Das Motto des Museums ist: „Wir studieren Freiheit! Wir beschützen Freiheit! Wir schaffen Freiheit!“ Die Institution hat erfolgreich einen demokratischen und kreativen Raum geschaffen, der soziale Solidarität und Aktivismus unter Kriegsbedingungen hervorbringt. Unsere Gastautorin Elżbieta Olzacka schildert den Aufbau des Museums, seine Bedeutung für die Zivilgesellschaft und seine Funktion in Kriegszeiten.
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Als ich im Juni 2017 zum ersten Mal nach der Revolution der Würde nach 
Kyjiw
deu. Kiew, eng. Kiev, eng. Kyiv, pol. Kijów

Kiew liegt am Fluss Dnepr und ist seit 1991 Hauptstadt der Ukraine. Nach der ältesten russischen Chronik, der Nestorchronik, wurde Kiew erstmals 862 erwähnt. Es war Hauptsiedlungsort der Kiewer Rus‘, bis es 1362 an das Großfürstentum Litauen fiel, das 1569 Teil der polnisch-litauischen Adelsrepublik wurde. 1667 kam Kiew nach dem Aufstand unter Kosakenführer Bogdan Chmel'nyc'kyj und dem darauf folgenden polnisch-russischen Krieg zu Russland. 1917 wurde Kiew Hauptstadt der Ukrainischen Volksrepublik, 1918 der Ukrainischen Nationalrepublik und 1934 der Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik.
Bezeichnet wurde Kiew auch als „Mutter aller russischen Städte“, „Jerusalem des Ostens“, „Hauptstadt der goldenen Kuppeln“ und „Herz der Ukraine“.
Im russisch-ukrainischen Krieg ist Kiew stark umkämpft.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.

 kam, begrüßte mich auf dem Maidan der Unabhängigkeit ein riesiges Transparent mit einer zweisprachigen Aufschrift auf Ukrainisch und Englisch. Darauf stand: „Freiheit ist unsere Religion“. Eine wortgewaltigere Erklärung wäre kaum möglich gewesen, zumal das Banner an dem Gebäude der Gewerkschaften hing, das im Februar 2014 während der Revolution niedergebrannt war. Die Revolution der Würde, außerhalb der Ukraine besser bekannt als Euromaidan, war ein echter Wendepunkt in der ukrainischen Geschichte. Nach ihrem Erfolg und der Flucht von Präsident Viktor Janukowitsch aus dem Land hat sich die Ukraine eindeutig für einen pro-europäischen, pro-demokratischen Kurs ausgesprochen. Dies zeigte sich nicht nur in den Erklärungen der neuen Behörden, sondern auch in der aktiven Haltung der Gesellschaft, die zu glauben begann, dass sie Einfluss auf ihre Zukunft nehmen könnte.
Wollt Ihr ein Museum? Macht es selbst!
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Die Revolution der Würde war auch eine Revolution der ukrainischen Kultur. Im Rahmen der außerordentlichen sozialen Mobilisierung im Zusammenhang mit der Revolution und dem anschließenden Krieg erlebte die Ukraine eine beeindruckende kulturelle Renaissance. Eines der Prinzipien, für die die Protestierenden eintraten, war das Selbermachen – ob Barrikaden, Schilde, Molotowcocktails – oder auch neue Institutionen.
 
Eine davon war das Maidan-Museum. Die Idee zu ihm entstand während der Proteste als Graswurzelbewegung engagierter Kulturaktivist:innen, darunter Vasyl Rozhko, ein Beamter des Kulturministeriums, Igor Poshyvaylo, ein Ethnologe, der mit dem Iwan-Hontschar-Museum verbunden ist, sowie Timur Bobrovsky und Kateryna Chuyeva, beide Archäolog:innen die an Projekten zur Erhaltung des kulturellen Erbes beteiligt sind.
 
Im Herbst 2014 schloss sich das „Maidan-Museum“ (Muzeǐ Maǐdanu) mit einer anderen Basisinitiative zusammen, die als „Museum der Freiheit“ (Muzeǐ Svobody) bekannt ist, geleitet von Aleksandra Baklanova. Die Tätigkeit dieser neuen Gruppe konzentrierte sich in erster Linie auf die Sammlung und den Schutz von Artefakten und Zeugnissen im Zusammenhang mit der Revolution der Würde sowie auf die Entwicklung einer Vision für das zukünftige Museum. Die erste Ausstellung, die von einer gemeinsamen Initiative im Oktober 2014 organisiert worden war, hatte unkonventionelles Format, das prägend für das Museumskonzept werden sollte.
 
