Brief aus dem Felde

Für die Jüdische Turnerschaft (JT) in Deutschland war die Positionierung gegenüber dem Zionismus ein wiederkehrendes Problem, das während des Ersten Weltkriegs an neuer Brisanz gewann. Max Cohns hier edierter Appell zur Wahrung des Status Quo wandte sich gegen die Forderung nach einer zionistischen Neuausrichtung, die zunehmend stärker und vor allem seitens der Jugend erhoben wurde. Cohns Position stand exemplarisch für die Haltung vor allem der älteren Turner:innen, welche die Palästina-Begeisterung auch als Fundamentalkritik an ihrem Selbstverständnis und Aufbauwerk verstanden, der Schaffung der nationaljüdischen und zugleich im deutschen Sinne staatstreuen Turnerschaft.

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Transkription (Deutsch)

Brief aus dem Felde
Von Max Cohn
Das Juli-Heft unserer „Turnzeitung“ bringt einen Bericht, über eine Tagung der nationaljüdischen und zionistischen Jugendvereine und einen Brief von Henry Unna , die mir die Feder in die Hand zwingen. Sowohl von zionistischer Seite wie von Unna wird der Jüdischen Turnerschaft mangelnde nationaljüdische Beeinflussung ihrer Mitglieder zum Vorwurf gemacht. Daß es statt „nationaljüdisch“, „zionistisch“ heißen soll, geht aus der Frage hervor, wieviel Zionisten die Jüdische Turnerschaft hervorgebracht habe. Von den Vertretern der Jüdischen Turnerschaft ist bereits die richtige Antwort darauf gegeben worden.
Wenn ich Unna und die Leiter der zionistischen Jugendorganisationen recht verstehe — und ein Mißverständnis ist ja wohl ausgeschlossen — so wollen sie unsere Turnerschaft, die ein ausgesprochen nationaljüdisches — nicht zionistisches Programm hat, zu einer zionistischen Propaganda-Organisation umgestalten. Gegen derartige Versuche kann man nicht energisch genug Stellung nehmen; und ich hoffe, daß die Aufforderung zu einer Diskussion dieser Frage alle, die an unserem bewährten nationaljüdischen Programm festhalten wollen, veranlassen wird, laut und vernehmlich dagegen ihre Stimme zu erheben. Viele von uns — „die Besten “, wie Unna sagt — stehen im Felde. Wir können an den Beratungen nicht teilnehmen, aber wir müssen verlangen, daß man uns hört und nicht über unseren Kopf hinweg die Tendenzen unserer Turnerschaft ändert — „intensiviert“, wie Unna sich ausdrückt. |10|
„Man hatte unseren Inhalt etwas zu einseitig vom Standpunkt der Volkshygiene gesehen und die Ziele unserer national-jüdischen Jugenderziehung gar zu stiefmütterlich behandelt“ schreibt Unna. Ich habe nie etwas Verkehrteres über unsere Ziele gelesen. Niemals war unser Ziel die körperliche Regeneration unseres Volkes. Der Sinn und Zweck unserer Turnerschaft ist einzig und allein die Erziehung der jüdischen Jugend in nationalem Geiste. War es von Anfang an und wird es immer bleiben. Das Turnen war uns stets nur ein Mittel zum Zweck. Auf dem Turnboden sollten in unserer Jugend die allgemein-menschlichen Tugenden wieder erweckt werden, die in unserem Stamme in Jahrhunderten der Unterdrückung eingeschlummert waren. Die Tugenden eines Bar Kochba, eines Juda Makkabi, deren Namen ein großer Teil unserer Vereine — nicht zufällig sondern als ein Banner — trägt: Mut, Entschlossenheit und Tatkraft, die Hingabe unserer Person an die gemeinsame Sache einer größeren Gemeinschaft.
Wenn wir diese Gemeinschaft eine jüdische sein ließen, als jüdisch auch nach außen hin kennzeichneten, so taten wir das nicht, obwohl uns daraus Schwierigkeiten und Anfeindungen erwuchsen, sondern weil dies geschehen mußte. Jetzt mußten wir zeigen, daß alles Lachen und Spotten über jüdische Schwäche, jüdische Feigheit und Angst leeres Gerede war — wenn wir nur wollten. Die Kräfte, die uns das Turnen lehrte, galt es jetzt in frisch-fröhlichem Kampfe zu üben für unsere „Jüdische Turnerschaft.“ Für ihr Dasein, ihre Ehre, ihren Ruhm.
Und wie das Ansehen, das wir uns als Turner - und Sportsleute erwarben, so wuchs unser Stolz darauf, daß es uns als Juden gezollt, wurde. Wir gewannen Vertrauen zu jüdischer Kraft, jüdischer Stärke, jüdischem Können. Und das, was da in unserer Jugend heranwuchs, war echtestes jüdisches Nationalgefühl: Stolz auf die Kräfte, die in unserem Volke leben.
Dieses Nationalgefühl in unserer Jugend zu erwecken, ist unser Ziel. Bis hierher geht die Aufgabe unserer Turnerschaft. Keinen Schritt weiter! Es ist selbstverständlich, daß wir auch nach innen unseren jüdischen Charakter betonten, durch jüdische Sprach- und Geschichtskurse, jüdische Feste, die wir mit der Geschichte unseres Volkes verknüpfen usw. In manchem Reiferen mag schon der Wunsch geweckt worden sein, der Welt zu zeigen, daß wir auch als Volk im eigenen Lande den edelsten der Völker der Erde ebenbürtig an die Seite treten könnten. Er wird seinen Weg zum Zionismus gefunden haben. Ihm diesen Weg zu führen, ist nicht unsere Aufgabe, denn wir sind keine Zionisten.
Wer unser Ziel und unser Streben anders sieht, als ich es hier darstellte, der hat den Ernst unserer jüdisch-nationalen Arbeit nie empfunden, ist blind an all‘ den schönen und herrlichen Aufgaben, die uns unser Programm stellt, vorbei gegangen. Ihm mag es notwendig erscheinen, dieses Programm zu intensivieren.
Wir aber, die wir genau wissen, was wir wollen, halten an unserem bewährten alten Arbeitsplan fest. Unsere jüdische Arbeit leisten wir auf dem Turnboden, auf dem Sportplatz, im Ruderboot. Es ist wertvollste nationale Jugenderziehung, wie sie keine andere — auch keine zionistische Organisation leistet. Man störe uns in dieser Arbeit nicht. Sie wird uns ohnedies nach dem Kriege schwer genug werden.

