1945: Kriegsende, Befreiung, Besatzung

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Am 8. Mai 1945 um 23.01 Uhr endete offiziell der Zweite Weltkrieg in Europa. Diesen Zeitpunkt legte die Kapitulationsurkunde fest, die der Bevollmächtigte des Deutschen Reiches, Generaloberst Alfred Jodl, am 7. Mai im Hauptquartier der westlichen Alliierten Expeditionsstreitkräfte in Reims unterzeichnete. Die Zeremonie fand ihre Fortsetzung in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai am Sitz des Oberkommandierenden der Roten Armee in Berlin-Karlshorst. Vor bevollmächtigten hohen Militärs der alliierten Siegermächte unterschrieben nun Vertreter aller drei Wehrmachtsteile kurz nach Mitternacht die überarbeitete Kapitulationsurkunde. Der doppelte Akt führte dazu, dass im Westen fortan des Kriegsendes am 8. Mai gedacht wurde, in der Sowjetunion aber – und bald auch im sich formierenden Ostblock insgesamt – am 9. Mai. Die Spaltung besteht bis heute, da nicht nur die Russische Föderation, sondern auch einige postsowjetische Staaten ihre Siegesfeiern zum Kriegende weiterhin am 9. Mai abhalten.

Ambivalenzen des Kriegsendes

Für die Deutschen verband sich das Kriegsende mit komplexen und sehr individuellen Erfahrungen zwischen Befreiung und Niederlage. Wie man diesen Tag erlebte, lag nicht nur an der jeweiligen politischen Nähe oder Distanz zum Nationalsozialismus. Es hing auch davon ab, ob man mit dem Ende des Krieges seine persönliche Freiheit zurückgewann oder ob damit erst Kriegsgefangenschaft und Zwangsarbeit begannen, ob man der Gefahr entrann, im Krieg zu sterben oder verwundet zu werden, oder ob man erst nach der Einstellung der Kampfhandlungen Opfer von Gewalt, Willkür und Verschleppung wurde. Vor allem Frauen in den von der Roten Armee besetzten Gebieten erlebten das Kriegsende als persönliche Bedrohung und Erniedrigung, weil sie der Willkür und Rache der Sieger ausgeliefert waren und in großer Zahl Opfer von Vergewaltigung wurden.  Überhaupt machte der Wohn- und Aufenthaltsort einen großen Unterschied für die individuelle Erfahrung des Kriegsendes. Deutsche, die sich zu diesem Zeitpunkt in den westlichen Besatzungszonen befanden, konnten auf die Einhaltung internationaler rechtlicher Standards hoffen. In der Sowjetischen Besatzungszone war das nur bedingt der Fall. Das von der Sowjetischen Militäradministration übernommene und als „Speziallager“ bis 1950 weitergeführte Konzentrationslager Sachsenhausen, mit Tausenden von Toten, ist nur ein Beispiel dafür. Auch machte es einen Unterschied, ob das Zuhause innerhalb oder außerhalb der von den Siegermächten festgelegten Nachkriegsgrenzen Deutschlands lag. Diejenigen, die außerhalb der neuen Grenzen lebten, verloren nach Kriegsende unweigerlich ihre Heimat. Die Siegermächte hatten nicht nur beschlossen, das deutsche Staatsgebiet zu verkleinern, sondern auch, dass deutsche Minderheiten aus den Staaten Ostmitteleuropas und den abzutretenden Reichsgebieten verschwinden sollten. Die Konsequenz war die Zwangsumsiedlung von Millionen von ethnischen Deutschen aus Ostmitteleuropa.
Es sollte 40 Jahre dauern, bis Bundespräsident Richard von Weizsäcker in seiner berühmt gewordenen Rede zum 8. Mai 1985 die Worte fand, um die widerstreitenden Gefühle der Deutschen zum Kriegsende zum Ausdruck zu bringen:

Der eine kehrte heim, der andere wurde heimatlos. Dieser wurde befreit, für jenen begann die Gefangenschaft. […] Der Blick ging zurück in einen dunklen Abgrund der Vergangenheit und nach vorn in eine ungewisse Zukunft. […] Wir haben wahrlich keinen Grund, uns am heutigen Tag an Siegesfeiern zu beteiligen. Aber wir haben allen Grund, den 8. Mai 1945 als das Ende eines Irrweges deutscher Geschichte zu erkennen, das den Keim der Hoffnung auf eine bessere Zukunft barg.1 

