Während des Zweiten Weltkriegs war die Ukraine die größte Sowjetrepublik, und Charkiw war die zweite große ukrainische Stadt, die vollständig von den Deutschen besetzt wurde. Charkiw gehörte zur sogenannten militärischen Besatzungszone, die von der Wehrmacht kontrolliert wurde. Diejenigen, die diese Besatzung überlebt haben (die noch immer nicht gut erforscht ist), erinnern sich an Angst, Schmerz und extreme Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung.
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Während des Zweiten Weltkriegs war die Ukraine die größte Sowjetrepublik, und 
Charkiv
rus. Charʹkov, rus. Харьков, rus. Charkow, ukr. Харків, rus. Kharkov, ukr. Kharkiv, ukr. Charkiw, rus. Harʹkov

Charkiw ist die zweitgrößte Stadt der Ukraine und hatte 2019 etwa 1,5 Millionen Einwohner:innen. Die Stadt wurde 1630 oder 1653 im „Wilden Feld“ gegründet, wie die Steppenlandschaft in der heutigen Süd- und Ostukraine damals genannt wurde. Mit der Verschiebung der russischen Grenze nach Süden verlor es seine Bedeutung als Festung, wurde daraufhin aber zum Handels- und Handwerkszentrum. 1918 bis 1934 war Charkiw die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik.
Seit Februar 2022 erlitt Charkiw starken Beschuss im russisch-ukrainischen Krieg.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.

 war die zweite ukrainische Großstadt, die vollständig von den Deutschen besetzt wurde. Sie gehörte zur sogenannten militärischen Besatzungszone, die sich in der Hand der Wehrmacht befand. Jene, die diese nach wie vor wenig erforschte Besatzungszeit überlebten, erinnern sich an Angst, Schmerz und extreme Gewalt gegenüber der Zivilbevölkerung.


Wir stehen mit meiner Großmutter am Fenster und schauen hinaus. Wir befinden uns in der ersten Etage. In eben diesem Augenblick kamen die Deutschen vom Charkiwer Zentrum her in Richtung Gorki-Park. Ein ganzer Haufen Deutscher. Sie gehen leise, niemand rührt sie an, und sie gehen vorbei. Ein paar Leute, ein bisschen ...
Und hier stehen wir mit meiner Großmutter am Fenster, die Deutschen kommen und meine Großmutter war damals schon alt. Sie sagt: „Jungs, Jungs, so wie ihr gekommen seid, so werdet ihr auch wieder gehen.“

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Historische Anmerkung
Am Vorabend des deutsch-sowjetischen Krieges lebten etwa eine Million Menschen in Charkiw, das ein landesweit bekanntes wirtschaftliches und kulturelles Zentrum war, mit Kraftwerken und Fabriken, zahlreichen Grund-, Mittel- und Hochschulen, Museen, Theatern und Bibliotheken. Mit Blick auf Größe und Einwohner:innenzahl war es nach Kyiyv die zweitgrößte ukrainische Stadt; ein bedeutendes industrielles Zentrum in der Ukraine, in dem sich zahlreiche wichtige Transportrouten kreuzten. Nach Beginn der deutschen Invasion des Landes im Juni 1941 wurde die Industrie der Stadt rasch auf die Fertigung von Rüstungsgütern umgestellt. Doch das rasche Vorrücken der deutschen Wehrmacht hatte schon sehr bald die eilige Evakuierung von Unternehmen, Ausrüstung und Arbeitskräften zur Folge. Wenige Tage vor dem Rückzug der Roten Armee wurden auf Geheiß der sowjetischen Führung die Wasserversorgung, die Heizung sowie das Abwassersystem der Stadt zerstört und das Verkehrswesen eingestellt. Als die deutschen Truppen am 24. Oktober 1941 in Charkiw einmarschierten, kam es in der Stadt selbst kaum zu direkten Kampfhandlungen. Mit einer kurzen einmonatigen Unterbrechung dauerte die Besatzung der Stadt bis zum 23. August 1943.
