Das deutsche Kaiserreich hegte während des Ersten Weltkrieges weitreichende Expansionsvorhaben in Osteuropa. Vor allem das Baltikum wurde dazu bestimmt, als „neues Ostland“ zu einer deutschen Siedlungskolonie zu werden. Manches an diesen Plänen mutet wie ein Vorläufer nationalsozialistischer Eroberungspolitik an.
Berechnungen „für einen in Kurland neu zu gründenden Bauernhof“
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Im Bestand der Lettischen Nationalbibliothek (Latvijas Nacionālā bibliotēka) in 
Rīga
deu. Riga, lat. Riga, lit. Ryga, dan. Riga, swe. Riga, yid. rygʿ, yid. ryga, yid. ריגע, pol. Ryga, rus. Riga, rus. Рига

Riga ist die Hauptstadt Lettlands (Bevölkerungszahl 2023: 605.273) und zugleich die mit Abstand größte Stadt des Landes. Sie liegt im Südwesten der historischen Landschaft Livland nahe der Mündung des Flusses Düna (lett. Daugava) in den Rigaischen Meerbusen. Historisch war Riga eine bedeutende Handels- und Hansestadt mit einer über Jahrhunderte hinweg großteils deutschsprachigen Bevölkerung, deren politische Oberherrschaft wiederholt wechselte. Waren es bis zum Ende des Mittelalters vor allem geistliche Herrscher (Erzbistum Riga, Deutscher Orden), die Stadt und Umland für sich beanspruchten, kam die Stadt nach kurzer polnisch-litauischer Herrschaft 1621 zu Schweden. Bereits ein Jahrhundert später wurde Riga Teil des Russländischen Reiches und hier zur Hauptstadt des Ostseegouvernements Livland. Erst 1918 wurde Riga Hauptstadt eines unabhängigen lettischen Staates.

 befindet sich eine mit Zeichnungen und Statistiken versehene kleine Broschüre mit dem umständlichen Titel „Kapitalbedarf, Wirtschaftseinrichtung und Ertragsanschlag für einen in 
Kurland
eng. Courland, lav. Kurzeme

Kurland ist eine historische Landschaft im Westen und Süden des heutigen Lettlands. Sie wird im Westen und Norden durch die Ostsee und den Rigaischen Meerbusen, im Nordosten durch den Fluss Düna sowie im Süden durch Litauen begrenzt. Zu den größten Städten Kurlands gehören Jelgava, Ventspils und Liepaja.

Das heutige Verständnis der Region ist stark geprägt durch historische territoriale Zusammenhänge. Prägend ist unter anderem das Gouvernement Kurland, das als eines der drei Russländischen Ostseegouvernements seit 1795 und formal bis 1918 bestand. Dazu gehörten eigentlich noch die kleineren Regionen Semgallen und Oberlettland, die den zentralen bzw. östlichen Teil des Gouvernements bildeten. Sie sind heute vielfach mitgemeint, wenn im historischen Zusammenhang von Kurland gesprochen wird.

Kurland wurde zudem erst mit der Dritten Teilung Polen-Litauens in das Russländische Reich integriert, und damit deutlich später, als die weiteren beiden Ostseegouvernements Estland und Livland, die bereits im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) unter russische Herrschaft gekommen waren. Kurland wiederum war als Herzogtum Kurland und Semgallen noch bis 1795 polnisches Lehen, stand aber bereits zuvor unter starkem russischem Einfluss.

 neu zu gründenden Bauernhof mit 20 ha Gesamtfläche“. Hinter diesem scheinbar nüchternen Titel verbirgt sich die bislang kaum erforschte Geschichte eines während des Ersten Weltkrieges entwickelten gigantischen imperialen Projekts, bei dem das gesamte 
Baltikum
eng. Baltics, lat. Balticum, deu. Baltische Staaten, deu. Baltische Provinzen

Das Baltikum ist eine Region im Nordosten Europas und setzt sich aus den drei Staaten Estland, Lettland und Litauen zusammen. Das Baltikum wird von knapp 6 Millionen Menschen bewohnt.

