Im Frühling 2023 fand in Berlin-Kreuzberg die Өmә-Ausstellung statt und erfuhr ein großes Medienecho. Die Ausstellung entlarvte nicht nur die Reproduzierbarkeit des russischen Imperialismus und bezeichnete den Krieg in der Ukraine als kolonial, sondern stellte auch politische Forderungen nach territorialer Unabhängigkeit.
Einleitung
Text
Im Frühjahr 2023 fand in Berlin eine Ausstellung statt, die dem kulturinteressierten Publikum die ethnische Vielfalt der Russländischen Föderation näherbrachte und zugleich eine politisch-dekoloniale Perspektive vorstellte. In der Russländischen Föderation leben zwischen 145 und 190 verschiedene ethnische Gruppen und Völker und haben hier wie auch zuvor in der 
Sowjetunion
eng. Soviet Union, deu. Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз, . Совет Ушем, . Советонь Соткс, rus. Sovetskij Soûz, . Советий Союз, yid. ראַטן־פֿאַרבאַנד, yid. סאוועטן פארבאנד, yid. sovətn farband, yid. sovʿtn-farband, yid. sovətn-farband, . Советтер Союзу, . Совет Союзы, deu. Советий Союз, . Советон Цæдис, . Совет Эвилели

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Sie ist aus dem sog. Sowjetrussland hervorgegangen, dem Nachfolgestaat des Russländischen Kaiserreichs. Den Kern der Union und zugleich ihren größten Teil bildete die Russische Sowjetrepublik, hinzu kamen weitere Teilrepubliken. Ihre Zahl variiert über die Zeit hinweg und steht im Zusammenhang mit der Besatzung anderer Länder (Estland, Lettland, Litauen), nur kurzzeitig bestehenden Sowjetrepubliken (Karelo-Finnland) oder mit der Teilung bzw. Zusammenlegung von Sowjetrepubliken. Zusätzlich gab es zahlreiche autonome Republiken oder sonstige Gebietseinheiten mit einem Autonomiestatus, der sich im Wesentlichen auf eine sprachliche Autonomie der Minderheiten beschränkte.

Die UdSSR bestand vor ihrer formellen Auflösung aus 15 Sowjetrepubliken mit einer Bevölkerung von ungefähr 290 Millionen Menschen. Mit ca. 22,4 Millionen km² bildete sie den damals größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem und einer fehlenden Gewaltenteilung.

 und im 
Russländisches Kaiserreich
rus. Росси́йская импе́рия, rus. Rossijskaja imperija, eng. Russian Empire, deu. Russisches Kaiserreich, deu. Russländisches Reich

Das Russische Kaiserreich (auch Russländisches Kaiserreich, Russisches Reich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.