Der Kriegsbeginn: Bombardement, Evakuierung, Anarchie
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Die Besatzung Charkiws ist von Gewalt und der Misshandlung der Zivilbevölkerung geprägt: unmittelbar und mittelbar, physisch und moralisch, an der Masse und am Individuum, im Augenblick und im Nachgang. Diese Gewalterfahrung setzte bereits vor der nationalsozialistischen Besatzung ein, denn einige Monate vor dem Einmarsch der deutschen Truppen in Charkiw durchlebten die Einwohner:innen schon die Schrecken der Bombenangriffe, die Panik während der Evakuierung und das Chaos einer von den Behörden im Stich gelassenen Stadt. Doch auch die sowjetische Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Leben soll hier nicht unerwähnt bleiben: die Evakuierung, die vorrangig den Industrieanlagen und nicht den Menschen galt; das an die Zivilbevölkerung ergangene Verbot, Charkiw zu verlassen; und die Tatsache, dass eine Stadt von fast einer Million Einwohner:innen vor dem Einmarsch der Deutschen mit einer im voraus zerstörten Infrastruktur zurückgelassen wurde: kein Wasser, keine Heizung, keine Kommunikation.
Das Bombardement
Das Leid der Zivilbevölkerung begann bereits vor der Besatzung mit einem systematischen und gezielten dreimonatigen Bombardement der Stadt. Zum ersten Mal wurde Charkiw am 27. Juli 1941 bombardiert; ab August wurden die Angriffe täglich fortgesetzt und dauerten bis unmittelbar zur Besetzung der Stadt Ende Oktober 1941 an. Diese Bombardements – verheerend, unbarmherzig und militärisch sinnlos – wurden zu einer der schrecklichsten Erinnerungen der Stadtbewohner:innen. Der berühmte Charkiwer Anatom und Anthropologe Prof. Lew Nikolajew notiert in sein Tagebuch:
„16. Oktober
Gestern und heute bombardieren die Deutschen Charkiw aus der Luft. Viele Verluste unter der Bevölkerung. Ich bin froh, seit ich begonnen habe, diesen Bombardements ganz in Ruhe zu begegnen. Der Herzschlag beschleunigt sich nur noch leicht, wenn ein deutsches Flugzeug irgendwo ganz nah und tief fliegt... Ich fühle mich unheimlich ruhig, wenn meine Frau und meine Kinder in einem Luftschutzkeller sind.
17. Oktober
Es wird gemunkelt, dass man einen großen Angriff durch deutsche Flugzeuge erwarte. Mir fällt es schwer, den Sinn dieser Maßnahme zu begreifen. Charkiw wird so oder so aufgegeben werden, wenn nicht morgen, so doch gewiss in zwei Wochen oder einem Monat. Warum zerstören sie die Stadt, die ihnen gehören wird? ... Die letzten Kommunisten verlassen die Stadt. Wahrscheinlich sind die Deutschen schon sehr nahe, denn die Karren werden in östlicher Richtung durch die Stadt gezogen. Wenn sie Charkiw doch nur ohne Blutvergießen übergeben hätten. Schließlich gibt es zwischen den Städten viel Platz, und es wäre bequem, die Kämpfe dort auszutragen. Warum ist es notwendig, in der Stadt zu kämpfen? Das ist doch gänzlich sinnentleerte Grausamkeit! Es ist jetzt fünf Uhr. Es gibt kein Licht. Die Fenster sind mit Brettern vernagelt und verdeckt. Ich schreibe im Schein einer flackernden Kerze. Klirrende Kälte! Aufgrund des Mangels an Elektrizität ist der elektrische Kamin nicht in Betrieb. Die Temperatur im Zimmer beträgt kaum +5 С°.“
Jene Einwohner:innen von Charkiw, die die Besatzung der Stadt als kleine Kinder überlebten, trugen die Erinnerung an die Bombardements ihr ganzes Leben lang mit sich. Anna Popowa, zu Beginn des Krieges ein 11-jähriges Mädchen, erinnerte im Jahr 2020:


„Die Bombardements waren schrecklich. Wie ein Dreieck wurde im Garten ein Graben ausgehoben, und alle Nachbarn rannten dorthin und versteckten sich. Es war so schrecklich, als ob in jedem Augenblick eine Bombe auf dich fallen würde. Und dann spürte ich zum ersten Mal in meinem Leben, was Angst ist, und dieses Gefühl der Angst blieb bei mir für den Rest meines Lebens. Das ist wahre Angst.“

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Die Evakuierung
Im Anschluss an die täglichen Bombardements begann die massenhafte Evakuierung von Unternehmen und Stadtbewohner:innen. Die Evakuierung verlief größtenteils überstürzt: die sowjetische Führung priorisierte Unternehmen und Ausrüstung, nicht aber die Menschen. Jene, die in Charkiw zurückgeblieben waren, versuchten die Stadt auf eigene Faust zu verlassen. Die Menschen stürmten die Züge buchstäblich in der Hoffnung, sich und ihre Kinder zu retten.