Die Ausstellung bestand aus drei unabhängigen Teilen: erstens aus einer traditionellen Museumsausstellung mit dem Namen „Freiheit“ (Svoboda), zweitens einem umfangreichen Veranstaltungsprogramm mit Filmvorführungen, Treffen mit Beteiligten der Ereignisse und Vorträgen wie auch drittens einem einzigartigen Raum für die Interaktion der Besucher:innen.
 
Der Raum sollte jedem die Möglichkeit geben, die Erfahrungen der letzten Monate auf seine eigene Weise zu reflektieren und seine Ideen darüber auszutauschen, was Freiheit bedeutet und wie das zukünftige Museum aussehen sollte. Vasyl Rozhko, der zum Vorsitzenden der offiziellen Arbeitsgruppe des Maidan-Museums ernannt wurde, betonte: „Das Muzeǐ Maǐdanu/Muzeǐ Svobody ist kein traditionelles Museum. Es soll nicht nur Exponate sammeln, sondern auch eine Art Laboratorium werden, um die Besonderheiten der Zivilgesellschaft in der Ukraine zu verstehen. Die Kombination von zwei Initiativen – dem Museum der Freiheit und dem Maidan-Museum – gibt uns die Möglichkeit, den Traum von einem einzigartigen Museum zu verwirklichen, indem wir es gemeinsam mit der Gesellschaft aufbauen.“1
Museumsaufbau: Die Gesellschaft aktivieren
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Dieser Bottom-up-Ansatz bei der Gestaltung von Ausstellungen war beispiellos in der Geschichte der ukrainischen Museologie. Wie Igor Poshyvailo feststellte, haben sich ukrainische Museen noch nie so sehr auf das Konzept des „Museums mit der Bevölkerung“2  bezogen. Interessanterweise war dieser Geist der Veränderungnicht nur auf die Hauptstadt Kyjiw beschränkt. In
Іvano-Frankіvs'k
deu. Stanislau, pol. Stanisławów, ukr. Івано-Франківськ, rus. Ivano-Frankovsk, rus. Ивано-Франковск, rus. Stanislav, rus. Станислав, ukr. Stanyslaviv, ukr. Станиславів

Im Jahr 1662 als Festung mit drei Dörfern gegründet, hieß die Siedlung damals noch Stanisławów. Bereits im darauffolgenden Jahr erhielt der Ort das Magdeburger Stadtrecht. Die Stadt gehörte zeitweise zu Polen-Litauen, später als „Stanislau“ zur Habsburgermonarchie. Von 1917 bis 1920 war sie Teil der Westukrainischen Volksrepublik, deren Hauptstadt Stanislau 1919 für wenige Monate wurde, bevor es kurzzeitig zu Polen, dann zur Ukrainischen SSR und damit zur Sowjetunion kam – seit deren Zerfall 1991 gehört es zur Ukraine.
Die Geschichte von Stanislau/Iwano-Frankiwsk ist multiethnisch und geprägt von polnischen, ruthenischen/ukrainischen, armenischen, jüdischen und deutschen Bevölkerungsgruppen. 1962 wurde die Stadt nach dem Schriftsteller und Historiker Ivan Franko benannt. Die Universitätsstadt gilt als ein Zentrum der ukrainischen Literatur.
Im Jahr 2015 hatte Iwano-Frankiwsk knapp 230.000 Einwohner:innen.

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, einer Stadt in der Westukraine,  wurde im September 2015 auf Initiative des örtlichen Geschäftsmanns und Politikers Olexandr Shewchenko und des Künstlers Roman Bonchuk das "Museum der Himmlischen Hundert"  gegründet.
 
Lokale Freiwillige und Kulturschaffende, die ihre künstlerischen Visionen im Zusammenhang mit der Revolution der Würde frei zum Ausdruck bringen konnten, beteiligten sich aktiv an der Gestaltung der Inneneinrichtung dieses kleinen Museums. Familienmitglieder der Getöteten sowie deren Freund:innen und überlebende Demonstrant:innen beteiligten sich an der Einrichtung des Museums, indem sie Artefakte wie persönliche Gegenstände der Gefallenen sowie Helme, Schilde und Waffen, die während der Proteste verwendet wurden, zur Verfügung stellten.
Das Ergebnis war ein noch nie dagewesener demokratischer Raum, der für die Ideen und die Kreativität der beteiligten Menschen offen war. In
Dnipro
ukr. Dnipropetrovs′k, rus. Днепропетровск, rus. Dnepropetrovsk, ukr. Дніпропетровськ, ukr. Dnipropetrowsk, rus. Днепр, rus. Днипро́, rus. Dnepr, rus. Dnipro, ukr. Дніпро, rus. Jekaterinoslaw