Noch vielfältiger und widersprüchlicher waren die Gefühle und Erfahrungen der Menschen in Ostmittel-, Nordost- und Südosteuropa angesichts des Kriegsendes und seiner Folgen. Sie hatten den Abzug der deutschen Truppen meist schon Monate vor dem offiziellen Ende des Krieges im Mai 1945 erlebt. Darauf war jedoch die Besetzung durch die Rote Armee gefolgt, die die wenigsten als wirkliche Befreiung empfanden. Es machte nicht einmal einen Unterschied, ob man wie Polen der Anti-Hitler-Koalition angehörte und damit theoretisch Siegermacht war, oder ob man wie Ungarn und Rumänien zu den Kollaborateuren gezählt wurde. Die einen wie die anderen erlebten, wie die sowjetische Führung in Moskau in Zusammenarbeit mit einheimischen Kräften unter dem Deckmantel des Antifaschismus sowjetfreundliche Regierungen durchsetzte, die anfänglich oft nichts anderes als Erfüllungsgehilfen sowjetischer Interessen waren. Wer nicht kollaborieren wollte oder gar Widerstand leistete, wurde politisch verfolgt. Für diese Menschen war das Kriegsende gleichbedeutend mit neuer Unfreiheit.

Umsiedlung und Entwurzelung

Schon der Krieg selbst hatte viele Millionen von Menschen entwurzelt. Die einen waren als Soldaten aus ihrem gewohnten Umfeld gerissen und auf Schlachtfelder fern der Heimat geschickt worden. Die anderen waren von den deutschen Besatzungsbehörden millionenfach zur Zwangsarbeit rekrutiert und an fremde Orte gebracht worden, um der deutschen Kriegswirtschaft zu dienen. Dazu kamen die Millionen von Jüdinnen und Juden, die zunächst deportiert und überall im östlichen Europa in Ghettos gepfercht worden waren, bevor die deutsche Führung im Herbst 1941 ihre systematische Ermordung beschloss und die Shoah begann.   Zudem waren Millionen von nichtjüdischen Menschen während des Krieges von Zwangsumsiedlung und Deportation betroffen. Hunderttausende von polnischen Staatsangehörigen wurden aus den „ Eingegliederten Gebieten Eingegliederten Gebieten Nach dem Überfall auf Polen 1939 vom Deutschen Reich annektierte Gebiete Westpolens. Zu den „Eingegliederten Gebieten“ gehörten die Reichsgaue Danzig-Westpreußen und Wartheland, der Regierungsbezirk Zichenau, der an Ostpreußen angegliedert wurde, und Ost-Oberschlesien, welches zu Schlesien geschlagen wurde. Zum großen Teil handelte es sich hierbei um Gebiete, die 1918/19 aufgrund des Versailler Vertrags vom Deutschen Reich abgetreten worden waren. “ ins „
Generalgouvernement
pol. Generalne Gubernatorstwo, eng. General Governorate for the Occupied Polish Region, eng. General Government, pol. Generalne Gubernatorstwo dla okupowanych ziem polskich, deu. General Governorate for the Occupied Polish Region, deu. Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete, ukr. Generalʹna gubernija, ukr. Generalʹna gubernìâ, ukr. General-gubernatorstvo, ukr. Генерал-губернаторство, ukr. Генеральна губернія, pol. Generalne Gubernatorstwo dla Okupowanych Polskich Obszarów

Das Generalgouvernement (GG) war eine während des Zweiten Weltkriegs von Nazideutschland geschaffene Verwaltungseinheit für die deutsch besetzten, ehemals polnischen Gebiete, die nicht direkt ins Deutschen Reich eingegliedert wurden. Sein ursprünglicher Name ("Generalgouvernement für die besetzten polnischen Gebiete") galt vom 26.10.1939 bis 31.7.1940 und wurde anschließend gekürzt. Am 1. August 1941 wurden zudem die im Rahmen des Angriffs auf die Sowjetunion eroberten Gebiete, die vor dem Kriegsausbruch zu Polen gehörten, als Distrikt Galizien dem GG angeschlossen. Damit vergrößerte sich die Fläche des GG von 95.742 km² auf 145.200 km². 1939 wohnten auf seinem Gebiet 12-13 Mio. Menschen, nach dem Anschluss des Distriktes Galizien über 17 Mio. Menschen. Der Regierung in Krakau stand Hans Frank als Generalgouverneur vor. Ihre Aufgabe war die Regulierung der Belange Deutschlands und nicht der lokalen Bevölkerung. Im Januar 1945 wurden alle Gebiete des GG von der Roten Armee erobert, formell existierte es noch bis April 1945. Nach dem Völkerrecht war das GG eine illegale Organisation.

