Im folgenden Beitrag wird eine kulinarische Reise durch das Sibirien des 18. Jahrhunderts in Begleitung von Ethnographen aus Europa und dem Russischen Reich unternommen. Das 18. Jahrhundert ist im Russischen Reich auch eine Zeit großer Expeditionen und der Erkundung eines bereits gewaltigen, bis an den Pazifik reichenden Territoriums. Neben Flora und Fauna, Bodenschätzen sowie Land- und Seewegen wurden auch die Bewohner Sibiriens und ihre Lebensweise erforscht. Anhand von Texten der Zweiten Kamtschatka-Expedition wird gefragt, wie die Europäer die sibirische Küche wahrnahmen und was hinter dem europäischen „Ekel“ steckt.
Intro: Die ethnographische Reise als kulinarische Reise
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Im übertragenen Sinn ist Essen eine Sprache, eine kulturelle Sprache. Wer erstmals ein fremdes Land oder eine neue Stadt bereist, wird unweigerlich mit der Sprache und den Dialekten der lokalen Küche konfrontiert. Für besondere Feinschmecker gibt es sogar eine eigene Tourismusbranche – den kulinarischen Tourismus – bei dem nicht die Besichtigung von Sehenswürdigkeiten, sondern die Verkostung lokaler Gerichte und Nahrungsmittel im Vordergrund steht.
In gewisser Weise waren die Ethnographen1 , die im 18. Jahrhundert durch
Sibirien
rus. Sibir, rus. Сиби́рь, eng. Siberia

Sibirien erstreckt sich über eine Fläche von 12,8 Mio. Quadratkilometern zwischen dem Ural, dem Pazifik, dem Nordpolaarmeer, China und der Mongolei.1581/82 begann die russische Eroberung Sibiriens. Zur Zeit der Aufklärung vor allem Rohstoffquelle und Raum für den Handel mit Asien, gewann Sibirien ab dem 19. Jahrhundert Bedeutung als Ort für Strafkolonien und Verbannte. Mit der Erschließung durch die transsibirische Eisenbahn und der Dampfsschifffahrt am Ende des 19. Jahrhunderts kamen Industrialisierung und damit neue Siedler nach Sibirien. Weitere Industrialisierung unter Stalin wurde vor allem mit der Arbeitskraft von Gulag-Häftlingen und Kriegsgefangenen umgesetzt.

Die Karte zeigt Nordasien, zentral gelegen Sibirien. CIA World Factbook, bearbeitet von Veliath (2006) und Ulamm (2008). CC0 1.0.

reisten, auch kulinarische Touristen. Obwohl Praktiken und Traditionen der Ernährung nicht ihr einziges Ziel bei der Erforschung Sibiriens waren, bildeten die Beobachtung und Dokumentation davon, wie und was die zahlreichen Völker Sibiriens verzehrten, einen großen Teil ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Darüber hinaus spielten lokale Esstraditionen eine wichtige Rolle bei der Konstruktion eines Porträts sibirischer Ureinwohner:innen – sowohl von einzelnen Völkern als auch von Sibirien als Ganzem.
Allerdings blieb es nicht bei der rein intellektuellen Bewertung: Es wurde auch verzehrt, und das nicht nur als Teil wissenschaftlicher Feldforschung, sondern aus ganz praktischen Notwendigkeiten. Wie wurde sibirisches Essen also nicht nur wahrgenommen, sondern auch aufgenommen? Welche Rolle(n) spielten Essenspraktiken und -beschreibungen in den Expeditionsberichten der Zeit – für die Erzeugung eines bestimmten Bildes von Sibirien und seiner Einordnung in die kulturelle Landkarte einerseits, für Rückschlüsse auf die Autoren und ihren Alltag andererseits?
Die Zweite Kamtschatka-Expedition und ihre Mitglieder
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Die Zweite Kamtschatka-Expedition, die auch als Große Nordische Expedition bezeichnet wird, war eine der größten und frühesten wissenschaftlichen Expeditionen durch Sibirien. Sie wurde von der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in
Sankt-Peterburg
rus. Leningrad, deu. Sankt Petersburg, eng. Saint Petersburg, rus. Ленингра́д, rus. Петрогра́д, rus. Petrograd

Sankt Petersburg ist eine Metropole im Nordosten Russlands. In der Stadt wohnen 5,3 Millionen Menschen, was sie nach Moskau zur zweitgrößten des Landes macht. Sie liegt an der Mündung der Newa (Neva) in die Ostsee im Föderationskreis Nordwestrussland. Sankt Petersburg wurde 1703 von Peter dem Großen gegründet und war von 1712 bis 1918 die Hauptstadt Russlands. Von 1914–1924 trug die Stadt den Namen Petrograd, von 1924–1991 den Namen Leningrad.