 
Inna Havrylchenko, eine Schriftstellerin aus Charkiw, die während der gesamten Besatzungszeit in der Stadt blieb und deren Vater 1942 verhungerte, erinnert sich im Jahr 2020: „Dort, am Bahnhof, sah ich zum ersten Mal in meinem Leben und auch zum letzten Mal in meinem Leben, wie ein Mann über die Menge lief, indem er über ihre Köpfe ging. Können Sie sich das vorstellen? Er trat in diese Militärstiefel (wie konnte er sein Gleichgewicht halten?), stolperte (die Köpfe sind rund), stolperte über die Schultern, aber er ging über ihre Köpfe! Am Ende fiel er, fiel vorwärts. Wie er fiel, ob er aufstand – das sah ich nicht. Aber ich träume immer noch: Militärstiefel, die über Köpfe gehen... Du bewegtest dich nicht selbst. Die Menge trug dich. Ich erinnere mich an so ein wildes Bild: Da war ein alter Wagon, bei dem ein paar Fenster hochgezogen waren, andere waren heruntergelassen. Eine Frau mit Kleinkind vor uns eilte zu einem solchen Fenster und schob das Kind in den Fensterspalt hinein. Und sie sagt: ‚Nehmt wenigstens den Säugling!‘ Es war unmöglich, in die Waggons hineinzukommen. Einige klammerten sich an die Puffer, wissen Sie. Einige stiegen auf die Dächer des Zuges. Und sie, die nicht auf das Dach klettern oder auf dem Puffer mitfahren konnte, schubste das Kind: ‚Nehmt wenigstens ihn mit!‘ Ohne zu wissen, wohin! Nehmt einfach das Kind mit. Denn Charkiw war schon stark zerbombt.“
Auch jene, die die Stadt im Rahmen einer organisierten Evakuierung verließen, litten auf dem Weg; sie waren monatelang unterwegs, halb verhungert und gezeichnet von der Kälte und den unhygienischen Bedingungen. Anna Popowa wurde bereits im Oktober 1941 in einem der letzten Flüchtlingszüge aus Charkiw in den Ural evakuiert. Sie erinnert sich an ihren Weg in die Evakuierung: „Bald würde die Fabrik meines Vaters in den Ural verlegt. Wir saßen in einem Begleitwagen. Da waren Arbeiter, Monteure und Angestellte. Es gab Kälberwaggons. Auf dem Fußboden des Wagens befanden sich 40 Personen, rechts die Männer, links die Frauen, in zwei Reihen. Stand man nachts auf, bedeutete dies mitnichten, dass man sich auch wieder hinlegen konnte, denn der Platz wurde schnell wieder besetzt... Kinder starben an der Ruhr. Sie wurden auf dem Feld begraben. Es war ein grauenvoller Zustand. Wir gingen, und zwei Wochen später besetzten die Deutschen die Stadt. Das gesamte Auto schluchzte. Wir reisten einen Monat lang. Unter schrecklichen Bedingungen. Nur in Penza hielten wir kurz an, um uns zu waschen. Man brachte uns in eine Badeanstalt. Es herrschten also abscheuliche Bedingungen, es gab Läuse. Nun ja, alle hatten sie, es war die Norm des Lebens.“
Die Ohnmacht
Aus Lev Nikolaevs Tagebuch:


„22. Oktober. Meine gestrige Vorhersage ist nicht eingetreten: Die Deutschen sind noch nicht in die Stadt eingedrungen. Artilleriebeschuss ist zu hören: irgendwo ganz in der Nähe, aber noch außerhalb des Stadtrings. In der ganzen Stadt gibt es keine Polizei mehr. An einigen Stellen wird die Front von Militärs bewacht. Aber im Großen und Ganzen regiert hier der Mob. Viele Betrunkene. Ich habe Randalierer gesehen, die obszöne Lieder grölten und Zylinderhüte trugen. Die müssen sie irgendwo gestohlen haben (ist das nicht im Theater?).“

