Jüdischer Turnverein zu Köln

Der Bericht des Jüdischen Turnvereins zu Köln von 1902 (JTV 02) aus dem März des dritten Kriegsjahres 1917 ermöglicht einen Blick in den Kriegsalltag von Turnern und vor allem von Turnerinnen in Köln.

Transkriptionen

Transkription (Deutsch)

Jüdischer Turnverein zu Köln
Im vergangenen Jahre stand unser Verein im Zeichen des Krieges. Von den Turnern wurden alle ohne Ausnahme zum Heeresdienst eingezogen, soweit dieselben im dienstpflichten Alter standen. Es geht daraus hervor, daß wir durch Turnen, Sport und Wandern unsere Mitglieder körperlich hervorragend ausgebildet hatten. Es kamen zeitweise nur noch zwei junge Leute zur Halle. In den ersten Monaten des vergangenen Jahres bekamen wir einigen Zuwachs an jungen Leuten, die uns aber im Herbst schon wiederverlassen mußten, weil sie ebenfalls eingezogen wurden. Im April 1916 veranstalteten wir einen Propaganda-Abend und errichteten eine Sportriege, welche aber aus dem vorher angegebenen Grunde nicht zum richtigen Arbeiten gelangen konnte. Um das Leben im Verein nun aufrecht erhalten zu können, begannen die Wandergruppe, an der sich eine große Anzahl unserer Damen beteiligte, eine sehr eifrige Tätigkeit. Die Wanderungen wurden fast jeden Sonntag vorgenommen und fanden rege Beteiligung. Inzwischen wurde auch der erste Vorsitzende der Wandergruppe im Dezember eingezogen. Wir arbeiten mit den wenigen männlichen Mitgliedern, die noch hier sind, tapfer weiter und hatten jetzt zu Chanuka eine Maccabäerfeier in kleinem Rahmen. Unser jetziger Leiter Herr Salomon Linz Salomon Linz Salomon Linz war von 1910 bis 1913 und von 1916 bis 1919 I. Vorsitzender des JTV 02. Er war ein bekennender Liberaler. Seine Lebensdaten sind unbekannt. hielt eine Ansprache über die Maccabäer, nachdem vorher von demselben die Chanuka-Lichter angezündet worden waren und  „Moaus zur Jeschuaussi“
Fels meiner Rettung
auch:
Maos Zur
Ma'oz tsur yeshu'ati (Fels meiner Rettung) sind die Anfangsworte eines traditionellen Chanukka-Liedes, welches an Chanukka von aschkenasischen Juden aber auch in der Synagoge gesungen wird. Das Lied hat seinen Ursprung in Deutschland und stammt aus dem 13. Jahrhundert.
 gesungen war. Die Feier war sehr gut besucht und verlief in echt jüdischem Sinne.
Wenn auch die Schwierigkeiten für uns groß sind, so bleibt doch unser Turnbetrieb bestehen wie bisher, was wir besonders unserer Damenriege, die sehr eifrig turnt, verdanken. Wir hoffen daher, daß unser Verein nach dem Kriege in alter Weise neu blühen und gedeihen wird.

