorffs mutige Beteiligung am Widerstand, die mit seiner Hinrichtung und der Verhaftung seiner Frau und Familie endete, brachte alle Erinnerungsträger von dort fort.
 
Was wusste man in Sztynort nach 1945 über diese komplexe Vergangenheit? Sicher besaß die ältere preußische, vor allem aber auch die jüngste deutsch-nationalsozialistische Vergangenheit eine Faszination. Deutsche Ordensritter, preußische Junker und Nationalsozialisten bevölkerten die Vergangenheit, auf dem Land mussten jedoch die wenigen verbliebenen Bewohner und die neuankommenden polnischen Flüchtlinge und Vertriebenen eng zusammenrücken, um den Alltag zu meistern. Hans von Lehndorff beschrieb dies 1976 nach einem Besuch in Sztynort so: „Die ursprünglichen Bewohner haben damals alle fliehen können, und die wenigen jetzt noch dort lebenden Deutschen, aus der Nachbarschaft hingezogen, sind z. T. mit Polen verheiratet. Aber man fühlt sich mit ihnen allen so verbunden, einfach weil sie dort sind. Man müsste nur sehr viel mehr Zeit für sie und ihre vielfältigen Nöte haben. Ihr Leben ist ein Kapitel für sich, das sich um die primitivsten Dinge des Daseins dreht und sie allmählich resignieren lässt. Die Landschaft ist ein viel zu großes Festkleid, das man nicht tragen kann. Das gilt für die Polen ebenso wie für die Deutschen, die noch dort sind - mit wenigen Ausnahmen. Die meisten Deutschen hält dort kaum mehr etwas.“5 
 
Heute besteht die Möglichkeit, die Regionalgeschichte neu und unvoreingenommen zu beforschen, gemeinsam durch Deutsche und Polen (und andere an der Regionalgeschichte Interessierte). Erste Projekte wie die schrittweise digitale Verfügbarmachung des Familienarchivs und die Rettung der architektonischen Substanz des Herrenhauses beflügeln diese neuen Möglichkeiten, Ziel sollte es sein, die ferne (preußisch-deutsche) und die nahe (polnische) Geschichte näher zusammenzuführen.

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