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Am 22. Oktober verließ die letzte Lokomotive Charkiw, und ab dem 19. Oktober wurde der städtische Nahverkehr nicht mehr bedient. Zu Zeiten der Sowjets wurde über diese wenigen Tage vor Ankunft der Deutschen kaum gesprochen, denn die Stadt befand sich in einem wilden Durcheinander aus Verunsicherung und Gesetzlosigkeit. Die berühmte sowjetische Schauspielerin Ljudmila Hurtschenko, eine gebürtige Charkiwerin, schrieb in ihren Memoiren „Applaus“ erstmals öffentlich über diese kurze, aber intensive Zeit, die die Bewohner:innen der Stadt später als „Grabilowka“ („Raub“) bezeichneten. Sie erinnert sich an die Plünderung der örtlichen Süßwarenfabrik und an eine Episode, als ein Mann in einem großen Fabrikbehälter mit Melasse ertrank, weil er versuchte, ein Becken mit dieser Mischung zu füllen.
Eine ähnliche Geschichte berichtet Inna Havrylchenko. Sie erklärt, die Stadtverwaltung erlaubte den Menschen, sich während des Rückzugs der sowjetischen Truppen Waren anzueignen: „Wir hörten: ‚Hier spricht das Hauptquartier der Verteidigung der Stadt Charkiw! Genossinnen und Genossen, alle Lebensmittellager werden in den nächsten Stunden geöffnet werden. Bevorratet euch mit Wasser und Lebensmitteln für sechs Tage!‘ Wir fragten uns, warum sechs, warum nicht eine Woche, nicht fünf? Deshalb werde ich mich für den Rest meines Lebens daran erinnern. Aus irgendeinem Grund sagten sie sechs Tage. Vielleicht hatten sie vor, die Stadt zurückzuerobern. Wahrscheinlich war es das. Aber jetzt erinnere ich mich, dass alles geöffnet wurde, und die Zeit begann, die man ‚Grabilowka‘ nannte. Das bedeutete, die Leute nahmen alles mit... Aus ‚KOFOK‘ - einer Süßwarenfabrik in der Nähe des Blagoweschtschenskij-Marktes – brachte unser Nachbar als erstes einen Sack Zucker. Und vielleicht war die Tüte undicht, denn dahinter bildete sich eine Art Wirbel aus Zuckersand. Dieser Nachbar, Onkel Kolja, war betrunken und völlig aufgebracht. Aber warum? Wie sich herausstellte, waren die Lagerbestände von ‚KOFOK‘ geöffnet worden. Dort gab es diese Tanks ... mit Alkohol. Damals ertranken dort mehrere Menschen – volltrunken. Einige Leute hatten Behältnisse, Eimer oder Büchsen, aber Onkel Kolja hatte keinen Behälter und schleppte deshalb nur Zucker. Er war betrunken, er hatte sich dort einen angetrunken, dennoch war er verzweifelt, weil er kein Gefäß mitgenommen hatte... Wir nahmen nichts, aber unten im ersten Stock (wir wohnten im zweiten Stock) wohnte eine Familie. Sie brachten acht Säcke mit Mehl und Nudeln.“
Der Beginn der Besatzung: Gewalt, Terror, Hunger
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Die Etablierung einer „neuen Ordnung“
 
Am Tag vor der Eroberung Charkiws erließ der Kommandeur des 55. Armeekorps der Wehrmacht, General Erwin Vierow, einen Befehl über den Umgang mit der Zivilbevölkerung. Darin hieß es: „alle Mittel der Sieger sind richtig, wenn sie zur Herstellung von Frieden und Ordnung in Charkiw beitragen“. Und weiter: „Extreme Grausamkeit in der Behandlung der lokalen Bevölkerung ist notwendig und zwingend.“
 
Der erste Mann wurde einen Tag nach der Einnahme von Charkiw gehängt, am 25. Oktober 1941. Für solche Einschüchterungsaktionen nutzten die Deutschen mit Vorliebe belebte Orte in der Innenstadt – Plätze, Hauptverkehrsstraßen, Märkte – und ließen die Leichen mehrere Tage lang hängen. Während des ersten Monats der Besatzung hängten die deutschen Besatzer 116 Menschen im Stadtgebiet. Vom ersten Tage an waren diese Exekutionen öffentlich: Die Militärkommandantur versammelte die Einwohner:innen auf dem zentralen Platz und zwang sie regelrecht, den Hinrichtungen beizuwohnen. Als Ort war der Balkon des regionalen Parteikomitees gewählt worden. Diese Aktion hatte eine symbolische Bedeutung: die Nazis verkündeten die „neue Ordnung“ und zeigten Stärke.