Translations

Kommentar

Der Jüdische Turnverein zu Köln gründete sich im Jahr 1902 und vertrat laut Statuten eine nationaljüdische Gesinnung. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern der Jüdischen Turnerschaft (JT), ein Zusammenschluss Jüdischer Turnvereine mit sogenannter national-jüdischer Tendenz. Um die Unterschiede zwischen nationalem Judentum und dem Zionismus auszuleuchten, ist ein Blick auf die Turn- und Sportvereine wie der JTV 02 einer war, erhellend. Denn der Verein zwar jüdisch-national orientiert, verstand sich aber dezidiert nicht als zionistisch. Das führte zur Trennung des Vereins von der Jüdischen Turnerschaft, als diese Anfang der 1920er Jahre ihren Mitgliedsvereinen empfahl, das Hebräische als Kommandosprache einzuführen und sich zum Zionismus zu bekennen. Der JTV 02 weigerte sich und bestand auf seiner Neutralität. Daraufhin verließen die zionistisch gesonnen Mitglieder den Verein und gründeten 1923 den SC Bar Kochba Köln. Der JTV 02 gehörte 1925 schließlich zu den Mitbegründern des Vintus („Verband jüdisch neutraler Turn- und Sportvereine Westdeutschlands“). Der Vintus versuchte, in den Auseinandersetzungen zwischen den deutsch-nationalen jüdischen Sportvereinen, die vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten (RjF) unter dem Namen organisiert wurden, und den zionistischen Vereinen, eine neutrale Position einzunehmen. 1933 wählte der JTV 02 allerdings eine Seite und trat dem Sportbund Schild des RjF bei. 1938 wurde er aufgelöst.1
Der Bericht des Jüdischen Turnvereins zu Köln von 1902 (JTV 02) aus dem März des dritten Kriegsjahres ermöglicht einen Blick in den Kriegsalltag dieses Vereins. Mit einigem Stolz weist der ungenannte Berichterstatter darauf hin, dass fast alle Turner zum Heeresdienst eingezogen wurden.2 Tatsächlich waren 32 Mitglieder im Frühjahr 1917 eingezogen worden. Der Verfasser führt diese hohe Zahl von Rekrutierten auf die gute körperliche Verfassung der Vereinsmitglieder zurück und tatsächlich war die Turnerbewegung ja auch entstanden, um die männliche deutsche Jugend zur Wehrhaftigkeit auszubilden. Diesem Ideal strebte auch der JTV 02 in den Jahren des Ersten Weltkriegs augenscheinlich nach. Die Kehrseite dieses Stolzes war, dass der Verein sich mit einem Mangel an männlichen Mitgliedern konfrontiert sah. Noch für den Verein aktiv waren demgegenüber drei Männer und neun Jungen. An die Stelle der Männer traten im JTV 02, ebenso wie in anderen gesellschaftlichen Bereichen, die Frauen, die sich rege an den Wanderungen beteiligten und auch „eifrig turnten“. Es handelte sich um 20 Frauen, die der Verein im Frühjahr 1917 als aktive Mitglieder angab.3 Ein Vergleich zu anderen Bereichen des öffentlichen Lebens, in denen Frauen die Aufgaben und Funktionen von Männern wahrnahmen, drängt sich auf. Es ist aber auch interessant zu sehen, dass diese vor allem weiblichen Aktivitäten, als Platzhalter gesehen wurden, damit der Verein nach dem Krieg „in alter Weise“ weiter bestehen könne. Allerdings sah sich der Verein auch in der unmittelbaren Nachkriegszeit mit einigen Problemen konfrontiert: mehrere Vereinsmitglieder waren im Krieg gefallen, die meisten Turnhallen und Sportplätze waren von den Besatzungsgruppen beschlagnahmt worden und eine polizeiliche Sperrstunde erschwerte zusätzlich den Turnbetrieb. Die Übungsstunden sowie gesellige Veranstaltungen konnten daher nur in den späten Nachmittags- und frühen Abendstunden stattfinden.4
Sowohl während des Krieges, als auch in der Nachkriegszeit war der Verein ein Ort, an dem gemeinsame Feiern das Zusammengehörigkeitsgefühl stärkten. Die Beschreibung der Makkabäer-Feier anlässlich des Chanukkafestes 1916 zeigt, dass der Turnverein nicht nur für sportliche, sondern auch für kulturelle Aktivitäten einen Rahmen bot. Angesichts von Mangel und der Abwesenheit von vielen Familienmitgliedern war möglicherweise die Rolle, die Vereine in Kriegs- und Krisenzeiten bei Festtagen spielten, noch größer als in Friedenszeiten.

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