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Die Texte aus dem Band „Awans Pokolenia“ sind im Rahmen eines „Erinnerungswettbewerbs“ entstanden. Dieser wurde von staatlichen Stellen mitorganisiert und herausgegeben in einem politischen System, in dem die Zensur alle publizierten Texte umfasste. Inwieweit taugen solche Texte eigentlich als historische Quellen? Wurden in „Awans pokolenia“ nicht vielleicht nur erwünschte Meinungen abgedruckt, die ein positives Licht auf die Veränderungen des dörflichen Lebens im sozialistischen Polen werfen?
Ganz falsch ist dieser Einwurf nicht – weder sollte man die Erfahrungen der Autor:innen unkritisch auf die gesamte junge Generation von Landbewohner:innen im Nachkriegspolen übertragen, noch den Einfluss von Zensur und staatlich produzierten Narrativen auf ihre Texte unterschätzen. Die Erinnerungswettbewerbe der Zeit stellen trotzdem eine unschätzbare Quelle dafür dar, um mehr über den Alltag und die Lebenserwartungen von Bewohner:innen der Volksrepublik Polen zu erfahren. Insgesamt wurden zwischen 1944 und 1989 etwa 1.600 solcher Wettbewerbe durchgeführt. Organisiert wurden sie oft von „Vorfeldorganisationen“ der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR), wissenschaftlich betreut von Soziolog:innen. Über Radioaufrufe, Anzeigen in Zeitungen und Bewerbung in den Ortsgruppen der unterschiedlichen Organisationen wurde zum Schreiben aufgerufen, und das häufig mit großem Erfolg: über hunderttausend solcher Wettbewerbstexte wurden zu der Zeit der Volksrepublik gesammelt. Alleine für den Wettbewerb zu „Awans Pokolenia“ schickten beinahe 5.500 junge Erwachsene ihre Erinnerungen ein.
Seine Lebenserinnerungen derart aufzuschreiben, gar zu veröffentlichen, war bis dahin nur einer kleinen gesellschaftlichen Schicht möglich. Durch die Erinnerungswettbewerbe erhielt eine neue große Gruppe von Menschen den Anreiz und die Möglichkeit, ihre Sicht auf die Welt zu teilen und über ihr Leben zu erzählen. Alleine deshalb eröffnen sie uns ganz neue Perspektiven. Außerdem geht es bei der Analyse dieser Erinnerungswettbewerbe nicht darum, präzise einzelne historische Ereignisse nachzuerzählen, sondern ein Bild vom Alltag und den Lebenserwartungen der Autor:innen herauszuarbeiten. Dabei spielt es keine so große Rolle, ob einzelne Darstellungen durch Eigen- oder Fremdzensur beeinflusst worden sind. Für die Betrachtung des Bewusstseinswechsels der jungen Generation auf dem polnischen Land in der Nachkriegszeit ist wichtiger, wie die Autor:innen ihre soziale Umwelt beschreiben und welche Vorstellungen von ihrem Leben sie in ihren Texten äußern. Gerade für eine neue historische Perspektive auf die Volksrepublik Polen „von unten“ liefern die Erinnerungswettbewerbe wichtige Einblicke.