Die Volksrepublik Polen hat das Leben von Kindern und Jugendlichen auf dem polnischen Land radikal verändert. Wenn auch das Kühehüten immer noch zu den Aufgaben von vielen gehörte, waren ihre Erwartungen an die Zukunft nun ganz andere. In Texten, die im Rahmen von sogenannten „Erinnerungswettbewerben“ verfasst wurden, schrieben sie selbst über diese Zukunftsperspektiven und ihr eigenes Aufwachsen.
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Vergeblich suche ich in mir die […] sanfte Unvernunft der Bauernkinder. Ich habe niemals Höhlen gegraben und Vogelnester gesucht, niemals botanisiert und mit Steinen nach den Vögeln geworfen. Aber die Bücher waren meine Vögel […].1

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  • so denkt der Philosoph Jean-Paul Sartre im Jahr 1964 über seine ersten Jugendjahre nach.  Der berühmte französische Denker beschreibt in „Die Wörter“, wie er seine Kindheit in Büchern schmökernd verbrachte, während Altersgenoss:innen auf dem Dorf die Natur kennenlernten.
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Im gleichen Jahr, in dem Sartres autobiographische Reflektionen erscheinen, wird in Polen der Band „Awans pokolenia“ [dt. „Aufstieg einer Generation“] veröffentlicht. Der Herausgeber dieses Bandes ist der polnische Soziologe Józef Chałasiński. Er ist nur ein Jahr älter als sein französischer Wissenschaftlerkollege, Jean-Paul Sartre, aber an seine eigene Kindheit auf dem Land erinnert er sich ganz anders. In der Einleitung zu „Awans pokolenia“ greift Chałasiński die Vorstellung seines Altersgenossen von einem sorglosen Aufwachsen auf dem Dorf auf und berichtet von seiner eigenen Jugend auf dem Land. Er schreibt: „In meiner Autobiographie sind nicht nur Kuh und Geschichte verknüpft, aber auch Kuh und Philosophie“2 und erinnert sich daran, wie er als kleiner Junge die Kühe hüten musste.
Von Kühen und Büchern
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Kühe und Bücher verbinden sich auch in vielen der 26 Beiträge, die der Band „Awans pokolenia“ versammelt. Es sind Texte im Stil von Tagebucheinträgen oder Memoiren, geschrieben von jungen Erwachsenen. Ihre Kindheit und Jugend kurz vor, während und nach dem Zweiten Weltkrieg, haben sie auf dem Dorf verbracht. Viele von ihnen mussten seit dem jüngsten Alter Aufgaben auf den elterlichen Bauernhöfen übernehmen. Schon mit drei oder vier Jahren mussten viele zunächst das Federvieh auf die Weide treiben und wurden im Grundschulalter zu Kuhhirt:innen befördert. Auf der Weide darauf aufzupassen, dass die Tiere nicht weglaufen, oder giftige Pflanzen essen, gehört vor wie nach dem Krieg häufig zu den Aufgaben der jüngsten Familienmitglieder.
Für viele der Autor:innen ist die Erinnerung an das Hüten der Kühe eine bittere: es hinderte sie nicht nur an Spiel und Freizeit, sondern auch am Lernen. Einige von ihnen mussten nach ein paar Grundschulklassen die Schule verlassen, um den Eltern auf dem Hof zu helfen.

Die fürchterlichste, schlimmste Sache war das Hüten der Kühe. Niemand, […], dem nicht der Tau die nackten, vor Kälte steifen Füße genässt hat, dem die Sonne nicht die Augen geblendet hat auf dem schattenlosen, kahlen Auslauf, wird verstehen, worin diese merkwürdig einfache Aufgabe besteht.3

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Ganz so tragisch wie diese junge Agronomin beschreiben nicht alle der Autor:innen ihre Aufgabe. Für einige war sie sogar die angenehmste der Arbeiten auf dem elterlichen Hof: man konnte nämlich währenddessen lesen. Zu sehr vertiefen in die Lektüre durfte man sich jedoch auch nicht. Ein Autor beschreibt, wie eine besonders kluge Kuh, Czarna („Schwarze“) mit Namen, regelmäßig die Unaufmerksamkeit ihres Hüters ausnutzte, um genüsslich Klee zu fressen – die Abreibung vom Vater für diese Untat bekam dann stets der Sohn, nicht das Tier.
Generationserfahrungen: Krieg und Systemwechsel
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Solche Erfahrungen, wie sie die Autor:innen in „Awans Pokolenia“ beschreiben, sind in Polen in der Mitte des 20. Jahrhunderts nicht außergewöhnlich. Im Jahr 1921 hatte etwa ¾ der Bevölkerung auf dem Land gelebt. Im Jahr 1964, als der Band erscheint, sind es immerhin noch etwa die Hälfte, aber das Leben auf dem Dorf hat sich radikal verändert. Die Beiträge in „Awans Pokolenia“ beziehen sich auf eben diese Periode des Wandels. Einige Erfahrungen, wie zum Beispiel das Hüten der Kühe, haben zwar den Zweiten Weltkrieg überdauert, aber die Autor:innen heben auch viele Unterschiede im ländlichen Aufwachsen hervor. In ihre erst kurze Lebenszeit sind schließlich schon ein Krieg und der Wechsel mehrerer politischer Systeme gefallen.
Die 1944 gegründete 
Volksrepublik Polen
eng. Polish People’s Republic, pol. Polska Rzeczpospolita Ludowa