Das Gebiet von Dnipro ist seit der Vorgeschichte besiedelt. 1635 wurde unweit der heutigen Stadt von Polen die Festung Kodak errichtet, die 1711 von Russen geschleift wurde. 1776 wurde an ihrer Stelle Jekaterinoslaw als Hauptstadt des Gouvernements „Neurussland“ gegründet, aufgrund von Überschwemmungen 1787 an den heutigen Ort Dnipros verlegt. Die Stadt gehörte im Laufe ihrer Geschichte zum Russländischen Reich, zur Ukrainischen Volksrepublik, zur kurzlebigen Republik Donezk-Krywyj Rih, zur Ukrainischen SSR und nach dem Zerfall der Sowjetunion zur heutigen Ukraine. Sie trug im Laufe ihrer Geschichte verschiedene Namen, wie z.B. Jekaterinoslaw, Noworossijsk, Sitscheslaw und Dnipropetrowsk. In der Sowjetunion wegen ihrer Rüstungsindustrie eine „geschlossene Stadt“, ist Dnipro heute ein wichtiges Industrie- und Finanzzentrum.
Dnipro hatte im Jahr 2015 knapp 987.000 Einwohner:innen.

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, einer Stadt in der Ostukraine, wurde wiederum 2017 das erste Museum des Landes eröffnet, das der „Anti-Terror-Operation“ (ATO) gewidmet ist, die 2014–2015 gegen Separatisten und die sie unterstützenden russischen Truppen durchgeführt wurde. Das Museum ist das Ergebnis der Zusammenarbeit zwischen Veteran:innen, sozialen Aktivist:innen und regionalen Behörden.
Das Museum als „Kontaktzone“
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Dieses zivilgesellschaftliche Engagement bedeutete auch, dass Bürger:innen, die an den Ereignissen beteiligt gewesen waren, Einfluss auf den Inhalt und die Gestaltung der Ausstellungen hatten. Obwohl das „Museum der Revolution der Würde“ zu einer staatlichen Einrichtung wurde, behielt es seinen demokratischen und staatsbürgerlichen Charakter, der in der ukrainischen gesellschaftspolitischen Realität nicht so selbstverständlich war. Die Mitarbeiter:innen des Museums betonen nachdrücklich, dass das Konzept das Ergebnis einer breit angelegten gesellschaftlichen Diskussion ist. Teilnehmer:innen der Revolution der Würde aus Organisationen wie der Maidan-Selbstverteidigung, dem AutoMaidan, der Maidan-Bibliothek und dem Maidan-Pressezentrum sowie die Familien der Gefallenen spielten eine wichtige Rolle bei der Ausarbeitung der Vision des künftigen Museums.
 
Die Aufgabe des Museums besteht darin, einen sicheren Raum zu schaffen, in dem Bedeutungen in Bezug auf die jüngste Geschichte der Ukraine sowie die Vision der zukünftigen Ukraine und ihres Platzes in der Welt verhandelt werden. Wie im Fall der Museen in Iwano-Frankiwsk und Dnipro wurden die Teilnehmer:innen und Zeug:innen der Ereignisse zu den wichtigsten Informationsquellen. Sie trugen ihrerseits dazu bei, die öffentliche Erzählung über die Geschichte der Ukraine zu gestalten.
 
In diesem Sinne sind die neuen Museen modellhafte „Kontaktzonen“3 , in denen eine Geschichte über die Gemeinschaft miterschaffen wird,– in denen die Gemeinschaft durch die gemeinsame Arbeit an Trauma und Erinnerung aber auch geschaffen wird. Die Annahmen der neuen Museumsmacher:innen gehen weit über das Sammeln von historischen Gegenständen und sogar über das Sammeln von Erinnerungen und Geschichten hinaus.
Museen als Laboratorien des gesellschaftlichen Aktivismus und Dialogs
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In den Museen lernen die Menschen etwas über Demokratie, Freiheit und Patriotismus. Igor Poshivaylo, dem Direktor des Museums der Revolution der Würde, wurde jedoch durch das Projekt „Lektionen über Freiheit“ in Kyjiwer Schulen bewusst, dass es nicht einfach ist, junge Menschen zu erreichen, und dass ein moderner Ansatz erforderlich ist. Eine der wirksamen Aktivierungsstrategien ist die Organisation von Treffen mit Teilnehmer:innen der Revolution der Würde und des Krieges in der Ostukraine.
 
