Der Mythos, Livland sei seit der Christianisierung im 13. Jahrhundert eine deutsche Kolonie gewesen, begann um 1900 den zeitgenössischen politischen Interessen zu dienen. Wie stellt sich dieser Mythos in kunsthistorischen Erzählungen dar?
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Obwohl sich die Geschichte des deutschen Kolonialismus über die Kontinente Afrika, Asien und Ozeanien erstreckt, wird er gewöhnlich als ein Phänomen von sehr kurzer Dauer betrachtet (ca. 1884–1914).1 In diesem Artikel wird dieses Thema aus einem anderen Blickwinkel betrachtet: ausgehend vom alten Mythos des 
Baltikum
eng. Baltics, lat. Balticum, deu. Baltische Staaten, deu. Baltische Provinzen

Das Baltikum ist eine Region im Nordosten Europas und setzt sich aus den drei Staaten Estland, Lettland und Litauen zusammen. Das Baltikum wird von knapp 6 Millionen Menschen bewohnt.

 als Prototyp des europäischen Kolonialismus. Man glaubte nämlich, dass die Christianisierung der baltischen Länder durch die Deutschen im frühen 13. Jahrhundert dazu führen würde, diese Region zu einer deutschen Kolonie zu machen.
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In der Geschichte des Kolonialismus wird der Begriff ‚Protokolonialismus' landläufig für den mittelalterlichen Kontext des Mittelmeerraums oder den Kontext des 17. und 18. Jahrhunderts verwendet.2 Wie sinnvoll ist es, in diesem Sinne von einer Kolonisierung Livlands3 zu sprechen?
Koloniale Beziehungen gab es gewiss auch innerhalb Europas.4 Osteuropa im weiteren Sinne war im westlichen Diskurs lange Zeit an den Rand gedrängt – konstruiert als das ‚innere Andere' – eine Dimension, die insbesondere architekturhistorische Erzählungen, die eng mit der Geografie verbunden sind, sichtbar machen können.5 Im Falle der Region des Baltikums bedarf diese Erkenntnis keiner besonderen Vorstellungskraft: Derartige Argumente sind in der Rhetorik des 19. und frühen 20. Jahrhunderts unübersehbar. Wo also können 
Estland
eng. Estonia, est. Eesti

Estland ist ein Land in Nordosteuropas. Es wird von ungefähr 1,3 Millionen Menschen bewohnt und grenzt an Lettland, Russland und die Ostsee. Die bevölkerungsreichste Stadt und Hauptstadt zugleich ist Tallinn.

Der heutige estnische Staat erlangte seine politische Unabhängigkeit erst 1991 wieder, infolge der sog. „Singenden Revolution“ in den baltischen Staaten und vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Erstmals war 1918 die Unabhängigkeit Estlands ausgerufen und durch den „Estnischen Freiheitskrieg“ (1918-1920) durchgesetzt worden. Bereits 1940 wurde dieser erste estnische Staat abgelöst durch die unter sowjetischer Besatzung gegründete „Estnische Sozialistische Sowjetrepublik“. Sie war, mit Unterbrechung durch die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg (1941–1944) und mit leicht abweichendem Grenzverlauf, bis 1991 eine Teilrepublik der Sowjetunion. Vor 1918 wiederum war das Gebiet des heutigen Estlands Teil des Russländischen Kaiserreiches, wobei sein nördlicher Teil das Ostseegouvernement Estland, sein südlicher Teil die nördliche Hälfte des Ostseegouvernements Livland bildete. Im Hoch- und Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit hatten Teile des heutigen Landes auch unter schwedischer, dänischer und polnischer Herrschaft gestanden, der livländische Teil bis 1561 auch unter Hoheit des Deutschen Ordens.

Seit 2004 ist Estland Teil der Europäischen Union und der NATO.

 und 
Lettland
eng. Latvian Republic, eng. Latvia, lav. Latvija

Lettland ist ein baltischer Staat im Nordosten Europas und wird von ungefähr 1,9 Millionen Einwohner:innen bewohnt. Hauptstadt des Landes ist Riga. Der Staat grenzt im Westen an die Ostsee und an die Staaten Litauen, Estland, Russland und Weißrussland. Lettland ist seit dem 01.05.2004 Mitglied der EU und erlangte erst im 19. Jahrhundert Unabhängigkeit.