 eine jahrhundertlange Geschichte des Lebens und Überlebens. Offiziell sind 44 davon indigene Völker (korennyje maločislennyje narody) – ethnische Volksgruppen, die bereits vor der Kolonisierung im 16. Jahrhundert auf dem Territorium der heutigen Russländischen Föderation lebten. Diese Diversität aufgreifend, thematisiert die Ausstellung erstmals potenzielle, russland-interne Dekolonisierungstendenzen, die bereits im taz-Artikel „Wider die Russische Föderation“ von Oleksiy Radynski anklingen. 
Das in Berlin realisierte Ausstellungsprojekt des anonymen Kurator:innenkollektivs mit dem Namen „FATA“ entstand im Rahmen einer Residenz für Frauen, nicht-binäre und Trans-Personen in Russland im Jahr 2021. Mit dem Ausbruch des vollumfänglichen Kriegs gegen die Ukraine wurde der russländische feministische Protest zu einer der treibenden Kräfte des Antikriegs-Widerstands und ging gleichzeitig ein Bündnis mit dekolonialen Aktivist:innen ein. Für die Realisierung des Projekts in Berlin im Jahr 2023 passten die Organisator:innen und Künstler:innen das Konzept dementsprechend an dekoloniale Fragestellungen an. So wurden feministische Themen um die Auseinandersetzung mit dem russländischen und sowjetischen Kolonialismus ergänzt. Bis auf einige Ausnahmen stammen fast alle Teilnehmer:innen dieser Ausstellung aus verschiedenen Republiken der Russländischen Föderation. Lediglich drei der 30 Teilnehmer:innen treten mit ihrem Klarnamen auf: Victoria Sarangova, Polina Osipova und Neseine Toholya.
Dekolonialität in Russländischen Föderation
Text
Seit mindestens zehn Jahren kann im russländischen Kontext ein gesteigertes Interesse an postkolonialen und dekolonialen Perspektiven beobachtet werden. Die Begriffsunschärfe bei der Verwendung dieser Konzepte (auch des Post-Imperialismus) ist charakteristisch für diesen Diskurs, was weniger an fehlendem Geschichtswissen liegt – die Sowjetunion hatte keine international anerkannten Kolonien – denn an der Pluralität der jeweiligen zugrundeliegenden politischen Motive. Postkolonialität beschäftigt sich mit den Langzeitwirkungen von imperialen und kolonialen Strategien, und Dekolonialität hat zusätzlich einen ausgeprägten emanzipativen Aspekt. Dabei greifen die Bedeutungen dieser Konzepte oft ineinander. Zu den Wissenschaftler:innen aus der Russländischen Föderation, die auch im Ausland für ihre postkoloniale und dekoloniale Perspektive bekannt sind, gehören u. a. Alexander Etkind Alexander Etkind Alexander Etkind (Professor an der Central European University in Wien) ist Psychologe, Kultur- und Literaturwissenschaftler. Er ist Autor mehrerer Monographien in russischer und englischer Sprache zur russländischen Geschichte und Kultur. Im Jahr 2011 auf erschien auf Englisch und 2013 auf Russisch sein Buch ‚Internal Colonization. Russia's Imperial Experience‘, das die Geschichte des Imperialismus im 19. Jahrhundert in Russland kritisch aufarbeitet und das Konzept der „internen Kolonisierung“ in einem russischsprachigen akademischen Kontext popularisiert.  und Madina Tlostanova Madina Tlostanova Madina Tlostanova (Professorin an der schwedischen Universität Linköping) ist eine Literaturwissenschaftlerin, dekoloniale Schriftstellerin und Essayistin. Tlostanova ist eine der prominentesten russischsprachigen, transdiasporischen, dekolonialen Autorinnen. Im Jahr 2022 veröffentlichte sie zusammen mit Walter Mignolo ‚Learning to Unlearn: Decolonial Reflections from Eurasia and the Americas‘. Tlostanova problematisiert den russischen Literaturkanon und schreibt über dekolonialen Feminismus und Ästhetik in einem postsowjetischen Kontext. . Darüber hinaus erscheint seit 1999 die Zeitschrift Ab Imperio, die zur Geschichte des Imperialismus und Nationalismus im postsowjetischen Kontext publiziert. Und 2020 widmete die Zeitschrift Novoje Literaturnoje Obozrenije dem Thema „Das Postsowjetische als das Postkoloniale“ (Постсоветское как постколониальное) eine Sonderausgabe, in der die Frage gestellt wird, inwieweit postkoloniale Theorien auf die postsowjetischen Realitäten anwendbar sind.
Was die Dezentralisierung der zeitgenössischen Kunst in der Russländischen Föderation angeht, so gibt es seit ca. 2019 das Museum für zeitgenössische Kunst „Zaman“ in 
Ufa
rus. Уфа

Ufa (Bevölkerungszahl 2023: 1.163.304) liegt an der Mündung des Flusses Ufa vor den Toren Sibiriens. Neben den Russen (48%) leben in der Stadt vor allem Tataren (26%) und Baschkiren (20%). Die Geschichte Ufas geht auf eine 1574 auf Erlass von Ivan dem Schrecklichen gegründete Festungssiedlung zur Sicherung gegen die nomadischen Stämme zurück. Im 17. Jahrhundert galt Ufa als eine wichtige Handelsstadt. Im 19. Jahrhundert entwickelte sich Ufa zu einem wichtigen Industriezentrum, was der Ausbau der Flussschifffahrt begünstigte. Während der Wirren nach der Oktoberrevolution 1917 war Ufa ein wichtiges Zentrum für die Gegner der Bolschewisten. Im September/Oktober 1918 bildete sich hier eine Provisorische Regierung für Russland, die jedoch bald nach Omsk umzog. Seit 1919 ist Ufa die Hauptstadt der autonomen Republik, die zunächst Baschkirien und seit 1992 Baschkortostan heißt. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts tragen die Erdölverarbeitung und der Maschinenbau zu einer raschen Entwicklung der Stadt bei.