“ abgeschoben oder aus den von der Sowjetunion annektierten ostpolnischen Gebieten nach Sibirien und Zentralasien deportiert. Auch Deutsche waren schon während des Krieges Opfer von Zwangsumsiedlung geworden. 1940 ließ die deutsche Regierung etwa eine halbe Million ethnische Deutsche aus dem Baltikum, Wolhynien, Galizien, der Dobrudscha und der Bukowina „heim ins Reich“ holen, was nur formal auf Freiwilligkeit beruhte. 1941, nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion, deportierten die sowjetischen Behörden 800.000 ethnische Deutsche aus den westlichen Landesteilen nach Sibirien und Zentralasien. 
Das Kriegsende war nicht das Ende der Zwangsumsiedlungen. Insgesamt 14 Millionen Deutsche, mit oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft, wurden nach dem Ende der Kampfhandlungen aus Polen, der Tschechoslowakei, der Sowjetunion, Ungarn, Jugoslawien und Rumänien auf Beschluss der Siegermächte vertrieben. Die meisten erreichten Nachkriegsdeutschland mit dem letzten Hemd auf dem Leib und mussten zunächst notdürftig in Ruinen, Baracken, Wellblechhütten oder auf Bauernhöfen unterkommen. Kaum anders war das Schicksal Hunderttausender ethnischer Ungar:innen in der Slowakei, die nach Kriegsende nach Ungarn deportiert wurden, von fast zwei Millionen Pol:innen, die die an die Sowjetunion gefallenen polnischen Gebiete verlassen mussten, oder der 500.000 Ukrainer:innen, die nicht mehr auf dem Territorium Nachkriegspolens geduldet und in die ukrainische Sowjetrepublik abgeschoben wurden. Sie mussten ihr Hab und Gut zurücklassen und sich an ihren neuen Wohnorten in den Hinterlassenschaften früherer Bewohner:innen einrichten. Und auch die Menschen in der nach Western erweiterten Sowjetunion erlebten bei Kriegsende noch einmal eine Welle von Zwangsumsiedlungen. Stalin ließ die Angehörigen politisch als unzuverlässig erachteter „Nationalitäten“ in großer Zahl aus dem Baltikum, von der Krim und aus dem nördlichen Kaukasus in das Innere der Sowjetunion deportieren. Für all diese Zwangsumgesiedelten, sofern sie diesen Vorgang überhaupt überlebten, stand das Kriegsende für Entwurzelung und Heimatverlust. 
Ähnliches galt für die etwa 700.000 sogenannten  Displaced Persons (DPs)
Displaced Person
auch:
Displaced Persons
Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzen die Alliierten den Begriff „Displaced Person“ (DP) für die rund elf Millionen Zivilpersonen, die sich kriegs- und verfolgungsbedingt außerhalb ihres Heimatstaates aufhielten. Dazu zählten vor allem befreite KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Zwangsverschleppte, Kriegsgefangene, Überlebende nationalsozialistischer Verfolgung, insbesondere aus Mittel- und Osteuropa, sowie diejenigen Personen und ihre Familien), die aufgrund ihrer Erfahrungen vor der erneuten sowjetischen Herrschaft im Baltikum nach Westen flohen. Sie litten häufig unter einer schlechten Gesundheit und waren mangelhaft ernährt. Die Alliierten und internationale Hilfsorganisationen bemühten sich, die DPs, die übergangsweise teilweise in ehemaligen Konzentrationslagern untergebracht waren, in ihre Heimatländer zurückzuführen.
, die nach Kriegsende nicht mehr in ihre Heimatländer zurückkehren konnten oder wollten. Für sie wurden in den westlichen Besatzungszonen Deutschlands Lager eingerichtet, die zum Teil über Jahre bestanden. Die einen waren Überlebende der Shoah, die auf die Gelegenheit zur Emigration in die USA, nach Kanada, Palästina/Israel oder in ein anderes westliches Land warteten. Die anderen waren nichtjüdische Ukrainer:innen, Russ:innen, Belaruss:innen, Lett:innen, Litauer:innen, Est:innen und andere, die die Umstände des Krieges nach Deutschland verschlagen hatten und die sich nun weigerten, in ihre von den kommunistischen Parteien beherrschten Heimatländer zurückzukehren. Sie alle erlebten das Kriegsende als Entwurzelung und Neuanfang irgendwo in der Fremde. Das war auch der Fall für die Millionen von Menschen in Polen, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion, die nach Kriegsende in die von den Deutschen verlassenen Territorien zogen, weil sie andernorts keine Bleibe mehr hatten oder in der allgemeinen Not dort auf bessere Lebensbedingungen hofften.