organisiert und dauerte zehn Jahre, von 1733 bis 1743.
Ein wichtiges Merkmal der Expedition war ihre Multikulturalität. Nicht nur erstreckte sich die groß angelegte Expedition selbst auf völlig unterschiedliche Regionen des wachsenden Russischen Reiches; auch viele ihrer Mitglieder stammten aus verschiedenen europäischen Ländern und sprachen teils unterschiedliche Sprachen  – auch kulinarische.
Eines der wichtigsten Mitglieder der Expedition war Gerhard Friedrich Müller (1705–1783). Müller stammte aus Preußen und kam aus einer Pastorenfamilie. Bereits im Alter von zwanzig Jahren zog er nach Sankt Petersburg, wo er in den Dienst der von Peter dem Großen neu gegründeten Akademie der Wissenschaften berufen wurde. Ein paar Jahre später wurde Müller zum Leiter der akademischen Abteilung der Zweiten Kamtschatka-Expedition ernannt, die Sibirien wissenschaftlich, auch ethnographisch, erforschen sollte.
Europäischer Ekel und sibirisches Essen
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In Müllers „Beschreibung der sibirischen Völker“ beginnt das Kapitel über sibirische Ess- und Ernährungsgewohnheiten ziemlich ausdrucksvoll: „Überhaupt ist von allen Völkern in Sibirien zu sagen, dass sie außer denen Speisen, die wir mit ihnen Gemein haben, auch dergleichen geniessen, und noch daraus Leckerbissen machen, welche uns ein Greuel sind.“2  In diesem Satz sind drei Aspekte hervorzuheben, die man auch in anderen Texten der Expedition immer wieder antrifft. Der erste Punkt betrifft die hier zu lesende Verallgemeinerung: alle Völker Sibiriens werden in einen Topf geworfen, obwohl viele von ihnen ganz unterschiedlichen religiösen, sprachlichen und kulturellen Gemeinschaften angehörten. Der zweite Punkt ist das Konzept des Ekels, das nicht nur die emotionale und körperliche Reaktion des Betrachters beschreibt, sondern auch eine Warnung enthält, sich von etwas potenziell Gefährlichem fernzuhalten. Schließlich ist es der Vergleich von „ihnen“ mit „uns“. Müllers kollektives „wir“ bildet den Hintergrund, vor dem sich die Konturen des „anderen“ Sibiriens abzeichnen. Zu diesem kollektiven „wir“ der aus eigener Sicht aufgeklärten Europäer gehört auch die russische politische Elite – die Adressaten von Müllers Text. So verwischt Müllers Beschreibung sibirischen Essens die symbolische Grenze zwischen Russland und Europa und schafft eine neue – zwischen Europa und Sibirien.
Das Motiv der europäischen, natürlichen Ablehnung des ekelhaften sibirischen Essens findet sich auch im Buch „Beschreibung des Landes Kamtschatka“ von Georg Wilhelm Steller (1709–1746). Wie Müller war Steller ein Deutscher im Dienst der Sankt Petersburger Akademie. Obwohl er ein Biologe war, ist seine „Beschreibung des Landes Kamtschatka“ reich an ethnographischen Beschreibungen der Bevölkerungsgruppen, die die Halbinsel bewohnen. Bei der Beschreibung der Zubereitung des Gerichtes „Selaga“ – das die Itelmenen, eine Gruppe von Ureinwohner:innen der 
Kamtschatka
pol. Kamczatka, fra. Kamtchatka, eng. Kamchatka, rus. Камчатка

Die Halbinsel Kamtschatka liegt zwischen dem Pazifik und dem Ochotskischem Meer. Sie wurde 1996 zum Weltnaturerbe ernannt, ist die größte Halbinsel Ostasiens und weist regelmäßige vulkanische Aktivität auf. Die indigen Völker der Halbinsel (beispielswiese die Itelmenen oder die Korjaken) wurden durch die Eroberung durch Russland fast vollständig ausgerottet.