 (
Baschkortostan
eng. Bashkortostan, rus. Baškortostan, rus. Башкортостан

Die Republik Baschkortostan (Bevölkerungszahl 2023: 4.064.361) liegt am südwestlichen Rand des Uralgebirges, das die Grenze des europäischen Teils Russlands markiert. Die Amtssprachen Baschkortostans sind Baschkirisch und Russisch, seine Hauptstadt ist Ufa. Namensgebend für die Republik sind die Baschkiren (31%), welche neben Russen (37%) und Tataren (24%) die größten ethnischen Gruppen bilden.

Seit dem 16. Jahrhundert etablierte sich Russland als Schutzmacht für die hier lebenden Baschkiren, vor allem gegen die aus dem Osten eindringenden nomadischen Völker. 1919 entstand die Autonome Republik, zu der zunächst ein kleiner Teil der von den Baschkiren bewohnten Gebiete gehörte, bis sie 1922 das gesamte Gebiet des ehemaligen Gouvernements Ufa umfasste. Ihr Name wurde 1937 als Baschkirische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik festgelegt, seit 1992 heißt sie offiziell Republik Baschkortostan.

), das sich auf die Kunst und Kultur der Regionen 
Wolga
eng. Volga, deu. Föderationskreis Wolga, rus. Приволжский федеральный округ, rus. Priwolschski federalny okrug, . Атăл федераци тăрăхĕ, . Идел буе федераль округы, . Volgador federal kytš, . Волгадор федерал кытш, rus. Privolžskij federalʹnyj okrug, . Volga bujy federalʹ okrugy, . Волга буйы федераль округы, . Idel bue federalʹ okrugy, . Atăl federat͡si tărăkhĕ, rus. Privolzhskiĭ federalʹnyĭ okrug, eng. Volga Federal District

Der Föderationsbezirk Wolga (Bevölkerungszahl 2023: 28.540.832) wurde im Jahr 2000 als einer der damals sieben Föderationsbezirke Russlands geschaffen und ist nach dem 3.530-km-langen Fluss Wolga genannt. Seine Fläche beträgt 1.036.975 km². Er liegt im Südwesten Russlands, im europäischen Teil des Landes, und Kasachstan ist sein direktes Nachbarland. Die Hauptstadt des Föderationsbezirks ist Nischni Nowgorod.
Im Zuge der Hinwendung zu Europa unter der Herrschaft von Peter dem Großen wurde die Region um die Wolga ein zentraler Verbindungspunkt zur Ostsee und dem Kaspischen Meer. Weiterhin wurden die in der Herrschaftsperiode von Katharina der Großen gekommenen deutschen Sielder:innen dem Fluss nach als „Wolgadeutsche“ bezeichnet. 1918-1943 wurde ihnen Autonomie gewährt, ab 1924 im Rahmen einer autonomen Republik.
Im Föderationsbezirk Wolga gibt es Vorkommen von Erdöl und Erdgas sowie Kalisalz-, Phosphorit-, Zink-, Kupfer-, Silber- und Goldvorkommen. Diese werden auch von der hier ansässigen Industrie verarbeitet. Die Schwerindustrie und der Maschinenbau sind hier stark mit der Rüstungsindustrie, der Automobilindustrie und der Luft- und Raumfahrttechnik verflochten.