Translations

Kommentar

von Martin Borkowski-Saruhan
 
Für die Jüdische Turnerschaft (JT) in  war die Positionierung gegenüber dem Zionismus ein wiederkehrendes Problem, das vor und während des Ersten Weltkriegs an neuer Brisanz gewann. Max Cohns Appell zur Wahrung des Status Quo wandte sich gegen die Forderung nach einer zionistischen Neuausrichtung, die zunehmend stärker und vor allem seitens der Jugend erhoben wurde. Cohns Position stand exemplarisch für die Haltung vor allem der älteren Turner:innen, welche die Palästina-Begeisterung auch als Fundamentalkritik an ihrem Selbstverständnis und Aufbauwerk verstanden, der Schaffung der nationaljüdischen und zugleich im deutschen Sinne staatstreuen Turnerschaft.
Über den Autor dieses „Briefes aus dem Felde“, Max Cohn, ist wenig bekannt. Seinen Beitrag verfasste er sehr wahrscheinlich tatsächlich im Kriegsdienst: Das Anschriftenverzeichnis einberufener Mitglieder, welches der dritten Kriegsnummer der Verbandszeitung beilag, verortete ihn noch im Februar 1918 in einer Königsberger Kaserne.1 Anders als in vielen anderen Fällen fehlte bei Cohn eine Berufsangabe, was angesichts von weit mehr als zwei Dutzend Einträgen dieses Namens im Berliner Adressbuch von 1910 die weitere Eingrenzung erschwert.2 Der Heimatverein – Bar Kochba Berlin – jedoch war verzeichnet. Dort zählte Cohn offenkundig zu den frühen Mitgliedern und damit zur Pioniergeneration der Jüdischen Turnerschaft (JT). Im Jahr 1904 hatte die Jüdische Turnzeitung eine Fotografie von Cohns Rücken- und Armmuskulatur als „gut durchgebildete“ Beispiele, wie die Bildunterschrift verhieß, abgedruckt.3 Angesichts der Seltenheit fotografischer Reproduktion im Heft war dies durchaus bemerkenswert.
Aus der Gegenwart heraus betrachtet ist die ideologische Kernfrage der Quelle leicht zu übersehen, denn die Schlüsselbegriffe „nationaljüdisch“ und „zionistisch“ dürften heutzutage, viele Jahrzehnte nach der Gründung des Staates Israel und angesichts der Existenz einer israelischen Nation, eher als Synonyme verstanden werden, und nicht als jene Unterschiede oder gar Antagonismen, die Max Cohn in ihnen sah und welche ihn zu seiner Polemik motivierten. Beide Begriffe bezeichnen Vorstellungen von einem jüdischen nationalen Projekt, welche sich unterschiedlich zu dem (Fern-) Ziel der Staatsgründung verhalten: „Zionistisch“ verweist spezifisch auf Palästina bzw. Erez Israel, „nationaljüdisch“ ist – nicht nur im Hinblick auf die Siedlungsfrage – sehr viel bedeutungsoffener. Schon zeitgenössisch bestand über die begriffliche Abgrenzung keineswegs Klarheit. Beispielsweise war die Zionistische Vereinigung für Deutschland (ZVfD) vor ihrer Umgründung 1897 als National-jüdische Vereinigung bekannt. Und Theodor Herzl selbst definierte den Zionismus in der Eröffnungsrede zum ersten Zionistenkongress in Basel zuallererst als „Heimkehr zum Judentum noch vor der Rückkehr ins Judenland“ definierte.4 Zum „Basler Programm“ gehörte zwar konstitutiv auch die politische Forderung nach einem jüdischer Staat in Palästina, doch fremdelten in Deutschland selbst Zionist:innen mit diesem Territorium. Als ein konkreter Ort, der sich bereisen, erwerben, besiedeln und selbst bewohnen ließe, kam er für die Meisten lange Zeit nicht in Frage, sondern allenfalls für die Gleichgesinnten in Ost(mittel)europa. In der Praxis spielte Palästina als geopolitischer Kern des nationalen Projekts somit eine nachgeordnete Rolle, und ihren eigenen Platz sahen sowohl nationaljüdisch als auch zionistisch Gesinnte zuvorderst in Deutschland.
Jüdische Turner:innen und Sportler:innen waren überwiegend in allgemeinen Vereinen organisiert, was dem Deutschen Kreis der JT eher ein Schattendasein beschied. Der Eintritt in einen der 1918 elf Mitgliedsvereine konnte daher als bewusster Ausdruck eines nationaljüdischen Selbstverständnisses gelten.5 Im Jahr 1905 kam es auf dem Zweiten Jüdischen Turntag zu einer Auseinandersetzung um die Positionierung zum Zionismus und als Kompromiss wurde die politische Neutralität des Verbands in seinen Statuten festgeschrieben.6 Nicht zuletzt verbarg sich darin auch eine bei der Deutschen Turnerschaft abgeschaute Überparteilichkeit, die ostentativ staatstragende Loyalität gegenüber dem Kaiserreich ausdrückte.7 Gleichwohl kooperierten JT und Zionist:innen regelmäßig und näherten sich am Vorabend des Ersten Weltkriegs einander noch weiter an, etwa bei der Ausgestaltung der Programmarbeit oder durch temporäre personelle Verflechtungen zwischen JT und ZVfD.8
 