Not und Neubeginn

Während man im Westen Europas und in Nordamerika allen Grund hatte, das Kriegsende ausgelassen zu feiern, war die Situation im mittleren und östlichen Europa eine ganz andere. Es war auch eine Zeit großer ökonomischer Not, eine Zeit des Hungerns und Frierens. In den Stadtparks wurden die Bäume abgeholzt und überall Gemüsegärten und Kaninchenställe zur eigenen Versorgung angelegt. Die Menschen stahlen Kohle von Güterwagons und LKW. Wer die Chance hatte, etwas zu ergattern, griff zu. Kinder und Greise wurden zu findigen Organisatoren des Mangels. Der Schwarzmarkt florierte überall. In den Ruinen blühte der Tauschhandel, es wurde verramscht, was nicht niet- und nagelfest war. Es sollte Jahre dauern, bis der Mangel nachließ und wieder ein Gefühl der Ordnung einkehrte.
Trotzdem war das Kriegsende im mittleren und östlichen Europa auch ein Moment der Hoffnung – der Hoffnung auf ein Leben in Frieden, auf die Wiederzusammenführung von Familien, die der Krieg auseinandergerissen hatte, auf eine Stabilisierung und Verbesserung der persönlichen Verhältnisse, auf den Wiederaufbau der kriegszerstörten Städte und auf die Errichtung einer politischen Ordnung, die eine bessere Zukunft verhieß. Wie die Zukunft Ostmittel-, Nordost-, Südost- und Osteuropas nach 1945 aussah, mag aus heutiger Sicht folgerichtig und absehbar wirken. Das gilt vor allem für die Dominanz der Sowjetunion in der Region und für die Etablierung staatssozialistischer Führungen und Wirtschaftssysteme. So linear wie in der Rückschau stellte sich die Situation in der unmittelbaren Nachkriegszeit aber nicht dar und vielen Menschen erschien die Zukunft offen.

Was bleibt? 80 Jahre später

So komplex und unübersichtlich, wie sich das Kriegsende für die Menschen im mittleren und östlichen Europa zeigte, so unterschiedlich und teilweise selektiv fiel und fällt auch die Erinnerung an 1945 und seine Folgen aus. Für die Menschen in Russland ist der sowjetische Triumph über das nationalsozialistische Deutschland im „ Großen Vaterländischen Krieg
Deutsch-Sowjetischer Krieg
auch:
Russlandfeldzug, Sowjetisch-Deutscher Krieg, Großer Vaterländischer Krieg, Ostfront, Ostfeldzug, Die Ostfront, Fall Barbarossa, Unternehmen Barbarossa
Bei dem Unternehmen Barbarossa handelt es sich um einen Decknamen für den Angriffskrieg der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion, der am 22. Juni 1941 initiiert wurde.
“ von 1941 bis 1945 bis heute einer der Grundsteine des russischen Nationalstolzes. Es ist die Erinnerung an diesen Sieg, den die russische Führung heute missbraucht, um den Krieg gegen die Ukraine zu legitimieren und Unterstützung im eigenen Land zu mobilisieren. Aber auch für die Ukraine und ihre Unterstützer ist die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg Richtschnur des Handelns. Im Vordergrund steht dabei allerdings weniger der Sieg als der Schrecken des Krieges – und die Überzeugung, dass man Hitlers Expansionsdrang früher und entschiedener hätte entgegengetreten müssen. 
Der Krieg ist nicht erst jetzt nach Europa zurückgekehrt. Aber 80 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs ist er für die Menschen in Europa präsenter als je zuvor. 
Die hier versammelten Beiträge erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie sind der Versuch, die Vielfältigkeit und auch Widersprüchlichkeit der Erfahrungen abzubilden, die sich für die Menschen im mittleren und östlichen Europa mit dem Kriegsende 1945 verbanden.

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