Das Forschungsprojekt erforscht die ostmitteleuropäischen Diskurse und Debatten zur Praxis der Familienplanung von der Mitte des 19. bis ins mittlere 20. Jahrhundert – ein schon damals ebenso hochpolitisches wie kontroverses Thema.
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Praktiken der Familienplanung, d.h. Abtreibung und der (freie) Zugang zu Verhütungsmitteln stellen bis in die Gegenwart in allen Gesellschaften ein hochpolitisiertes und -kontroverses Thema dar. Dieses zeigen etwa die erhebliche Einschränkung von Abtreibungsmöglichkeiten unter der gegenwärtigen polnischen Regierung oder auch die gegenwärtigen Debatten in der Bundesrepublik um eine Aufhebung des Werbeverbotes von Abtreibungsärzten. "Familienplanung" resp. "Geburtenkontrolle" entwickelte sich unter verschiedenen gesellschaftspolitischen, sozialen und kulturellen Einflüssen auf der einen und einer zunehmenden Verhütungs- und Abtreibungspraxis auf der anderen Seite zu einer freiheitlichen Wertvorstellung der Moderne im euro-atlantischen Raum.
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Jedoch beeinflussten nicht nur anglo-amerikanische und deutsche Praktiken und (Frauen-) emanzipatorische, sexualreformerische, bevölkerungspolitische, eugenische und "rassehygienische" Diskurse diese Entwicklung, sondern, so eine Grundprämisse des Projektes, ebenfalls die ideologisierte Familienpolitik der 
Sowjetunion
eng. Soviet Union, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR, Russisch: Союз Советских Социалистических Республик (СССР) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Die UdSSR wurde von ungefähr 290 Millionen Menschen bewohnt und bildete mit ca. 22,5 Millionen Quadratkilometern den größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem.

. "Familienplanung" ist daher nicht allein als individuelle freiheitliche Rechtsvorstellung, sondern zugleich auch Objekt gesellschaftspolitischer staatlicher Interventionen zu sehen. "Familienplanung" ist daher hochpolitisierte und zugleich zutiefst säkulare Wertvorstellung.
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Grundannahme ist, dass sich diese Wertvorstellung von "unten" durch individuelle, teils auf neuestem medizinisch-technischem Wissen basierende Praktiken entwickelte, dass die sie legitimierenden bzw. auch ablehnenden Diskurse auf diese Praktiken reagierten. "Familienplanung" wird daher als gesellschaftliche Wertvorstellung gesehen, die einerseits eine transnationale Wirkung entfaltete, andererseits aber auch die jeweiligen gesellschaftspolitischen, ideologischen und letztlich auch staatlichen Bedürfnisse widerspiegelte. Zugleich sollen die transnationalen Vernetzungen durch Rückbezüge in den Diskursen, aber auch etwa durch den Besuch von internationalen Fachkongressen und den Austausch einschlägiger Wissenschaftler/innen, Aktivist/innen und Politiker/innen analysiert werden. Durch diesen Ansatz können transnationale Vernetzungen und damit der Ideen- und Wertetransfer sowie die spezifischen Grundlagen und besonderen Ausprägungen für das jeweilige gesellschaftliche Verständnis von „Familienplanung“ und damit von „Familie“ herausgearbeitet werden. Das Projekt untersucht in vergleichender Perspektive die Entwicklung von „Familienplanung“ in der longue durée von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Einführung der „Pille“ in den 1960er Jahren.
Im Projekt werden zudem zwei separate Teilprojekte durchgeführt:
Dr. Elisa-Maria Hiemer: Zwischen „Flitterwochenhygiene“ und „Der Hölle der Frauen“: Polnische Debatten zur Familienplanung vom 19. Jahrhundert bis 1939
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Die um die Wende zum 20. Jahrhundert entstehenden Diskurse und Praktiken der „Geburtenkontrolle“ spiegeln zunächst die Politiken der imperialen Mächte 
Deutsches Reich
eng. German Reich

Das Deutsche Reich war ein von 1871 bis 1945 existierender Staat in Zentraleuropa. Die Zeit von der Gründung bis 1918 wird als Deutsches Kaiserreich bezeichnet, dann folgte die Zeit der Weimarer Republik (1918/1919-1933) und die des Nationalsozialismus (sogenanntes Drittes Reich) von 1933 bis 1945. Als Tag der Reichsgründung gilt der 01.01.1871.

Russländisches Kaiserreich
rus. Росси́йская импе́рия, rus. Rossijskaja imperija, eng. Russian Empire, deu. Russisches Kaiserreich, deu. Russländisches Reich

Das Russische Kaiserreich (auch Russländisches Kaiserreich, Russisches Reich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.

 und 
Österreich-Ungarn
deu. Donaumonarchie, deu. Doppelmonarchie, deu. Habsburgerreich, deu. Habsburgisches Reich, deu. Habsburgermonarchie, hun. Osztrák-Magyar Birodalom, eng. Austria-Hungary, eng. Austrian-Hungarian Monarchy, eng. Austrian-Hungarian Empire

Österreich-Ungarn (ung. Osztrák-Magyar Monarchia), auch als k. u. k. Monarchie bekannt, war ein historischer Staat in Mittel- und Südosteuropa, der von 1867 bis 1918 bestand.