Parallel dazu vollzog sich in der Führung der JT ein Generationenwechsel. die diese Entwicklung maßgeblich vorantrieb. Schon unter den Gründern hatte es aktive Zionisten gegeben, die aber die Verbreitung von Turnen und Sport in allen Strömungen der jüdischen Gemeinschaft priorisierten.9 Der junge Zahnarzt Henry Unna (1888–1976), auf dessen Artikel Max Cohn in der Quelle Bezug nimmt, war bei diesem Wechsel eine Schlüsselfigur. Während des Studiums war er Mitglied in einem jüdischen Studentenverein und wurde 1911 Redakteur der Jüdischen Turnzeitung. Der Fünfte Jüdische Turntag, der u.a. auch eine Intensivierung der Jugendarbeit beschloss und eine mit der ZVfD abgestimmte kulturelle Ausbildung in den Vereinen verankerte, wählte ihn im Mai 1912 als Geschäftsführer in den Ausschuss genannten Vorstand der JT.10
Unna engagierte sich für eine weitere Annäherung an den Zionismus und setzte im Verband erfolgreich eine Palästina-Orientierung ins Werk. Zwischen 1906 und 1910 war wiederholt in der Jüdischen Turnzeitung die Idee einer Palästina-Fahrt lanciert worden, doch konkretisierten sich die Pläne mangels Resonanz der Mitglieder und wohl auch aus finanziellen Gründen nie.11 Als nun Unna im Sommer 1912 einen neuen Anlauf startete, mündete die Initiative schließlich tatsächlich in der Turnfahrt 1913, woran sich durch Lesen der Jüdischen Monatshefte für Turnen und Sport regen Anteil haben ließ.12 Aber nicht allein als Lektüre und Imaginarium war damit die Palästina-Arbeit JT verankert, sondern als körperlich erfahrbare Praxis.
Der Krieg setzte dieser Entwicklung zunächst ein Ende. In den Vereinen der JT fehlten die Männer, in den Kriegsausschuss des Verbands rückten mit Elsbeth Alterthum, Rosa und Helene Cohn erstmals Frauen in Leitungspositionen vor. Henry Unna lag 1918 als verwundeter Kanonier im Lazarett in Halle an der Saale und brachte von dort „in einigen zwanglosen Feldbriefen […] Gedanken über Gegenwart und Zukunft der Turnerschaft“ für die Monatshefte zu Wort.13 Tatsächlich stand eine Richtungsentscheidung an: Zur Vorbereitung der Gründung eines „Gesamtausschusses der national-jüdischen Jugend Deutschlands“ sah sich die JT mit Forderungen von innen und außen konfrontiert, ihren bisherigen ideologisch neutralen Kurs zur Disposition zu stellen und sich klar zum Zionismus zu bekennen. Henry Unnas zweiter Brief aus dem Felde aus der Juli-Ausgabe 1918 der Monatshefte bildete als Stein des Anstoßes den unmittelbaren Schreibanlass für Max Cohn. Darin hob Unna die zentrale Rolle der Jugend für das Überleben der JT hervor und forderte deren Neuausrichtung als Teil einer jüdischen Jugendbewegung. Das alte Schlagwort der jüdischen Turner:innen von der körperlichen Regeneration sei längst vom Desiderat zur selbstverständlichen Praxis geworden, und so müsse sich die Programmatik um der Jüdischkeit willen zur konkreten zionistischen Erziehung weiterentwickeln.

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