Der damals in Charkiw lebende Mykhailo Usyk führt während der Besatzung ein Tagebuch. Am 30. Oktober 1941 macht er folgende Notiz: „Ich ging wieder zum Dserschinski-Platz, um das Radio zu hören. Regen. Menschen stehen in Grüppchen umher. Einige verstecken sich unter den Eingängen und auf den Treppen der Häuser vor dem lästigen Herbstregen. Sie harren aus.... Die Masse setzt sich in Bewegung und rückt näher an den Balkon. Dann plötzlich... taucht dieses Bild vor meinen Augen auf: zwei stämmige Deutsche in Stahlhelmen, die Brust voller Polizeiabzeichen, werfen einem Mann einen Strick um den Hals. Ich stehe etwa 70-75 Meter entfernt. Ich kann nicht den ganzen Menschen sehen. Die Balustrade verdeckt ihn. Ich sehe nur seinen schwarzen, harzigen Kopf. Ja ... sie werden aufgeknüpft, kein Zweifel ... Frost auf der Haut. Ein Strick um den Hals. Die Deutschen ziehen den Mann hoch und lassen ihn mit dem Seil um den Hals hinunter – das Seil ist an einem Balken der Balustrade befestigt... Ein Raunen geht durch die Menge... Hysterische Aufschreie der Frauen. Der Mann zittert ein- oder zweimal und ist tot. Auf seiner Brust befindet sich in russischer und deutscher Sprache die Aufschrift: ‚Partisan‘.“
Ljudmila Hurtschenko betont in ihren Memoiren, dass Kinder bei diesen Schauhinrichtungen in der ersten Reihe stehen sollten, um sie zu sehen und zu verinnerlichen. Mit sechs Jahren wurde sie Zeugin einer solchen Hinrichtung, die sich auf dem zentralen Marktplatz der Stadt zutrug. Als sie erschrak, wandte sie sich ab, um ihre Mutter zu umarmen. Ein deutscher Offizier drehte ihr gewaltsam den Kopf in Richtung des Geschehens – sieh hin, merk dir das!
Die Hungerfolter
Neben dieser direkten, physischen und unmittelbar tödlichen Form der Gewalt begannen die Deutschen unverzüglich mit einer weiteren Tortur, die lang anhaltend, aber nicht weniger grausam war. Bei dieser verzögerten, vielmehr ausgedehnten Form der Gewalt handelte es sich um eine vorsätzlich ausgelöste Hungersnot, mit der die Stadt unmittelbar nach Beginn der Besatzung drangsaliert wurde.