, Kama und 
Ural
eng. Ural Federal District, rus. Уральский федеральный округ, rus. Uralʹskij federalʹnyj okrug, deu. Föderationskreis Ural, deu. Föderationsbezirk Ural, rus. Uralski federalny okrug, eng. Ural, rus. Uralʹskiĭ federalʹnyĭ okrug (Russia)

Der Föderationsbezirk Ural (Bevölkerungszahl 2023: 12.262.295) wurde im Jahr 2000 als einer der damals sieben Föderationsbezirke Russlands geschaffen. Bei einer Gesamtfläche von 1.818.497 km² liegt sein größter Teil auf der asiatischen Seite des Landes und umfasst dabei auch das Uralgebirge. Seine Hauptstadt ist Jekaterinburg.

Auf dem Gebiet des Föderationsbezirks befinden sich etliche Bodenschätze, die bereits im 18. Jahrhundert zum wirtschaftlichen Aufstieg der Region beitrugen, aber wegen der schweren Zugänglichkeit erst seit dem 20. Jahrhundert in großem Umfang abgebaut werden konnten. Die hiesige Industrie steuerte wesentlich zur sowjetischen Militärproduktion bei, insbesondere während des Zweiten Weltkriegs, als zahlreiche Betriebe aus dem europäischen Teil des Landes hierher verlegt wurden. Neben Silber- und Goldvorkommen, spielen die Eisen- und Manganerze eine bedeutende Rolle, wobei insbesondere im 21. Jahrhundert der Abbau und die Verarbeitung von Gas und Erdöl eine besonders wichtige Position einnehmen.

 konzentriert. Ferner gibt es auch die sich rasant entwickelnde künstlerische Bewegung des Ethno-Futurismus, bei der es um die Wiederbelebung der Kunst und Kultur der finno-ugrischen Völker der Russländischen Förderation geht. Entstanden während der „Parade der Souveränität“ „Parade der Souveränität“ Die „Parade der Souveränität“ markiert den politischen Prozess der Ausrufung der Souveränitäten in der Sowjetunion und der Russländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) in den Jahren 1988-1991. in den 1990er Jahren, wendet sie sich gegen Assimilation und entwirft alternative Zukunftsbilder.
In der Өmә-Ausstellung haben wir es mit Künstler:innen zu tun, die ihre Erfahrungen bei der Auseinandersetzung mit ihrer individuellen Geschichte zum Ausdruck bringen. Ihre persönlichen (Familien)geschichten haben Bezüge zur Repressions-Geschichte der Sowjetunion. Der Zusammenhang zwischen diesen Positionen und der Dekolonisierung ist nicht so offensichtlich, wie das Kurator:innen-Kollektiv es darstellt, und soll im Folgenden erläutert werden.
Erinnerung
Text
Ein wichtiges Thema der in der Ausstellung präsentierten Werke ist die Politik und Kultur der Erinnerung an die Verbrechen des Stalinismus. Damit beschäftigt sich die in Berlin lebende Künstlerin Victoria Sarangova in ihrer Arbeit Heimatland 2022 (Abb. 1.1), in der es um die Deportation der Kalmück:innen in den Jahren 1943–1956 geht. Neben Krimtatar:innen, Ingusch:innen, Tschetschen:innen, Wolgadeutschen u.a. wurden Kalmück:innen aus ethnischen Gründen aus ihrer Heimat deportiert, was zum Verlust ihrer nationalen Selbstbestimmung führte. Bei dem Versuch, die Familiengeschichte ihrer verstorbenen Mutter Nadezhda Sarangova zu rekonstruieren, konsultierte die Künstlerin die Webseite der Gesellschaft Memorial und suchte dort nach ihrem Familiennamen. Bei ihrer Recherche stellte sie fest, dass 194 weitere ihrer Namensvetter auf der Liste der Deportierten standen, was das quantitative Ausmaß der Deportation deutlich macht. Dieser Fund wurde zum Ausgangspunkt ihres künstlerischen Projekts. Sie begann die gefundenen Einträge über die Sarangovs auf farbige, an tibetische Gebetsfahnen angelehnte Stoffstücke zu sticken (Abb. 1.2). Die Arbeit ist im Gange und sobald alle Fahnen bestickt sind, sollen sie Teil einer Installation in der kalmückischen Steppe in Form eines Obo (Owoo) werden, einer kultischen Bauart, die von Kalmücken für Zusammenkünfte und für kollektive Trauer verwendet wird (Abb. 1.3). Damit schafft Sarangova ein alternatives Denkmal der Trauer, denn ihr Konzept steht im deutlichen Gegensatz zum offiziellen nationalen Mahnmal Exodus und Rückkehr in der Stadt 
Elista
rus. Stepnoj, rus. Элиста, . Elst, . Элст, rus. Stiepnoj, rus. Степной, . Èlst, rus. Èlista, . Ėlst, rus. Ėlista, rus. Stepnoi, rus. Stepnoy