Die Volksrepublik Polen war ein von 1944 bis 1989 existierender sozialistischer Staat in den Grenzen des heutigen Polens. Sozialistische Einheitspartei des Ein-Parteien-Staates war die kommunistische Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR).

4 und deren politische Vorstellungen nehmen starken Einfluss auf die Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen auf dem Land. Durch die Bodenreform (1944) und die Kollektivierung der Landwirtschaft (ab 1948) sollen die Besitzverhältnisse auf dem Land reformiert werden. Während die Umverteilung von Boden in der bäuerlichen Bevölkerung allgemein positiv aufgenommen wird, wehren sich die Dorfbewohner:innen heftig gegen die Bildung von Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften.
Andererseits ist Teil des sozialistischen Versprechens, Bildung nun allen zugänglich zu machen. Dazu wird im Jahr 1949 eine große Alphabetisierungskampagne durchgeführt, im Zuge derer fast eine Millionen Erwachsene Lesen und Schreiben lernen. Durch Kurse und Zusatzausbildungen sollen junge Erwachsene, die ihre Schulbildung abbrechen müssen, um in der Landwirtschaft zu arbeiten, die Möglichkeit erhalten, sich trotzdem neues Wissen anzueignen. Und auch Stipendien, Vorbereitungskurse und die Einführung des Fernstudiums sollen dazu dienen, dass immer mehr Kinder aus Arbeiter- und Bauernfamilien Bildung erlangen können.
Streben nach Bildung – allen Umständen zum Trotz?
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Viele der Autor:innen in „Awans pokolenia“ berichten von den Schwierigkeiten, die sie auf ihrem Bildungsweg überwinden mussten. Der Schulweg war oft mühsam und die Bedingungen zu Hause erschwerten das Erledigen von Hausaufgaben. Vom Lernen hielten die Kinder nicht nur das Hüten von Kühen ab, sondern oft auch die eigenen Eltern. „Vom weiteren Lernen war keine Rede mehr,“5 schreibt ein junger Landwirt, der nach Abschluss der Grundschule auf dem Bauernhof geblieben war. Viele der Autor:innen mussten aus finanzieller Notwendigkeit ihre Träume von weiterer Schulbildung aufgeben. Dies bedeutete aber nicht, dass ihr Bildungsweg zu Ende war: „[…] wenn man schon Landwirt ist, dann muss man seinen Beruf auch gutkennenlernen,“6 betont einer von ihnen, der sich durch Fachzeitschriften versucht, neue Fähigkeiten anzueignen.
Auch viele der Autor:innen, die eine weiterführende Schule besuchen konnten, zeichnet ein solcher Wille zur eigenständigen Weiterbildung aus. Ihr Bildungsweg verlief oft nicht geradlinig, aber sie nutzten Angebote wie Abendschulen, Kurse für Erwachsene oder Fernstudien, um ihre Ausbildung zu vervollständigen. „Ich bin am Abend sehr zufrieden nach Hause gekommen, weil mein eigener Fleiß und mein Durchhaltevermögen mir erlaubt haben, eine mittlere landwirtschaftliche Ausbildung zu erhalten,“7 schreibt ein stolzer Autor, der erfolgreich einen Korrespondenzkurs an einem landwirtschaftlichen Lyzeum abgeschlossen hat.
Neue Chancen, neue Erwartungen
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So unterschiedlich die Schicksale der Autor:innen in „Awans Pokolenia“ auch gewesen sein mögen, sie haben doch einige Gemeinsamkeiten: sie alle schreiben ihrer eigenen Aus- und Weiterbildung einen hohen Wert zu. Sie glauben daran, dass auch sie als Kinder aus Bauernfamilien ein Anrecht auf Bildung haben. In den Beschreibungen einer jungen Feldscherin8, die eigentlich gerne Ärztin geworden wäre, wird dies deutlich. Sie hatte als Schülerin gar keinen Zweifel daran, dass ihr Bildungsweg gelingen könne – schließlich sei ständig betont worden, dass den Kindern von Arbeitern und Bauern jetzt alle Chancen offenstehen würden. In ihrem Fall ist ihr Berufswunsch aus politischen Gründen nicht in Erfüllung gegangen – ein im Ausland wohnender Bruder wird ihr zum Verhängnis – andere Autor:innen müssen ihre Träume aus materiellen Gründen aufgeben.