Alle, die das Jahr 1941 in der Stadt erlebt haben und davon erzählen konnten, erinnern sich an die Hungersnot, die fast unmittelbar nach der Besetzung der Stadt begann. Lev Nikolaev schreibt am 9. November 1941 in sein Tagebuch:
„Ich kam am Markt von Sumy vorbei und kehrte entsetzt zurück: Der Hungertod ist offenbar unvermeidlich. Es mag möglich sein, die Zeit bis dahin um einige Wochen hinauszuzögern, aber unsere Familie wird nicht in der Lage sein, diesen unausweichlichen Ausgang im Winter 1941-1942 zu vermeiden... Heute bin ich Zeuge einer ekelerregenden Szene geworden: ein deutscher Soldat weidete den Kadaver eines Stieres aus. Etwa zwanzig Krankenschwestern und Angestellte des Instituts versammelten sich um ihn und flehten ihn an, ihnen ein Stück zu abgeben. Sie sahen aus wie kleine Hunde, die auf ihren Hinterbeinen um ihren Speisemeister herum kauerten. Der Deutsche schob sie einfach beiseite. Schließlich schnitt er die Lunge und den Kehlkopf heraus und überreichte sie einer Pflegerin, die sich dafür mit einem unterwürfigen Blick bedankte, ... abscheulich! Muss ich für meine Kinder etwa auch so tief sinken? Solche Sätze hören sich irgendwie sonderbar an: ‚Die Frau von Professor Timofejew hat Glück: In ihrem Haus wohnen sehr gütige Deutsche. Sie rauben sie nicht nur nicht aus, sondern versorgen sie zudem mit überschüssigen Lebensmitteln.‘ Es ist seltsam: sich über die Almosen zu freuen, die eine intelligente Frau, eine Lehrerin, vom Tisch der Deutschen erhält! Und solche Sätze werden mit Neid gesprochen...“
Diese Überbleibsel tauchen oft in den Erinnerungen jener auf, die die Besatzung als kleine Kinder überlebt haben. Sie können sie ein Leben lang ins Gedächtnis rufen. Ljudmila Pysanenko erinnert sich, wie man ihr eine Büchse Fisch in Tomatensoße zu riechen gab. Die Deutschen aßen und warfen die Büchse fort. Die Kinder fanden sie und leckten und schnupperten lange daran. Die Frau aus Charkiw erinnert sich auch an die Häute und Abfälle von Würsten, deren Geruch sich fest in ihr Gedächtnis gebrannt hat. Historiker:innen berichten, dass während der Besatzung der Stadt etwa hunderttausend Menschen dem Hungertod zum Opfer fielen. Durch den Hunger verloren die Menschen den Verstand, wurden kriminell und begingen Suizid. Die Toten konnten lange Zeit nicht begraben werden, besonders im Winter 1941-42: wochenlang lagen die Leichen in Wohnungen oder unter freiem Himmel. Zeitzeug:innen berichten von Fällen des Kannibalismus. Der Handel mit Leichenteilen auf dem Markt wurde von den Deutschen mit dem Strick bestraft.
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Die Ermordung der Charkiwer Jüd:innen
Der Höhepunkt der nationalsozialistischen Gewalt gegen die Zivilbevölkerung war die Massenerschießung von Häftlingen aus dem Charkiwer Ghetto in Drobitzkij Jar am Rande der Stadt. Innerhalb weniger Tage um den Jahreswechsel 1941/42 wurden dort über 10.000 Charkiwer Jüd:innen ermordet. Die „Aktion“, wie die Nationalsozialisten das Verbrechen nannten, wurde mehrfach durch Angriffe sowjetischer Flugzeuge unterbrochen, woraufhin die Mitglieder der Einsatzgruppe die Erschießungen fortsetzten. Augenzeug:innen erinnern sich, dass bei der Liquidierung des Ghettos auch eine „Dushegubka“ zum Einsatz gekommen sein soll – ein speziell präpariertes Fahrzeug mit einem nach innen geleiteten Auspuffrohr und versiegelten Türen. Die Menschen erstickten an den Abgasen und starben innerhalb weniger Minuten qualvoll.