 unter der Bezeichnung „Neuland“, „Ostland“ bzw. „neues Ostland“ in eine deutsche Siedlungskolonie verwandelt werden sollte. Wieso aber betrachteten viele Deutsche damals offenbar gerade das Baltikum als utopischen Raum, der solch weitreichende Perspektiven für eine künftige Landnahme durch deutsche Siedler zu bieten schien?
„Baltische Propaganda in Deutschland“
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Als es deutschen Truppen in der ersten Hälfte des Jahres 1915 gelang, große Teile Russisch-Polens, des heutigen 
Litauen
eng. Lithuania, lit. Lietuva

Litauen ist ein baltischer Staat im Nordosten Europas und wird von ungefähr 2,8 Millionen Menschen bewohnt. Vilnius ist die Hauptstadt und bevölkerungsreichste Stadt Litauens. Das Land grenzt an die Ostsee, Polen, Weißrussland, Russland und Lettland. Erst im Jahr 1918 erlangte Litauen Unabhängigkeit, die das Land nach mehreren Jahrzehnten der Eingliederung in die Sowjetunion 1990 wiedererlangte.

 sowie Kurlands zu besetzen, setzte in 
Deutsches Reich
eng. German Reich

Das Deutsche Reich war ein von 1871 bis 1945 existierender Staat in Zentraleuropa. Die Zeit von der Gründung bis 1918 wird als Deutsches Kaiserreich bezeichnet, dann folgte die Zeit der Weimarer Republik (1918/1919-1933) und die des Nationalsozialismus (sogenanntes Drittes Reich) von 1933 bis 1945. Als Tag der Reichsgründung gilt der 01.01.1871.

 eine umfangreiche Berichterstattung über jene Regionen ein. Getragen von der großen öffentlichen Aufmerksamkeit für die besetzten Gebiete wurden ab Sommer 1915 unzählige Broschüren, Bücher und Presseartikel veröffentlicht, in denen nachdrücklich für eine Angliederung Kurlands, 
Livland
eng. Livonia, est. Liivimaa, lav. Livonija

Livland (lett. Livonija, estn. Liivimaa) ist eine historische Landschaft im Baltikum. Sie umfasst den südlichen Teil des heutigen Estlands und den nördlich des Flusses Düne gelegenen Teil des heutigen Lettlands. Benannt wurde die Landschaft nach der heute kaum noch existenten Bevölkerungsgruppe der Liven (auch: Livonen/Livonier).

Historisch kann sich der Name Livland auf weitere, unterschiedliche Zusammenhänge beziehen. Prägend für das heutige Verständnis der historischen Region ist vor allem das gleichnamige Gouvernement, das eines der drei Ostseegouvernements des Russländischen Reiches war. Es bestand seit Beginn des 18. Jahrhunderts und insgesamt bis 1918. Hauptstadt war das an der Dünamündung gelegene Riga.

Zuvor war Livland namensgebend für weitere Staaten und Staatenverbünde, allen voran für die Livländische Konföderation, die seit dem Hochmittelalter bestand. Zur Konföderation gehörten der livländische Teil des Deutschordensstaates sowie regionale geistliche Staaten. Die Konföderation umfasste dabei auch große weitere Teile der heutigen Staaten Lettland und Estland. Nach Auflösung der Konföderation wie auch des Deutschordensstaates im 16. Jahrhundert wechselte die Oberhoheit mehrfach. Ohne die südlichen und nördlichen Gebiete kam Livland zunächst unter polnisch-litauische Herrschaft, später auch unter schwedische Oberhoheit, bevor es im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700-1721) unter russische Herrschaft kam. Prägend für die soziale Binnenorganisation des ländlichen Raumes war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem die zentrale Rolle des landbesitzenden deutschsprachigen Adels.

 und 
Estland
eng. Eestimaa, est. Eestimaa

Estland ist eine historische Landschaft in Nordosteuropa und umfasst den nördlichen Teil des heutigen estnischen Staates.