 wider. Sie wurden aber insbesondere nach der Staatsgründung von eigenen bevölkerungs- und nationalitätenpolitischen Zielsetzungen überlagert, zumal 
Polen
eng. Poland, pol. Polska

Polen ist ein Staat in Mittelosteuropa, ein Mitglied der Europäischen Union. Unter dem heutigen Namen ist das Land seit dem 10. Jahrhundert bekannt.

 zwar als Nationalstaat gegründet wurde, de facto aber multiethnischen Charakter hatte. Von Bedeutung ist, dass in der longue durée die Gesellschaft in besonderer Weise von der katholischen Kirche und den Folgen des Ersten und Zweiten Weltkriegs beeinflusst wurde. Ziel des Teilvorhabens ist es, entsprechende Netzwerke und Akteure zu identifizieren, die Haltungen aus dem „Zentrum“ der Diskurse und Debatten an die „Peripherie“ brachten, um herauszuarbeiten, wie die Gesellschaft diese rezipierte und weiterentwickelte.
Für das Teilprojekt ist es zentral, das strukturelle Problem der polnischen Teilungen bis 1918 zu überwinden sowie die Kodifizierung des polnischen Rechts 1932 als Wendepunkte zu berücksichtigen. Hierzu wurden in mehreren Regionalarchiven die Bestände aus den Bereichen Ermittlungs- und Gerichtsakten, Gesundheitswesen, Frauenrechtsvereine und Presse ausgewertet. Um die Jahrhundertwende erfreuten zudem sich Eheratgeber immer größerer Beliebtheit. Hierzu werden nicht nur zahlreiche Ratgeber aus „dem Westen“ übersetzt, sondern auch polnische Ärztinnen, Geistliche und soziale Aktivistinnen gestalten mit ihren Publikationen einen eigenen Geburtenregelungs-Diskurs, der die polnischen Realia stärker berücksichtigt, z.B. den Topos der Mutterschaft und Familie als Schlüssel der polnischen Unabhängigkeit / Wiedergeburt des Staates.
Dr. Denisa Nešt’aková: "Seid fruchtbar und vermehret Euch." Familienplanung in der Slowakei unter drei Regimen (1918–1965)
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Das zweite Teilprojekt nimmt die Familienplanung in der Slowakei als Teil der historischen 
Tschechoslowakei
ces. Československo, slk. Česko-Slovensko, eng. Czecho-Slovakia, eng. Czechoslovakia

Die Tschechoslowakei war ein zwischen 1918 und 1992 in wechselnden Grenzen und unter wechselnden Namen und politischen Systemen bestehender Staat, dessen ehemalige Landesteile in den heutigen Staaten Tschechien, Slowakei und der Ukraine (Karpatenukraine, bereits 1939 ungarisch besetzt, ab 1945 an die Sowjetunion) aufgegangen sind. Nach 1945 stand die Tschechoslowakei unter politischem Einfluss der Sowjetunion, war als Satellitenstaat Teil des sog. Ostblocks und ab 1955 Mitglied des Warschauer Paktes. Zwischen 1960 und 1990 trug das kommunistische Land offiziell den Namen Tschechoslowakische Sozialistische Republik (abgekürzt ČSSR). Die demokratische politische Wende wurde 1989 mit der Samtenen Revolution eingeleitet und mündete 1992 in der Gründung der unabhängigen Tschechischen bzw. Slowakischen Republiken.

 in den Blick, da die Analyse der bis jetzt vorliegenden Forschungsliteratur gezeigt hat, dass sich die historische Aufarbeitung dieses Themas bislang vor allem auf die böhmischen Länder konzentriert und die Untersuchung des slowakischen Fallbeispiels vernachlässigt hat. Der geographische Rahmen und der Untersuchungszeitraum zwischen 1918 und 1965 ermöglichen es, die zentrale Bedeutung des Themas der Bevölkerungsreproduktion in drei unterschiedlichen Staaten und während dreier Regierungsformen zu erhellen (sprich: in der demokratischen tschechoslowakischen Republik, dem nachfolgenden faschistoiden slowakischen Staat und der sozialistischen Tschechoslowakei). Aufgezeigt wird dabei auch das Spannungsverhältnis zwischen den nationalpolitischen Interessen und den individuellen persönlichen Entscheidungen rund um die Familienplanung.
Das Projekt nutzt vielfältige historische Quellen, darunter Archivmaterial mit politischem oder juristischem Hintergrund, beispielsweise Berichte der Regionalverwaltungen oder Aufzeichnungen von Gerichtsverfahren gegen Frauen und Männer, die gegen Gesetze verstoßen hatten, die den Zugang zu Verhütungs- und Abtreibungsmöglichkeiten regulierten. Ebenso einbezogen werden jedoch auch Zeitungen, Zeitschriften oder Eheratgeber der Zeit. Die Einbettung der historischen Entwicklung der Familienplanung auf dem Gebiet der heutigen Slowakei in die breitere Sozialgeschichte der Tschechoslowakei ermöglicht dabei ein besseres Verständnis der Entwicklung der Familienpolitik im noch zu wenig erforschten slowakischen Teil der Tschechoslowakei. Darüber hinaus hilft sie, den aktuellen politischen und ideologischen Kampf um die sexuelle und reproduktive Gesundheit und die Rechte der Frauen in der Slowakei zu verstehen.