Elista (Bevölkerungszahl 2023: 103.219) liegt im Süden Russlands und ist die Hauptstadt der Republik Kalmückien. Die 1865 entstandene Handelssiedlung erhielt erst 1930 Stadtrechte, als sie bereits seit zwei Jahren die Hauptstadt der autonomen Kalmückischen Oblast war. Die Stadt war in den 1930er Jahren von der Kollektivierungspolitik Stalins geprägt: Die zuvor nomadisch lebenden Kalmücken wurden gezwungen, sich zugunsten eines vorgeblich modernen, urbanen Lebensstils in Elista anzusiedeln. Seit 1935 war Elista die Hauptstadt der Kalmückischen ASSR. 1942 wurde die Stadt von der Deutschen Wehrmacht besetzt und vor deren Rückzug zu Beginn 1943 in Brand gesteckt. Nach der Aufhebung der Autonomie als Kollektivstrafe für die Kollaboration mit den Deutschen wurde Elista 1944 in Stepnoj umbenannt, viele Bewohner:innen wurden in Straflager deportiert. Der Wiederaufbau verlief nur schleppend. Nach der Wiedereinführung der autonomen Oblast 1957 erhielt Elista seinen alten Namen zurück. 1958 wurde sie wieder zur Hauptstadt der ASSR. Elista ist die einzige Hauptstadt Europas, die von buddhistischer Kultur geprägt ist.

Kalmückien
eng. Kalmykia, rus. Kalmykiâ, rus. Kalmykija, rus. Калмыкия, deu. Kalmykien, deu. Kalmükien, . Halʹmg Taṇḥč, . Chalʹmg Tangghtsch, . Хальмг Таңһч

Die Republik Kalmückien (Bevölkerungszahl 2023: 266.770) liegt im Süden Russlands und grenzt im Osten an das Kaspische Meer. Ihre Fläche beträgt 74.731 km². Die Amtssprachen sind Kalmückisch und Russisch. Eine Besonderheit von Kalmückien ist der dort vorherrschende Buddhismus. Die hier zu Beginn des 17. Jahrhunderts eingewanderten Kalmücken gründeten 1663 das Kalmückische Khanat, das tributpflichtig gegenüber Russland war und schließlich 1771 einverleibt wurde. 1920 entstand die Autonome Kalmückische Oblast, die 1935 in die Kalmückische ASSR umgewandelt wurde. 1943 wurde die Autonomie aufgehoben, da den Kalmücken Kollaboration mit der deutschen Wehrmacht vorgeworfen worden wurde. Das Gebiet wurde in verschiedene territoriale Einheiten eingegliedert. 1957 wurde die Autonome Oblast wiederhergestellt, die 1958 wieder den Status der Republik erlangte. Diese ist jetzt als Republik Kalmückien ein Subjekt der Russländischen Föderation.

Die sowjetischen Bewässerungskonzepte führen seit den 1960er Jahren zu einer stark ausgeprägten Wüstenbildung in Kalmückien, von der immer größere Landesteile betroffen sind.