Die Region ist weitgehend deckungsgleich mit dem historischen Ostseegouvernement des Russländischen Kaiserreichs, das bis 1918 bestand - und neben Livland und Kurland eines von insgesamt drei Ostseegouvernements bildete. Im Hoch- und Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit hatten Teile der Region auch unter der Herrschaft Schwedens, Dänemarks und des Deutschen Ordens gestanden. Erst im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700-1721) kam Estland unter russische Hoheit.

 an das Deutsche Reich geworben wurde. Die Gesamtheit dieser Publikationen wurde in der Forschung treffend als „baltische Propaganda“ bezeichnet. Die Autoren waren meist deutschbaltischer Herkunft und innerhalb der politischen und akademischen Eliten des deutschen Kaiserreiches bestens vernetzt. Nicht zuletzt befanden sich unter ihnen einige prominente Persönlichkeiten u.a. der Historiker Theodor Schiemann Theodor Schiemann Theodor Schiemann (1847-1921) war Historiker und Archivar aus einer nationalkonservativen Familie aus Kurland. 1918 wurde er Kurator der Universität der eroberten Stadt Dorpat. Er begründete die deutsche Osteuropaforschung, auch wenn sein Bild auf die osteuropäischen Völker von Ressentiments geprägt war. sowie der Kunsthistoriker Georg Dehio.1 Nur wenige der während des Ersten Weltkrieges in Deutschland diskutierten Kriegsziele wurden von einer vergleichbaren Gruppierung, die nur auf ein bestimmtes Ziel hinarbeitete und dafür einen stetig wachsenden Propagandaapparat mobilisieren konnte, mit ähnlicher Vehemenz öffentlich propagiert wie die von deutschbaltischen Emigranten verlangte Annexion der Ostseeprovinzen des 
Russländisches Kaiserreich
rus. Росси́йская импе́рия, rus. Rossijskaja imperija, eng. Russian Empire, deu. Russisches Kaiserreich, deu. Russländisches Reich

Das Russische Kaiserreich (auch Russländisches Kaiserreich, Russisches Reich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.