, aus zerkleinerten Beeren und Pflanzen herstellen – wird Steller besonders darauf aufmerksam, dass es mit ungewaschenen Händen gekocht wird. Daraus zieht er den Schluss, dass „jederman vom bloßen Zusehen vomiten [sich übergeben] möchte“.3  Müller und Steller sprechen hier im Namen aller Europäer – und ihre negative Reaktion bezieht sich eben nicht nur auf das Gericht der itelmenischen Küche selbst, sondern auch auf die Art seiner Zubereitung als Teil itelmenischer Lebensweise. Der europäische Geschmack, so die implizite Behauptung dieser Urteile, ist raffinierter und kultivierter als der der sibirischen Ureinwohner:innen. Und damit erheben beide die europäische Zivilisation insgesamt über die unterlegenen, unkultivierten sibirischen Kulturen mit deren aus ihrer Sicht ‚unreinen‘ Essen.
Was außer Schmutz ekelte die europäischen Forscher am sibirischen Essen noch an? Oft war es ein unangenehmer Geruch, vor allem von solchen Gerichten, die Fäulnisprozesse voraussetzten.
Stepan Krascheninnikow (1711–1755), ein russischer Student und Expeditionsmitglied, die Zubereitung des sauren Fischs auf Kamtschatka folgendermaßen: „Das delikateste Gericht auf Kamtschatka ist der saure Fisch Huigul, den sie in Gruben auf dieselbe Weise wie den sauren Kaviar zubereiten. Man kann mit Fug und Recht behaupten, dass kein Geruch mehr verdorben ist, aber die Menschen auf Kamtschatka finden das Gericht wohlriechend“.4  Hinweise darauf, dass ein bestimmtes Gericht, das aus Sicht des Reisenden in der Regel nicht das schmackhafteste ist, von den Einheimischen als Delikatesse angesehen wird, sind in den Texten der Gelehrten durchaus üblich. Immerhin dies deutet darauf hin, dass man sich der kulturell abweichenden Geschmacksfrage durchaus bewusst war.
Einige Reisende waren etwas weniger offen für die möglichen Unterschiede in Geschmacks- und Geruchswahrnehmungen. Jakob Lindenau (1700–1795), ein weiterer Teilnehmer der Expedition, ging in seinem ethnographischen Werk „Die Beschreibung sibirischer Völker“ gleich so weit, die Häuser der Korjaken – eine weitere Gruppe von Ureinwohner:innen Kamtschatkas – mit dem Höllenfeuer zu vergleichen, denn „der Gestank von Speck, Fett, Schmiere und Urin [war] unbeschreiblich“.5  Der Hinweis auf die Hölle ist kaum zufällig.  Er zeigt, wie wichtig religiöse Überzeugungen für die Beurteilung fremder Kulturen waren.
Glauben Sie? Religiösität und Essenswahrnehmung
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Sowohl sibirische als auch europäische Essenstraditionen und deren Wahrnehmung waren eng mit religiösen Überzeugungen und Tabus verbunden. In fast allen Religionen spielen Essgebote und -verbote eine entscheidende Rolle für die Bewertung einer nach diesen Maßstäben guten, gottgefälligen Lebensführung – und damit der Bemessung einer nach Lebensende erfahrenen Belohnung oder Bestrafung. Lindenau jedoch versetzt die Korjaken zu ihren Lebzeiten bereits in die – christliche – Hölle und setzt ihre häusliche Umgebung, Lebensweise und Ernährung gleich mit Tod und ewigem Leid.
Ein wesentlicher Teil der Essensbeschreibungen befasst sich mit den verschiedenen Nahrungstabus und den religiösen Ritualen, die mit dem Verzehr vom bestimmten Essen verbunden sind. Es wird über jede indigene Bevölkerungsgruppe berichtet, welche Tiere oder Pflanzen vom Verzehr ausgeschlossen sind und aus welchen Gründen. So kann beispielsweise ein bestimmtes Tier als rituell unrein oder heilig gelten. Meist werden diese Ernährungsregeln jedoch als unaufgeklärte Vorurteile und Aberglauben abgetan – und von den Wissenschaftlern vielfach als Zeichen der Irrationalität und damit der kulturellen Unterentwicklung der sibirischen Völker gedeutet.
Im Gegensatz zu den mit der Ernährung verknüpften religiösen Überzeugungen wurde das mit ihr verbundene medizinische Wissen jedoch als praktisch und nützlich wahrgenommen und von den Wissenschaftlern deutlich höher geschätzt. Vor allem Steller, der sich für Botanik und Medizin interessierte, geht oft auf den Nutzen und die Genießbarkeit bestimmter Pflanzen oder Tiere ein. Dank seiner von der sibirischen Bevölkerung erlernten Kenntnisse über die medizinischen und pharmakologischen Eigenschaften von Pflanzen konnte Steller auf der Seereise nach Alaska sogar sich selbst und einen Teil der Schiffsbesatzung vor Skorbut und dem Verhungern retten.