 in den globalen Debatten über (Post-)Kolonialismus eingeordnet werden?6
Von kolonialen Fantasien zum kolonialen Narrativ
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Im Baltikum des 19. Jahrhunderts spielen mehrere Reiche und ‚Kulturkonkurrenten‘ eine wesentliche Rolle: die national ‚erwachenden‘ Gemeinschaften der Esten und Letten, die lokale deutschbaltische Kulturelite, ihr deutsches ‚Mutterland‘ sowie das russische ‚Vaterland‘. Aus kultur- und kunsthistorischer Sicht ist das Verhältnis zwischen diesem Grenzland und Deutschland zentral.
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Einer der ersten Autoren, der sich mit dem Mythos der Kolonisierung auseinandersetzt, ist der Historiker und Geograf Johann Georg Kohl im Jahr 1841. Er bezeichnet die Esten als das kulturell am geringsten entwickelte Volk Europas. Während seine Darstellung von Zeitgenossen kritisiert wurde, ist es wichtig festzuhalten, dass er von Alt-
Livland
eng. Livonia, est. Liivimaa, lav. Livonija

Livland (lett. Livonija, estn. Liivimaa) ist eine historische Landschaft im Baltikum. Sie umfasst den südlichen Teil des heutigen Estlands und den nördlich des Flusses Düne gelegenen Teil des heutigen Lettlands. Benannt wurde die Landschaft nach der heute kaum noch existenten Bevölkerungsgruppe der Liven (auch: Livonen/Livonier).

Historisch kann sich der Name Livland auf weitere, unterschiedliche Zusammenhänge beziehen. Prägend für das heutige Verständnis der historischen Region ist vor allem das gleichnamige Gouvernement, das eines der drei Ostseegouvernements des Russländischen Reiches war. Es bestand seit Beginn des 18. Jahrhunderts und insgesamt bis 1918. Hauptstadt war das an der Dünamündung gelegene Riga.

Zuvor war Livland namensgebend für weitere Staaten und Staatenverbünde, allen voran für die Livländische Konföderation, die seit dem Hochmittelalter bestand. Zur Konföderation gehörten der livländische Teil des Deutschordensstaates sowie regionale geistliche Staaten. Die Konföderation umfasste dabei auch große weitere Teile der heutigen Staaten Lettland und Estland. Nach Auflösung der Konföderation wie auch des Deutschordensstaates im 16. Jahrhundert wechselte die Oberhoheit mehrfach. Ohne die südlichen und nördlichen Gebiete kam Livland zunächst unter polnisch-litauische Herrschaft, später auch unter schwedische Oberhoheit, bevor es im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700-1721) unter russische Herrschaft kam. Prägend für die soziale Binnenorganisation des ländlichen Raumes war bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts vor allem die zentrale Rolle des landbesitzenden deutschsprachigen Adels.