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Die Utopie vom „neuen Ostland“ wird populär
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Das wichtigste Argument, mit dem die deutschbaltischen Emigranten um Unterstützung ihrer Forderung warben, war die Vorstellung, die Ostseeprovinzen zusammen mit Litauen seien dafür prädestiniert, eine deutsche Siedlungskolonie zu errichten. Die Vorstellung, durch großangelegte Siedlungsprogramme, sei es nun als so genannte „innere Kolonisation“ auf dem europäischen Festland oder durch Kolonisation überseeischer Gebiete, könnten demographische, wirtschaftliche, soziale und auch politische Probleme gelöst werden, bildete seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen wiederkehrenden Gegenstand kolonialpolitischer Debatten in Deutschland. Unter dem Einfluss der von dem Geographen Friedrich Ratzel in den politischen Diskurs eingebrachten Lebensraumtheorie hatte um die Jahrhundertwende der Begriff „Neuland“ als Bezeichnung für das zur Erweiterung des „Lebensraums“ des deutschen „Volkes“ geforderte „neue Siedlungsland“ Verbreitung gefunden. Bereits bei Kriegsbeginn waren besonders aus den Reihen des  Alldeutschen Verbandes
Alldeutscher Verband
auch:
Allgemeiner Deutscher Verband
Der „Alldeutsche Verband“ war ein zeitweise einflussreicher, radikal deutschnationaler, völkischer und militaristisch-imperialistisch ausgerichteter Agitationsverein im Deutschen Reich und in der Zeit des Nationalsozialismus. Er wurde 1891 gegründet (Name bis 1894: "Allgemeiner Deutscher Verband") und engagierte sich zunächst vor allem zugunsten des Ausbaus der deutschen Kolonien und der Stärkung der weltpolitischen Rolle des Deutschen Reiches. Nach 1900 radikalisierte er sich zunehmend. Im Fokus stand nun vor allem die Schaffung eines deutsch dominierten Mitteleuropas und eines ethnokulturell homogenen Großdeutschlands. Damit verbunden waren rassistische und antisemitische Positionen sowie Germanisierungs-, Aussiedlungs- und Vertreibungspläne. Als zeitweise einflussreicher politischer Verband leistete er der nationalsozialistischen Ideologie erheblichen Vorschub und nahm spätere Konzepte und Zielsetzungen vorweg, insbesondere im Kontext der Pläne zur gewaltsamen Schaffung neuen "Lebensraums" in Ostmittel- und Osteuropa. Die große ideologische Nähe führte nach 1933 zunächst zu einer Duldung des Verbandes durch die Nationalsozialisten, die ihn 1939 schließlich dennoch verboten.
 Forderungen laut geworden, Deutschland solle nach dem zu erwartenden Sieg auf Kosten seiner Kriegsgegner umfangreiches „Neuland“ in Ost- und Westeuropa annektieren, um diese Gebiete mit Deutschen zu besiedeln. Bereits in diesem Zusammenhang wurde die Annexion des gesamten Baltikums als „neues Siedlungsland“ für deutsche Bauern verlangt. Die „baltische Propaganda“ trug wesentlich dazu bei, derartige Forderungen in weite Bevölkerungskreise zu tragen, ja populär zu machen. Auf lange Sicht, so hieß es in der dem Baltikum gewidmeten Propagandaliteratur, könne Deutschland seine Weltmachtstellung nur wahren, wenn es zur „Siedelungsarbeit im neuen Ostlande“ schreite. Den größten Einfluss von allen Agitatoren erlangte der kurländische Gutsherr Silvio Broedrich, der auf großen Massenversammlungen sprach und zugleich unzählige Aufsätze veröffentlichte, die allesamt nur ein Ziel hatten: die Deutschen davon zu überzeugen, dass es unbedingt notwendig sei, die gesamte Region zwischen der ostpreußischen Grenze und der Nordküste Estlands an das Deutsche Reich anzugliedern. Die vorgeblichen Siedlungsmöglichkeiten im Baltikum machte Broedrich dabei zu seinem Hauptthema.2 In seiner 1915 veröffentlichten Broschüre „Das neue Ostland“ verglich er das Baltikum sogar mit Kanada, da hier wie in Nordamerika angeblich noch weite Ebenen fruchtbaren, unbesiedelten Landes einer Landnahme durch deutsche Kolonisten harrten.3 Dabei verbreiteten Broedrich und andere Autoren geschickt die Wunschvorstellung, dass all dies in friedlichem Einvernehmen mit der lokalen Bevölkerung zu erreichen sei.