Essensbeschreibungen als Kuriositätenkabinett
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Weil die Forscher europäische und christliche Ernährungsnormen als Maßstab nahmen, haben sie manchmal die Gemeinsamkeiten übersehen und sich stattdessen auf die Unterschiede und Abweichungen konzentriert. Es ist kein Zufall, dass das gesamte Kapitel über Essen in Müllers „Beschreibung der sibirischen Völker“ fast ausschließlich den Gerichten gewidmet ist, die „für uns ein Greuel“ sind. Tatsächlich erinnert das Kapitel an eine Art Kuriositätenkabinett: es ist eine Sammlung von Kuriositäten und Merkwürdigkeiten im Bereich der Ernährung. So finden sich auf der Liste der „besonderen sibirischen Köstlichkeiten“ Pferdefleisch und -milch, Aas, rohe Innereien, Nachgeburten, Blut und verschiedene Wildtiere – also all dass, was in erster Linie den Unterschied und die kulturelle Distanz als Gemeinsamkeiten betont.
Diese Akzentuierung trägt erheblich dazu bei, dass ein klischeehaftes Bild der sibirischen Ureinwohner konstruiert wird und sie zugleich zu Figur und Projektionsfläche des Anderen, Exotischen und Fremden gemacht werden. Dabei geht es keineswegs nur um das Ziehen einer symbolischen Grenze und die kulturelle Hierarchie zwischen Europa und Sibirien. Denn Essen ist nicht nur eine kulturelle, sondern auch eine biologische Praxis. Unterschiede in den Ernährungstraditionen und -praktiken wurden immer wieder auch als Faktor für die unterschiedliche körperliche und geistige Entwicklung von Gesellschaften interpretiert.
„Zivilisierung“ und „Barbarisierung“ durch den Magen
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Die Unterschiede in der Ernährung berührten wortwörtlich jeden Teilnehmer dieses interkulturellen Kontakts. Im Gegensatz zu vielen anderen Traditionen und Bräuchen konnte das Essen die Grenzen des Körpers überschreiten und ihn von innen heraus verwandeln. Im 18. Jahrhundert war diese Fähigkeit der Nahrung, nicht nur den Körper, sondern auch die Gesundheit und sogar den Charakter eines Menschen zu verändern, in Europa in Form der sogenannten Säftelehre bekannt. Essen wurde also nicht nur als kulturelle Praxis oder als rein biologischer Prozess betrachtet, sondern als etwas, das das geistige und intellektuelle Leben eines Menschen beeinflussen und somit eine ganze menschliche Gesellschaft prägen konnte.
Essen und Ernährung bestimmten auch die soziale Hierarchie – und konnten entscheidenden Einfluss auf den sozialen Ab- oder Aufstieg haben. In Sibirien sollte der Aufstieg durch die Russifizierung oder Christianisierung von Alltags- und Esskulturen erfolgen. Umgekehrt war auch ein sozialer Abstieg möglich, wenn Vertreter einer scheinbar höheren Zivilisationsstufe plötzlich begannen, die Ernährung der indigenen Völker Sibiriens zu übernehmen.
Als positiver Einfluss des Christentums auf die sibirischen Essenstradition wird in den Berichten beispielsweise die Abschaffung der Völlerei genannt – immerhin eine der Todsünden im Christentum. Ein Beispiel dafür ist Stellers Beschreibung der  itelmenischen Sitten vor ihrem Kontakt mit der christlich-russischen Kultur: „In der Vergangenheit haben diese Menschen nie eine bestimmte Zeit für das Essen eingehalten, abgesehen von gelegentlichen festlichen Mahlzeiten. Wegen ihrer Gefräßigkeit aßen sie den ganzen Tag, wenn sie Zeit und Lust darauf hatten.“6  Auf ähnliche Weise erzählt Müller, wie die Ostyaken (Kamtschatkas Ureinwohner:innen) am Fluss Keti „vor der Taufe [...] alles außer Hermeline, Erdmarder, Iltisse, Ratten und Mäuse aßen“.7 
Allerdings war die Christianisierung nicht immer erfolgreich. Manchmal wurden die Elemente des christlichen Lebens auf höchst unerwartete Weise an lokale Bedürfnisse angepasst. So berichtet Krascheninnikow von den Ostyaken, dass sie „Ikonenbilder als Schneidebretter für Fisch und als Deckel für Milch nutzten“.8  Dies war natürlich kein positives Urteil über den ostyakischen Ideenreichtum, sondern kritisierte deren Ahnungslosigkeit und Unvermögen.