Aber auch aus den Erzählungen dieser nicht erfolgreichen Bildungsgeschichten wird offensichtlich: die Jugendlichen und jungen Erwachsenen vom Land geben sich ihrem Schicksal nicht einfach hin. Sie haben schon verinnerlicht, dass auch ihnen als Kindern vom Land die gleichen Rechte zustehen sollten, wie ihren Kamerad:innen aus der Stadt. Auch, wenn das sozialistische Gleichheitsversprechen sich nicht für alle der Autor:innen erfüllt, hat es doch etwas verändert in den Erwartungen der Autor:innen in „Awans pokolenia“. Sie sind sich einerseits ihrer neuen Möglichkeiten bewusst und ergreifen Bildungschancen auch außerhalb des traditionellen Schulwegs. Andererseits messen sie ihre Lebensrealität auch an ihren neu geweckten Erwartungen und äußern ihre Enttäuschung, wenn die versprochenen Bildungschancen sich nicht erfüllen.
Erinnerungswettbewerbe – Erzählungen von unten oder staatliche Auftragswerke?
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Die Texte aus dem Band „Awans Pokolenia“ sind im Rahmen eines „Erinnerungswettbewerbs“ entstanden. Dieser wurde von staatlichen Stellen mitorganisiert und herausgegeben in einem politischen System, in dem die Zensur alle publizierten Texte umfasste. Inwieweit taugen solche Texte eigentlich als historische Quellen? Wurden in „Awans pokolenia“ nicht vielleicht nur erwünschte Meinungen abgedruckt, die ein positives Licht auf die Veränderungen des dörflichen Lebens im sozialistischen Polen werfen?
Ganz falsch ist dieser Einwurf nicht – weder sollte man die Erfahrungen der Autor:innen unkritisch auf die gesamte junge Generation von Landbewohner:innen im Nachkriegspolen übertragen, noch den Einfluss von Zensur und staatlich produzierten Narrativen auf ihre Texte unterschätzen. Die Erinnerungswettbewerbe der Zeit stellen trotzdem eine unschätzbare Quelle dafür dar, um mehr über den Alltag und die Lebenserwartungen von Bewohner:innen der Volksrepublik Polen zu erfahren. Insgesamt wurden zwischen 1944 und 1989 etwa 1.600 solcher Wettbewerbe durchgeführt. Organisiert wurden sie oft von „Vorfeldorganisationen“ der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR), wissenschaftlich betreut von Soziolog:innen. Über Radioaufrufe, Anzeigen in Zeitungen und Bewerbung in den Ortsgruppen der unterschiedlichen Organisationen wurde zum Schreiben aufgerufen, und das häufig mit großem Erfolg: über hunderttausend solcher Wettbewerbstexte wurden zu der Zeit der Volksrepublik gesammelt. Alleine für den Wettbewerb zu „Awans Pokolenia“ schickten beinahe 5.500 junge Erwachsene ihre Erinnerungen ein.
Seine Lebenserinnerungen derart aufzuschreiben, gar zu veröffentlichen, war bis dahin nur einer kleinen gesellschaftlichen Schicht möglich. Durch die Erinnerungswettbewerbe erhielt eine neue große Gruppe von Menschen den Anreiz und die Möglichkeit, ihre Sicht auf die Welt zu teilen und über ihr Leben zu erzählen. Alleine deshalb eröffnen sie uns ganz neue Perspektiven. Außerdem geht es bei der Analyse dieser Erinnerungswettbewerbe nicht darum, präzise einzelne historische Ereignisse nachzuerzählen, sondern ein Bild vom Alltag und den Lebenserwartungen der Autor:innen herauszuarbeiten. Dabei spielt es keine so große Rolle, ob einzelne Darstellungen durch Eigen- oder Fremdzensur beeinflusst worden sind. Für die Betrachtung des Bewusstseinswechsels der jungen Generation auf dem polnischen Land in der Nachkriegszeit ist wichtiger, wie die Autor:innen ihre soziale Umwelt beschreiben und welche Vorstellungen von ihrem Leben sie in ihren Texten äußern. Gerade für eine neue historische Perspektive auf die Volksrepublik Polen „von unten“ liefern die Erinnerungswettbewerbe wichtige Einblicke.