 als einer transmarinen Kolonie schreibt. Kohl betont, dass dies die einzige Kolonie ist, die die Deutschen besitzen.7 Anstatt das Baltikum als negatives Beispiel für die Sklaverei in Europa zu sehen, dienen solche Diskussionen dazu, es zu einem exemplarischen Fall des frühen deutschen Kolonialismus zu erheben. Zu jener Zeit gilt es zu zeigen, dass die Ostsiedlung in ihrer Behandlung der einheimischen Bevölkerung edler und humaner vorgeht, als es in den späteren transozeanischen Kolonien der Fall gewesen war.8 So schreibt der deutschbaltische Intellektuelle Alexander von Hueck 1845: „Livland ist eine Kolonie Deutschlands. Dennoch waren die Deutschen hieselbst keineswegs Kolonisten in dem Sinne, wie sie etwa heut zu Tage in den Wäldern Nordamerikas sind.“9 
Um noch einen Schritt weiter zu gehen, werden die baltischen Länder quasi zum Prototyp für alle späteren Kolonien erklärt. Für das entstehende koloniale Selbstverständnis der Deutschen sind derartige Übertreibungen durchaus passend. Wie die Historikerin Ulrike Plath treffend herausgearbeitet hat, kann man zu dieser Zeit eher von kolonialen Fantasien sprechen als von einem etablierten Diskurs, der sich erst mit der Vereinigung Deutschlands zu entwickeln begann.10 Im späten 19. Jahrhundert entwickelte sich dieser zunehmend zu einem vollwertigen kolonialen Narrativ. Ein bedeutendes Beispiel ist der „Deutsche Kolonial-Atlas“ des deutschen Geographen und Kartographen Paul Langhans, der versucht, die Geschichte dieser ‚kulturellen Mission' in den fernen Peripherien, einschließlich der Handelskolonien der Hanse, zu kartographieren.11
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Er argumentiert, dass das zeitgenössische deutsche Kolonialprojekt nicht einfach aus dem Nichts auftaucht: Es wird gerahmt von vielen Jahrhunderten kolonialer Aktivitäten.12
Kurzum, der koloniale Schatten, der auf Osteuropa lastet, ermöglicht es, das koloniale Defizit des jungen deutschen Staates auszugleichen. In der Tat musste es ein beruhigender Gedanke gewesen sein, wie Plath behauptet, „dass Deutschland möglicherweise nicht zu spät, sondern zu früh die Bühne der Kolonialreiche betreten hatte und somit seine grundlegende globalgeschichtliche Bedeutung schlichtweg vergessen worden sei.“13 Dieses Verdikt fand in der kunsthistorischen Literatur über das Baltikum auf ein erstaunlich unkritisches Echo. Wilhelm Neumann, Architekt und Kunsthistoriker, schrieb wiederholt über den „koloniale[n] Charakter Alt-Livlands“14. Der deutsche Einfluss war seit den ersten professionellen Berichten über die baltische Kunst, die bis in die 1910er Jahre in deutscher Sprache veröffentlicht werden, das gängige Thema in den meisten Schriften über die baltische Kunst.
Kolonialer Diskurs während des Ersten Weltkriegs
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Im Jahr 1841 leitete Kohl seine Darstellung mit den Sätzen ein: „Die Colonieen, welche die Deutschen im zwölften und dreizehnten Jahrhunderte an den östlichen Küsten des baltischen Meeres stifteten, und die Gebiete, welche die hier in den Ländern der Letten und Esthen erwarben, waren ehedem, bevor sie dem russischen Scepter anheimfielen, besser in unserem Vaterlande bekannt als jetzt.“15 Georg Dehio – dieser einflussreichste Name der deutschen Kunstgeschichte und Denkmalpflege, geboren in 
Tallinn
deu. Reval

Tallinn (bis 1918 Reval) ist die Hauptstadt Estlands. Sie liegt im Kreis Harju, direkt an der Ostsee und wird von ca. 434.000 Menschen bewohnt.

 (Reval) – schreibt 1915 in etwa dasselbe: In Deutschland herrscht „im allgemeinen große Unwissenheit […]". Er fährt fort: „Unsere älteste, nächstgelegene und größte Kolonie ist der öffentlichen Meinung gleichgültiger geworden als die prekären Siedelungen in Afrika und Australien.“16 Im selben Jahr wurden die baltischen Provinzen auch von dem in Tallinn geborenen Historiker Theodor Schiemann, einem angesehenen Berliner Professor und einem der Väter der ‚Ostforschung‘, als die „ältesten und einzigen Kolonien des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation“17 bezeichnet.
Man sieht in der Aufrechterhaltung einer kulturellen Grenze zwischen Westeuropa und Russland eine wichtige Aufgabe und einen historischen Beitrag der baltischen Länder. In der politisch aufgeladenen Rhetorik des Ersten Weltkriegs erwies sich die Idee der deutschen Vorherrschaft – und in der Tat die Perspektive, Teil des Deutschen Reiches zu werden – als besonders wirksames Machtinstrument.18 Dehio deutet genau dies an, als er 1918 behauptet: „Daß die Ostsee noch zum Abendland gehört, ist das Verdienst der livländischen Kolonie.“19 Er fordert die Leser auf: „Man stelle sich vor, was geworden wäre, wenn damals Liv-, Est- und 
Kurland
eng. Courland, lav. Kurzeme

Kurland ist eine historische Landschaft im Westen und Süden des heutigen Lettlands. Sie wird im Westen und Norden durch die Ostsee und den Rigaischen Meerbusen, im Nordosten durch den Fluss Düna sowie im Süden durch Litauen begrenzt. Zu den größten Städten Kurlands gehören Jelgava, Ventspils und Liepaja.

Das heutige Verständnis der Region ist stark geprägt durch historische territoriale Zusammenhänge. Prägend ist unter anderem das Gouvernement Kurland, das als eines der drei Russländischen Ostseegouvernements seit 1795 und formal bis 1918 bestand. Dazu gehörten eigentlich noch die kleineren Regionen Semgallen und Oberlettland, die den zentralen bzw. östlichen Teil des Gouvernements bildeten. Sie sind heute vielfach mitgemeint, wenn im historischen Zusammenhang von Kurland gesprochen wird.