 (Abb. 2). Dessen Bronzeteil wurde vom sowjetischen-US-amerikanischen Bildhauer Ernst Neizvestny (1925–2016) im Jahr 1996 in der Tradition der Moderne konzipiert. Während das Neizvestny-Denkmal in erster Linie die einheitliche Erinnerung an die Deportation des gesamten kalmückischen Volks darstellt, geht es in Sarangovas Arbeit mehr um die persönliche und familiäre Erinnerung, bei der die Namensnennung eine wichtige Rolle spielt.
Sarangovas Arbeit thematisiert auch das Problem der fehlenden Details über die genauen Umstände der Deportationen. Meistens ist jeweils nur ein spärlicher Eintrag in den Listen bei Memorial zu finden: Geburtsdatum und -ort der Person, das Urteil „Vertreibung aus ethnischen Gründen (Kalmückien)“, Todesdatum und -ort. Durch das Sticken der Informationen macht die Künstlerin sich einerseits die Sprache der Bürokratie und der Fakten zu eigen. Andererseits aber kann ihre Stickerei als ein Versuch gesehen werden, etwas Persönliches, Fürsorgliches und Lebendiges in die nahezu anonyme, abstrakte und offizielle Erinnerung einzuschreiben.
Körperlichkeit
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Die skulpturale Arbeit Weiche Serie (2023) der baschkirischen Künstlerin mit dem Pseudonym Gul Zeile wurde an einer zentralen Stelle unter einer Glasvitrine präsentiert (Abb. 3.1). Die Arbeit stellt einen weiblichen Körper aus Filz dar, der sich in einem Zustand der Verwesung oder Zerstückelung befindet. Zu erkennen sind einzelne Körperteile wie Beine, Kopf, innere Organe, der Kopf, Blutlachen. Die roten und blauen Fäden im hellen Filz, die die Venen oder Wunden darstellen, erscheinen jedoch dekorativ und die Weichheit des Materials erzeugt einen Effekt von Wärme. Darüber hinaus ist der Körper eindeutig hybridisiert und mit Kleidungsstücken verschmolzen. Die Füße haben Absätze und sind in Form von Schuhen geschwungen (Abb. 3.2). Auf ihrem Kopf trägt sie Kopfschmuck, und der Oberkörper verschmilzt mit einer Decke. Laut der Ausstellungsbroschüre verweist die Installation auf anatomische Kabinette aus der Kolonialzeit, in dem Modelle von menschlichen Körpern zu Lehrzwecken für Ärzte und Medizinstudent:innen aufbewahrt wurden. Die Objekte, die rein praktischen Zwecken dienten, entbehrten dennoch nicht einer gewissen Ästhetik und reproduzierten gleichzeitig unter dem Deckmantel der Wissenschaft oft eine patriarchale Sicht auf den weiblichen Körper (Abb. 3.3; 3.4). Laut den Ausstellungsmacher:innen thematisiert Gul Zeiles Arbeit die Auswirkungen ausbeuterischer körperlicher Arbeit und kolonialer Unterdrückung ohne einen spezifischen raum-historischen Bezug. Die Arbeit kann aber auch als ein Versuch interpretiert werden, Einfühlsamkeit und Zärtlichkeit bei der Darstellung von erfahrenem Unrecht in den Vordergrund zu rücken. Dieser, nicht zuletzt durch die Verwendung des Materials erzeugte Eindruck, thematisiert die beiden widersprüchlichen Charaktereigenschaften des Menschen: Empathie und Monstrosität. Da die Arbeit keinen spezifischen raum-historischen Kontext benennt, kann sie sowohl als ein Bezug auf den vom Westen ausgehenden Kolonialismus und Kapitalismus als auch auf die von der Sowjetunion ausgehenden Unterdrückung gelesen werden.
Heimatgefühl
Text
Neseine Toholya stellt in einem separaten kleinen Raum Zeichnungen auf großformatigen Papierbögen aus. Die Arbeit Uferstraße (2023) (Abb. 4.1 – 4.4) ist eine Darstellung einer Straße in ihrem Heimatort 
Âr-Sale
rus. Yar-Sale, rus. Jar-Sale

Jar-Sale (Bevölkerungszahl 2020: 7.410) ist ein 1927 gegründetes russisches Dorf im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen. Im Zusammenhang mit der Erschließung von Gasvorkommen in der Nähe des Dorfes erfährt Jar-Sale im 21. Jahrhundert ein schnelles Wachstum der Bevölkerungszahl.