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Die Grundlage dafür bildete der in den betreffenden Publikationen stets betonte Hinweis, das von deutschen Ordensrittern, Geistlichen und Kaufleuten beherrschte mittelalterliche Livland sei die „älteste und einzige Kolonie des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“ gewesen. Erst die deutsche Einwanderung habe dieser Region höhere Kultur gebracht. Ungeachtet ihres geringen deutschsprachigen Bevölkerungsanteils seien die Ostseeprovinzen seither immer „deutsches Land“ geblieben, da die hiesigen „Ureinwohner“4, d.h. die Liven, Letten und Esten, ihre Kultur von alters her ihren „deutschen Lehrmeistern“5 zu verdanken hätten. Jenes Deutungsmuster, das sich bereits Mitte des 19. Jahrhunderts in der deutschsprachigen Literatur als Teil eines „kolonialen Blicks gen Osten“6 etabliert hatte, wurde nun als politische Handlungsanleitung für die Gegenwart interpretiert. In diesem Sinne behaupteten die Verfasser der Propagandaschriften, dass die Mehrheit der Letten und Esten sich aufgrund ihrer kulturellen Prägung einer deutschen Herrschaft bereitwillig fügen werde, um in absehbarer Zeit durch „friedliche Assimilierung“7 am Ende selbst zu Deutschen zu werden. Obwohl nicht zum Gebiet der Ostseeprovinzen gehörig, wurden ohne Umschweife vielfach auch die Litauer in diese Argumentation mit einbezogen. So realitätsfern diese Vorschläge heute auch scheinen mögen, so groß war doch seinerzeit die Resonanz der baltischen Propagandaschriften in Deutschland. Ein wesentlicher Grund dafür war sicherlich, dass in der Wahrnehmung vieler Zeitgenossen die Kolonisation baltischer Gebiete durch Deutschland ein scheinbar viel realistischeres und moralisch vertretbareres Kriegsziel darstellte als die seit Kriegsbeginn von radikalen Nationalisten erhobenen Forderungen nach Annexion polnischer, belgischer und nordfranzösischer Gebiete, die durch Zwangsaussiedlung der heimischen Bevölkerung – beschönigend „Evakuierung“ genannt – für deutsche Siedler „freigemacht“ werden sollten. Glaubte man den Behauptungen der „baltischen Propaganda“, so stand derartiges im ohnehin dünn besiedelten Baltikum mit seiner Bevölkerung, die es angeblich sogar begrüßen würde, unter deutsche Herrschaft zu geraten, überhaupt nicht zur Debatte.8 Auch Persönlichkeiten, die sich ansonsten von den Umsiedlungsplänen der Alldeutschen zu distanzieren versuchten, konnten daher durchaus für die Forderung nach Annexion von Siedlungsland im Baltikum gewonnen werden, wo vermeintlich ganz ohne Gewalt und Zwang gegenüber der heimischen, nichtdeutschen Bevölkerung, ein „bäuerliches Neudeutschland“9 entstehen sollte. In diesem Sinne beteiligten sich namhafte Vertreter der evangelischen wie auch der katholischen Kirche an der Agitation für eine deutsche Kolonisation des Baltikums.
So wurde 1916 mit Unterstützung des Evangelischen Bundes, eine „Ostdeutsche Ansiedlerhülfe. Eingetragene Genossenschaft m.b.H. (O.D.A.H.)“ gegründet, die Geld für Bauernfamilien sammelte, die sich an der Besiedlung des „Neulands“ im Baltikum beteiligen wollten.10 Clemens August von Galen, später Bischof von Münster und als Gegner des NS-Regimes bekannt geworden, entwickelte ein in katholischen Kreisen viel diskutiertes Siedlungsprojekt, bei dem von westfälischen Adligen angeführte Bauern Litauen kolonisieren und germanisieren sollten.11 Die Vision vom „neuen Siedlungsland“ auf dem Boden der „ältesten deutschen Kolonie“ erlangte immer breitere Popularität.
Das „Land Ober Ost“ als künftige Kolonie
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Die Idee, die Ostseeprovinzen und Litauen zu annektieren, um dort eine deutsche Siedlungskolonie zu errichten, wurde auch von führenden Regierungsstellen des Kaiserreichs als durchaus realistisches und vertretbares Unterfangen bewertet. Zur treibenden Kraft bei der Errichtung der deutschen Siedlungskolonie im Baltikum avancierten jedoch die Militärverwaltung Ober Ost und die Oberste Heeresleitung. Mochte die militärische Besetzung weiter Gebiete im Nordosten Europas im Frühjahr und Sommer 1915 eher zufällig erfolgt sein und lag für die Errichtung der Militärverwaltung Ober Ost auch kein vorgefasster Plan vor, so deckte sich die deutsche Besatzungspolitik im „Land Ober Ost“ doch in auffälliger Weise mit den Vorschlägen für eine deutsche Kolonisation des Baltikums, die zu dieser Zeit in Form von Denkschriften und Propagandabroschüren verbreitet wurden. Unter der Herrschaft deutscher Militärs sollte allmählich jene koloniale Utopie Wirklichkeit werden, welche in den zahlreichen Denkschriften und Broschüren zuvor theoretisch skizziert worden war. Kurland wurde dabei zum Kernland der in Entstehung begriffenen Siedlungskolonie. Die vermeintlich „deutschkultivierte“ lettische Bevölkerung wurde rücksichtslosen Germanisierungsmaßnahmen unterworfen. So durfte Schulunterricht fast nur in deutscher Sprache erteilt werden. In der Erwartung, dass die lettische Landbevölkerung auf diese Weise schnell die deutsche Sprache annehmen werde, wurden Vorbereitungen getroffen, zwischen den zerstreut lebenden lettischen Landbewohnern kinderreiche deutsche Bauernfamilien anzusiedeln. Pläne zur Anlage kompletter Dörfer für deutsche Siedler wurden entworfen.