Die Übernahme von Esstraditionen konnte allerdings auch den gegenteiligen Effekt haben und zum unfreiwilligen Mittel der Barbarisierung und Ent-Kultivierung werden. In den Expeditionsberichten betrifft dies vor allem eine, eigentlich aus Europa stammende Personengruppe – nämlich die vor Ort lebenden Kosaken, die im Dienste des Zaren in der kolonialen Verwaltung tätig waren. Laut Krascheninnikow unterschied sich ihre Lebensweise auf Kamtschatka nicht sehr von der der einheimischen Bevölkerung, da beide „Wurzeln und Fisch aßen und gleiche Arbeit machten“.9  Damit wurden die Kosaken zum abschreckenden Beispiel einer „Verwilderung“ und Entzivilisierung durch Nahrung erhoben. In den Berichten ähneln sich die Beschreibungen beider Gruppen auffällig: Beide enthalten Ausdrücke des Ekels, beide werden als Gefahr für die europäischen Körper und Identitäten dargestellt. Nicht zuletzt distanzierten sich die Wissenschaftler damit auch gegenüber ihren Lesern und heimischen Auftraggebern deutlich von ihrem Untersuchungsgegenstand, um ja keinen gegenteiligen Eindruck zuzulassen.
Im Munde des Betrachters: Die Ernährung der Expeditionsmitglieder
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In der Praxis war es jedoch nicht immer möglich, sich vom angeblich so fremden und gefährlichen Essen fernzuhalten. Obwohl in den ethnographischen Texten der Expedition nur selten erwähnt wird, was als Nahrung nicht nur für den Geist der Wissenschaftler, sondern auch für ihren Körper diente, lassen sich doch einige Hinweise darauf finden. So schreibt Steller mit einem Augenzwinkern über Kamtschatka: „Die Menschen hier essen Dinge, die an anderen Orten nicht als Nahrungsmittel betrachtet würden“. Dabei gibt er aber zu, dass ihn dieses Wissen im Notfall vor einem Tod durch Verhungern retten könne: „Jetzt habe ich keine Angst mehr, bei einer Missernte anderswo zu verhungern, denn ich habe hier gelernt, womit man einen leeren Magen in der Not befüllen kann.“10 
An anderer Stelle wiederum räumt Steller dann sehr wohl ein, dass sibirische Speisen und ihre pflanzlichen wie tierischen Bestandteile mitnichten nur letzte Option für den äußersten Notfall, sondern im Gegenteil sogar sehr schmackhaft sein können. Ein Beispiel ist die Beschreibung eines Gerichts aus Kamtschatka, das aus gefrorenem und im Boden gelagertem Fischbauch hergestellt wird. Hier heißt es plötzlich, dass „dieses Gericht gewöhnlich den Gästen angeboten wird, mich eingeschlossen, und es schmeckt überhaupt nicht schlecht“.11 
Auch wenn man nach ihnen suchen muss: Immer wieder gibt es sie in den Expeditionsberichten, die Passagen über genießbare, auch für Reisende aus dem fernen Westen angenehm schmeckende Speisen, Pflanzen und Tiere. Damit bei den Lesern in der europäischen Heimat kein Missverständnis aufkam und der schöne Schein der europäischen Überlegenheit gewahrt bliebt, beließ man es jedoch bei solchen Randbemerkungen. Im Mittelpunkt des kulinarischen Expeditionsprotokolls über die sibirische Küche beließ man die aus eigener Sicht Ekel erregenden, kuriosen Gerichte.
Trotz aller demonstrativ betonten Unterschiede und den explizit thematisierten Gefühlen des Widerwillens und der Ablehnung – die am Ende nichts anderem dienten, als der Selbstversicherung der eigenen kulturellen Überlegenheit –,  ist dennoch eines sicher: Dass die Forscher trotz aller angeblichen und herbeigeschriebenen Unterschiede zu ihren sibirischen  Gastgeber:innen mit ihnen an einem Tisch saßen und so, zumindest zu einem kleinen Teil, selbst zu lernen begannen, die kulinarischen Sprachen Sibiriens zu sprechen.

Siehe auch