Kurland wurde zudem erst mit der Dritten Teilung Polen-Litauens in das Russländische Reich integriert, und damit deutlich später, als die weiteren beiden Ostseegouvernements Estland und Livland, die bereits im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) unter russische Herrschaft gekommen waren. Kurland wiederum war als Herzogtum Kurland und Semgallen noch bis 1795 polnisches Lehen, stand aber bereits zuvor unter starkem russischem Einfluss.

 anstatt von Deutschen von Russen kolonisiert worden wäre.“20
Zahlreiche Gelehrte übernahmen dieses Denkmuster und gaben ihm eigene Akzente, selbst nachdem Estland und Lettland 1918 unabhängige Republiken geworden waren. „Auf kolonialen Boden verpflanzt, ist das Deutschtum jenseits des Mutterlandes bodenständig geworden“21, schrieb der Architekt und Historiker Heinz Pirang 1926 und glaubte, dass es signifikante regionale Merkmale zu entwickeln begann. Er teilt die Geschichte der baltischen Architektur in drei Perioden ein, beginnend mit der Epoche des Aufbaus (1200–1550): „Das Aufbauzeitalter der deutschen Kolonialkultur ist durch gotische Baudenkmäler in würdigster Form vertreten.“22 Es folgt eine Epoche der Zerstörung während des Livländischen Krieges und des Großen Nordischen Krieges und schließlich eine Epoche des Wiederaufbaus (1721–1914), in der der eigenständige „baltische Gedanke“ deutlich sichtbar wird.23
Es ist schwieriger herauszufinden, ob diese offene Betonung der Souveränität der deutschbaltischen Kultur auf den oben erwähnten Vorstellungen von Kolonisierung aufbaut oder vielmehr eine Gegenreaktion auf selbige darstellt. Verglichen mit dem gängigen ‚Opfer‘-Narrativ, das die Deutschbalten ab den 1920er Jahren für ihre Geschichte übernehmen, künden diese Beispiele gewiss von einer ganz anderen Geschichte. Obwohl seine Triebfeder weiterhin darin besteht, die baltische Kunst als Teilgebiet der deutschen Kunst zu zeigen, erklärt auch Dehio in der Tat: „man beachte, daß z. B. Reval heute mehr spätgotische Schnitzaltäre in seinen Kirchen besitzt als Straßburg, Rostock mehr als Ulm –, so erweist sich, daß von einer Unterlegenheit der Kolonialländer gegenüber Altdeutschland hier gar nicht die Rede sein kann.“24
Konklusion
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Historiker sollten sich davor hüten, die in alten Texten anzutreffenden kolonialen Begriffe allzu rasch mit heutigen Interpretationen zu überfrachten. Jedoch treten in der Rhetorik des Ersten Weltkriegs die deutschen Kolonialambitionen gegenüber dem Baltikum sehr deutlich zutage – zumal die Schattenseiten einer kolonialen Weltordnung kaum je beleuchtet werden. Diese sich über 700 Jahre erstreckende ‚große Kolonialgeschichte‘ ist natürlich dieselbe, die estnische Gelehrte des nationalen ‚Erwachens‘ wie Jakob Hurt (1839–1906) oder Carl Robert Jakobson (1841–1882) als die ‚700 Jahre kolonialer Dunkelheit‘ bezeichnen.
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Aus dieser Perspektive stellt der Ostseeraum ein perfektes Beispiel von ‚innereuropäischem Kolonialismus‘ dar, eine Erzählung, die ihren Höhepunkt im frühen 20. Jahrhundert erreichen sollte. Obwohl der Mythos, seit dem 13. Jahrhundert eine Kolonie zu haben, nicht so recht in die europäischen Modelle des Kolonialismus passen wollte, dient er dennoch als wichtige Ergänzung zu den umfassenderen Strukturen kolonialer Geschichte und Vorstellung. Die Projektion der eigenen gegenwärtigen Verhältnisse – und des Wunschdenkens – auf die Geschichte geschieht häufig genau dann, wenn eine historische Rechtfertigung für die Durchsetzung der politischen Ziele der Gegenwart erforderlich scheint. Heute, wo in Europa neue gewaltsame Versuche unternommen werden, benachbarte Territorien für sich zu beanspruchen, können uns diese Texte daran erinnern, dass der Griff zu den intellektuellen Waffen nicht auf Gedankenspiele beschränkt ist, sondern ganz unmittelbare Auswirkungen auf die reale Welt haben können.

Siehe auch