In diesem Zusammenhang entstanden auch die oben zu sehenden Entwürfe für neue Bauerngehöfte für die künftigen Ansiedler. Die Betriebsgröße von 20ha, war so berechnet, dass der Hof von einer Bauerfamilie allein, möglichst ohne zusätzliche Arbeitskräfte, bewirtschaftet werden konnte. Mit dem „gemäßigten Charakter“, der den baltischen Siedlungsplänen in der öffentlichen Kriegszieldiskussion zugeschrieben wurde, hatte deren reale Umsetzung allerdings nicht viel gemein. Vielmehr setzten die deutschen Militärs darauf, Widerstände seitens der heimischen Bevölkerung brutal zu unterdrücken. Außerdem waren sie bereit, die ethnische Zusammensetzung des besetzten Gebietes zu verändern, indem sie als „nicht germanisierbar“ deklarierte slawische Bevölkerungsgruppen sowie Teile der jüdischen Bevölkerung zur Auswanderung drängen wollten. So wurde in einem Erlass des Oberbefehlshabers Ost vom 19. April 1918 angeordnet, dass die freiwillige Auswanderung jüdischer und russischer Einwohner des Ober-Ost-Gebietes nach Russland und der Ukraine durch die örtlichen deutschen Dienststellen zu fördern sei, da dies dabei helfe, „sich unerwünschter Einwohner […] zu entledigen, unnötige Esser loszuwerden und Platz für zurückkehrende willkommene Elemente zu schaffen“12.
Zwischen der öffentlich propagierten Utopie vom „neuen Ostland“ und den Vorstellungen, nach denen im „Lande Ober Ost“ Besatzungspolitik betrieben wurde, bestand zweifellos eine gedankliche Kontinuität. Um die Herrschaft Deutschlands über das Baltikum abzusichern, betrieben die Besatzer ab Ende 1917 die Gründung baltischer Staatswesen. Durch Staatsverträge sollten diese allerdings derart unter deutsche Kontrolle gebracht werden, dass es sich bei ihnen de facto um Länder mit quasi-kolonialem Status gehandelt hätte. Angesichts der Revolutionen in Russland und der von US-Präsident Wilson verkündeten Losung vom „Selbstbestimmungsrecht der Völker“, welche den nationalstaatlichen Bestrebungen der Litauer, Letten und Esten deutlichen Auftrieb gaben, war die deutscherseits betriebene Gründung der Herzogtümer Litauen, Kurland und „Baltenland“13 jedoch von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Selbst unter jenen Angehörigen der deutschbaltischen Eliten, die aktiv für die Angliederung der Ostseeprovinzen an das Deutsche Reich eintraten, regten sich Vorbehalte gegen den umfassenden Machtanspruch der Militärs. Gegen die Germanisierungsvorhaben wurde von deutschbaltischer Seite jedoch so gut wie kein Einspruch erhoben. Trotz aller Widerstände, auf die die Angliederungspolitik in Kurland wie auch in Litauen, in Livland und in Estland stieß, arbeiteten die deutschen Besatzungsbehörden im Verein mit der Reichsleitung und namhaften Siedlungsexperten noch bis kurz vor Kriegsende daran, die Pläne für eine deutsche Kolonisation des Baltikums in die Realität umzusetzen. Erst die Niederlage der Mittelmächte an den anderen Fronten des Weltkrieges und die Novemberrevolution in Deutschland führten 1918 zum vollständigen Zusammenbruch aller Pläne, das Baltikum in eine deutsche Siedlungskolonie zu verwandeln.
Mit dem Zusammenbruch des kaiserlichen Deutschlands waren die Pläne für eine deutsche Kolonisation des Baltikums jedoch keineswegs vom Tisch. Wie präsent die Vision vom „neuen“ Siedlungsland auf dem Boden der „ältesten deutschen Kolonie“ nach wie vor in der deutschen Öffentlichkeit war, lässt sich u.a. daran erkennen, dass die Werbetätigkeit für die 1919 nach Lettland entsandten Freikorps äußerst erfolgreich auf genau dieselben kolonialen Stereotype zurückgreifen konnte, derer sich die „baltische Propaganda“ während des Weltkrieges bedient hatte.14 Auch nach dem Scheitern des Freikorpsunternehmens lebten diese Vorstellungen weiter. Inwiefern die Ostraumkonzeptionen der Nationalsozialisten davon beeinflusst wurden, bedarf noch einer eingehenderen Klärung. Es wäre sicherlich verfehlt, einen linearen Entwicklungsstrang von der Utopie vom „neuen Ostland“ zum „Generalplan Ost“ ziehen zu wollen, der die Eroberung weiter Teile Osteuropa bis zum Ural als künftigen „Lebensraum“ für germanisch-deutsche „Herrenmenschen“ vorsah. Außer Frage steht jedoch, dass hier Erfahrungen und Vorbilder aus der Zeit des Ersten Weltkrieges nachwirkten, bei denen es sich um weitaus mehr als nur koloniale Rhetorik, sondern ganz reale Vorhaben handelte, wie die erwähnte Broschüre über die Errichtung eines Bauernhofs in Kurland und andere Dokumente auffällig deutlich machen.

Siehe auch