Jene, die das Glück hatten, aus dem Ghetto zu entkommen, berichten von den entsetzlichen Bedingungen ihres Aufenthalts, von Misshandlungen und Morden. Alexander Gorbonos erinnert sich: „Die Lebensbedingungen waren das Schlimmste. In dem Raum, den wir betraten, gab es keinen Platz, weder um sich hinzulegen noch um auf dem Boden zu sitzen. Die Menschen standen einfach nur da. Stellen Sie sich vor, in jeder Baracke lebten etwa 4.000 Menschen. Keine Vorräte, kein Wasser, keine sanitären Einrichtungen. Es herrschte eine strenge Ausgangssperre. Die Sperrstunde erstreckte sich über die dunklen Stunden – von 16 Uhr bis 8 Uhr morgens, es war Dezember, kurze Tage. Sie wurde peinlich genau eingehalten. In unserer Baracke trat ein Junge – älter als ich damals war – morgens aus der Tür, es schien schon 8 Uhr zu sein. Er hatte die ganze Nacht ausgeharrt, es waren so viele Menschen da, und es gab keine Toiletten. Er wurde noch auf der Veranda der Baracke erschossen ...“
In der sowjetischen Nachkriegszeit wurde die Erinnerung an den Massenmord an den Charkiwer Jüd:innen (wie auch an anderen Jüd:innen des Landes) sorgfältig aus dem kollektiven Gedächtnis der Stadt verdrängt. Die ermordeten und erschossenen Jüd:innen wurden als „Opfer des Faschismus“ bezeichnet, und die Gedenkschilder enthielten Inschriften über friedliche Sowjetbürger:innen. Die Erinnerung an die Tragödie der Charkiwer Jüd:innen hat sich jedoch in urbanen Legenden bewahrt, von denen die berühmteste die Geschichte von „Yosya mit dem Wasserkessel“ ist. Im Herbst 1941 lebte Yosya mit seinen Eltern in einer Straße im Zentrum von Charkiw. Unmittelbar nach ihrer Ankunft besetzten die Nazis ihre Wohnung und erhängten Yosyas Eltern auf dem Balkon. Nur einige Minuten, bevor sich die Tragödie ereignete, gelang es seiner Mutter, Yosya Milch holen zu schicken. Sie gab ihm einen kleinen Kessel, in den sie etwas Geld legte. Der sechsjährige Junge stand in der Nähe des Einkaufsladens und sah mit eigenen Augen die Ermordung seiner Eltern. Einige Nachbar:innen versteckten ihn bis zum Ende der Besatzung bei sich. Als sie zu Ende war, begann Yosya, jeden Tag zum Laden zu kommen. Er betrachtete den Balkon seines Hauses und weinte, während er den alten Kessel fest umklammert hielt. Er verlor den Verstand und blieb für immer das Kind, das in der Nähe des Milchladens auf seine Mutter wartete. Alle Bewohner:innen des Viertels kannten ihn und seine Geschichte, unterstützten ihn und waren nachsichtig mit ihm. Bis Anfang der 1990er Jahre stand er fast jeden Tag mit seinem Kessel da, ein großer, adrett gekleideter, grauhaariger und dünner Jude namens Yosya, der sein Leben lang sechs Jahre alt geblieben war.
Ich vermag es nicht, mit Gewissheit zu sagen, aber es scheint mir, dass auch ich ihn einmal neben dem Kaufladen gesehen habe, als ich noch ein kleines Mädchen war...
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Dieser Text basiert auf Gelinada Grinchenkos demnächst erscheinendem Buch und einer Reihe von begleitenden Kurzfilmen mit dem Titel "Über Charkiw und sich selbst: Erfahrungen und Schicksale aus einer Großstadt in mündlichen Geschichten ihrer Einwohner“. Die Arbeit an dem Buch und den Filmen begann im Jahr 2021 und wurde durch den russischen Krieg gegen die Ukraine unterbrochen. Sie wertet hier unter anderem das Tagebuch Lev Nikoaevs aus dem Kurganov-Archiv wie auch Zeitzeugen-Berichte des Projektes "Voices" (2018-2021) des Babyn Yar Holocaust Memorial Centers aus. Die erste Folge dieser Dokumentarserie, die vom Kriegsbeginn 1941 in Charkiw handelt, können Sie sich hier ansehen:
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Der Film entstand mit Unterstützung der Konrad-Adenauer-Stiftung Ukraine (Büro in Charkiw).
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Hinweis: Bei Erstveröffentlichung dieses Beitrags hatten wir historische Fotografien aus dem besetzten Charkiw eingebunden, als deren Urheber der Wehrmachtsfotograf Johannes Hähle vermutet worden war. Tatsächlich handelte es sich bei dem Fotografen jedoch um Hermann Hoeffke, ebenfalls ein Angehöriger der Propagandakompanie der Wehrmacht. Wir haben die Bilder daher wieder aus dem Beitrag entfernt, solange die Nutzungsrechte der Bilder nicht geklärt sind.