Solche Treffen bieten mehr Gelegenheit zur Beteiligung, ermöglichen es den Teilnehmer:innen, Informationen aus erster Hand zu erhalten, stellen eine Interaktion her, die wichtige Fragen ermöglicht, und konfrontieren die Teilnehmer:innen schließlich mit der Frage, was sie in einer ähnlichen Situation tun würden. Für sein eigenes Land zu kämpfen – so betont Poshivaylo –, ist eine freie Entscheidung. Menschen vorgestellt zu bekommen, die diese Entscheidung bewusst getroffen haben, könnte ein wichtiges und wirksames Element bei der Herausbildung der staatsbürgerlichen und patriotischen Einstellung junger Ukrainer:innen sein.
 
Zu den weiteren Aktivitäten gehören Workshops für Kinder und Jugendliche, Buch- und Comic-Aktionen, Filmvorführungen, Gedicht- und Liederabende, Foto-, Plakat- und Gemäldeausstellungen, Treffen mit Künstler:innen, Vorträge, Solidaritätsaktionen mit Kriegsgefangenen sowie intimere Aktivitäten wie Geburtstagsfeiern für verstorbene Held:innen und das Schreiben von Briefen an Soldat:innen, die an der Front kämpfen.
 
Das „Museum der Revolution der Würde“ in Kyjiw soll „ein intellektuelles und kreatives Zentrum sein, das Herzstück von Initiativen aller Art für eine umfassende Reflexion über die Vergangenheit und eine konsolidierte Gestaltung der Zukunft“. Die neuen Regionalmuseen fungieren auch als Dach für verschiedene Arten von sozialen Initiativen, da sie zu Zentren staatsbürgerlicher Aktivitäten werden und die lokalen Gemeinschaften integrieren. Wie Vadim Yakushenko, der Leiter des ATO-Museums in Dnipro, betonte, sind die neuen ukrainischen Museen „ein Spiegelbild der Gegenwart, das die Geburt einer gesunden und freien Gesellschaft miterlebt“.
Museum an der Kriegsfront
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Die Stärke und Einigkeit dieser Gesellschaft überraschte die Welt, als Russland im Februar dieses Jahres eine umfassende Invasion in der Ukraine startete. Die Ukrainer setzen sich heldenhaft zur Wehr, wobei eine der wichtigsten Fronten der Schutz des ukrainischen Kulturerbes ist. Das Museum der Revolution der Würde ist zum nationalen Zentrum der Aktivitäten zur schnellen Reaktion auf die Bedrohung von Museumssammlungen, Kunst und Kulturgütern im Zusammenhang mit den Angriffen geworden.
 
Das Kyjiwer Museum war auf diese Aufgabe gut vorbereitet, da es sich in den vergangenen Jahren um internationale Kontakte gekümmert und seinen Umgang mit Krisen weiterentwickelt hat. Im Rahmen der Anfang März, wenige Tage nach Beginn der russischen Militäroperationen, gegründeten  „Kulturgut-Notfallmaßnahmen-Initiative“ hilft das Museum bei der Verbreitung von Materialien zur Rettung des kulturellen Erbes und organisiert Workshops und Webinare für Kulturschaffende.
 
Der Direktor des Museums, Igor Poshyvailo, ist aktiv an der Koordinierung der Zusammenarbeit zwischen ukrainischen Museen und Kultureinrichtungen und wichtigen Akteuren wie der UNESCO, ICOM-Disaster Resilient Museums und ICCROM beteiligt. Die Mitarbeiter:innen des Museums nehmen auch an Exkursionen teil, bei denen die Verluste bewertet, die erhaltenen Materialien gesichert und die Belege über russische Verbrechen gegen das Kulturerbe gesammelt werden.
 
Unter den heutigen Kriegsbedingungen bezeichnen sich die Museumsmitarbeiter:innen als „Soldat:innen der Kulturfront“. In der Tat hängt die Bewahrung des Erbes der demokratischen Revolution, die ihr Land verändert hat, weitgehend von ihrem Kampf und ihrer Ausdauer ab.