Der 550. Geburtstag von Nikolaus Kopernikus lädt nicht nur zur Beschäftigung mit dem Erbe des Astronomen ein. Er bietet auch einen Anlass, um sich mit der früheren Kopernikus-Rezeption wie auch mit der historischen Entwicklung solcher Jubiläen zu beschäftigen.
Text
Nur wenige historische Figuren der Frühen Neuzeit sind bis heute so präsent wie Nicolaus Kopernikus – in Polen und Deutschland, aber auch weltweit. Sein gedanklicher Durchbruch zu einem neuen Weltbild, in dem die Sonne und nicht mehr die Erde im Mittelpunkt des Planetensystems steht, gelang ihm mehrere Jahrhunderte, bevor es möglich war, die Richtigkeit des Heliozentrismus auch experimentell zu beweisen. Damit sind Kopernikus und seine Ideen zu einem Kulturerbe geworden, mit dem sich Menschen in ganz unterschiedlichen Kontexten über mindestens drei Jahrhunderte hinweg identifiziert haben. Im Jahr 1873 beispielsweise, zum 400. Geburtstag von Kopernikus, hat der polnische Maler Jan Matejko den Astronomen „im Gespräch mit Gott“ dargestellt. Ein Jahrhundert später, zur Feier seines 500. Geburtstags, wurde Kopernikus in den sozialistischen Staaten als Wegbereiter eines wissenschaftlich begründeten Atheismus gerühmt.
Text
Diese enorme Dichte an Bezugnahmen, Zuschreibungen und Interpretationen macht es auch heute reizvoll und gewinnbringend, sich mit Kopernikus auseinanderzusetzen. Es öffnet sich damit ein Feld, das weit über die Astronomie und die Naturwissenschaft hinausreicht. Laut der Kulturwissenschaftlerin Elisabeth Ritter, die sich mit Kopernikus als einem deutsch-polnischen „Erinnerungsort“ befasst hat, ist der Gelehrte aus dem heutigen Nordpolen „symbolisch stark aufgeladen“ worden, „unabhängig vom Wissen um sein tatsächliches Wirken“.1  Kulturgeschichtlich lässt sich der Renaissance-Gelehrte Kopernikus daher in gewisser Hinsicht mit dem modernen Physiker Albert Einstein vergleichen: Beide sind sie zu Chiffren geworden, die für geniale Gedankenkraft und überlegene wissenschaftliche Rationalität einstehen, obwohl weder die Berechnungen von Kopernikus noch Einsteins Relativitätstheorie außerhalb von Fachkreisen nachvollzogen werden können. Die Porträts der beiden Forscher erscheinen deswegen heute in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen – nicht zuletzt werden sie zu Marketingzwecken gebraucht.
Text
Genauer erfassen lässt sich die Rezeptionsgeschichte von Kopernikus anhand zweier Konzepte, die in der neueren Geschichte eine zentrale Rolle spielen: das der Moderne und das der Nation. Die Geschichtswissenschaft bemüht sich heute, den Begriff der Neuzeit als relativ offene Benennung einer Epoche zu verwenden. Ursprünglich handelte es sich aber um eine wertende Bezeichnung, mit der die Überwindung des Mittelalters angezeigt und gefeiert wurde. Nikolaus Kopernikus wurde in diesem Zusammenhang als ein entscheidender Akteur genannt, hat er doch mit seinen astronomischen Berechnungen gewissermaßen die Enge kirchlich geprägter Weltanschauung aufgesprengt und damit eine Tür zur Moderne geöffnet. Bis in die Gegenwart wird Kopernikus häufig zum Gewährsmann und Vorbild genommen, wenn es darum geht, Fortschritt, Expansion und Modernisierung zu beschwören. Angesichts der ökologischen Krisen, die diese Modernisierung erzeugt, hat der französische Soziologe Bruno Latour inzwischen die Frage aufgeworfen, ob dieses Narrativ nicht infrage gestellt werden muss: „Heute zwingt uns das Neue Klimaregime durch eine Art kopernikanischer Konterrevolution dazu, die Augen wieder auf die Erde zu richten.“2
Text
In deutsch-polnischer Perspektive wurden solche Dimensionen aber im 19. und 20. Jahrhundert von dem Streit um die nationale Zugehörigkeit von Kopernikus überlagert. Deutsche wie Polen wollten den Gelehrten unter den „großen Männern“ ihrer eigenen nationalen Geschichte einreihen. Aus polnischer Sicht kam dieser nationalen Erinnerungskultur besonders während der rund 130 Jahre, in denen kein polnischer Staat existierte, eine hohe Bedeutung zu. Von deutscher Seite wurde Kopernikus zunehmend zur Legitimation einer Vormachtstellung in Europa herangezogen. Zunächst wurden dazu kulturelle Kategorien wie die der „Muttersprache“ benutzt, in der Zeit des Nationalsozialismus dann sogar jene der pseudowissenschaftlichen „Rassenforschung“, wie damals entstandene Artikel etwa über deutsche „Blutslinien“ des Kopernikus zeigen. Auf Online-Plattformen setzen sich solche Konflikte um die nationale Zugehörigkeit von Nikolaus Kopernikus in abgeschwächter Form noch heute fort: So wird der Eintrag über Kopernikus in der englischsprachigen Wikipedia zu den Artikeln mit den langwierigsten „edit wars“ gezählt.
Text
Vor diesem Hintergrund erscheint auch der 550. Geburtstag von Nikolaus Kopernikus im Jahr 2023 in einem besonderen Licht. Schon mehrfach haben Geburts- und Gedenkjahre zu einer intensiven Beschäftigung mit Kopernikus angeregt. Der Blick auf die Rezeptionsgeschichte lässt jedoch erkennen, dass es dabei nie nur um Naturwissenschaft beziehungsweise Wissenschaftsgeschichte ging, sondern dass diese Zugriffe von zeitgebundenen Interessenlagen aus dem Spannungsfeld zwischen Moderne und Nation geprägt waren. Wie der Kunsthistoriker Christopher Riopelle festgestellt hat, sind die Denkmäler, die seit dem 19. Jahrhundert für Kopernikus errichtet wurden, auch Teil einer allgemeinen Denkmal-Konjunktur gewesen: Figuren wie Shakespeare, Michelangelo, Goethe und Schiller oder eben Kopernikus wurden auf diese Weise geehrt, da man überall in Europa überzeugt gewesen sei, dass sich „in ihren Genies das ‚Genie’ einer großen Nation am umfassendsten ausdrücke“.3  Jubiläen und Jahrestage beziehen sich demzufolge nicht nur auf Geschichte, sie sind selbst eine historische Entwicklung und bilden ihre eigene Geschichte. Auch darum wird es in dem folgenden Schwerpunkt zum Kopernikus-Jahr 2023 immer wieder gehen.

Siehe auch