 im 
Âmalo-Neneckij avtonomnyj okrug
deu. Autonomer Kreis der Jamal-Nenzen, . Ямалы-Ненёцие автономной ӈокрук, eng. Yamalo-Nenets Autonomous Okrug, rus. Ямало-Ненецкий автономный округ, . Jamaly-Nenjocije awtonomnoj ŋokruk, . Jamaly-Nenjozije awtonomnoi njokruk, . Âmaly-Nenëcie avtonomnoj ṇokrug, eng. Yamalo-Nenets Autonomous District

Der Autonome Bezirk der Jamal-Nenzen (Bevölkerungszahl 2023: 515.960) liegt in der Oblast Tjumen im Norden Russlands an der Karasee. Seine Amtssprachen sind Nenzisch und Russisch. Der Bezirk wurde 1930 als Nationaler Bezirk der Oblast Ural geschaffen. Seit 1944 gehört er zur Oblast Tjumen. 1977 wurde er in einen Autonomen Bezirk umgewandelt.

Die namensgebenden Nenzen stellen nur 9 % der Bevölkerung, Russen hingegen fast 63 %. Das mit dem Abbau und der Verarbeitung von Erdöl und Erdgas verbundene schnelle Wirtschaftswachstum der Region zieht eine entsprechend starke Zuwanderung nach sich. Mit einer Bevölkerungsdichte von 0,7 Einwohnern/km² gehört sie allerdings dennoch zu den am dünnsten besiedelten Gebieten Russlands. Der Bezirk gehört aktuell zu den reichsten im Land.

. Toholyas Straße ist dargestellt als eine Aneinanderreihung von Frontalfotografien einzelner Wohnhäuser. Die Schwarz-Weiß-Fotokopien werden in der Arbeit durch farbige Zeichnungen, Glitzer und Fotokopien von menschlichen Figuren ergänzt. Für nahezu jedes Haus erzählt die Künstlerin eine eigene Geschichte: Jedes Haus hat seine eigene Energie, Augen oder Gesichter, Monde und Sonnen. Die Ansichten vom heutigen Yar-Sale, wo alle Häuser bunt sind und modern erscheinen, deuten darauf hin, dass Toholya auf Schwarz-Weiß-Fotografien zurückgegriffen hat, um eine gewisse Nachdenklichkeit zu erzeugen und um einen Bezug zur Erinnerungsästhetik herzustellen. In der Darstellung ihrer Heimatstraße ist viel Gefühl zu sehen, Sehnsucht nach Vertrautem und doch Fremden. Auch wenn das nicht Thema ihrer Arbeit zu sein scheint, so gab es im Autonomen Kreis der Jamal-Nenzen und auch unweit von Yar-Sale mehrere Gulags. Hier starben und überlebten Tausende von Deportierten aus dem gesamten Einflussbereich der Sowjetunion (Rumän:innen, Moldauer:innen, Tatar:innen, Ukrainer:innen, Jüd:innen, Russ:innen und Wolgadeutsche), die zusammen mit der indigenen Bevölkerung, darunter den Nenzen, die Gemeinschaft solcher Örtchen bildeten. Die Arbeit der Künstlerin verstärkt das Gefühl, dass die Geschichte von Yar-Sale aus einer Vielzahl von sehr unterschiedlichen Geschichten besteht, die jedoch alle in dieser kleinen Straße zusammenlaufen.
„Dekolonisierung ist keine Metapher!“ – oder doch?
Text
Im kuratorischen Begleittext offenbart sich eine radikale dekoloniale Perspektive des Kurator:innen-Kollektivs. Sie äußert sich explizit in ihrem Verweis auf den im aktuellen Dekolonisierungsdiskurs oftmals zitierten Text von Eve Tuck und K. Wayne Yang und die darin enthaltene Proklamation „Dekolonisierung ist keine Metapher“: Dekolonisierung könne nichts anderes sein als die konkrete Rückgabe des gesamten Landes sowie der Verzicht der Siedler:innen auf gestohlenes Land. Eve Tuck, eine Wissenschaftlerin der Indigenous Studies und Aleutin Aleutin Die Aleuten sind eine zwischen den USA und der Russländischen Föderation angesiedelte Volksgruppe , und der Ethnologe K. Wayne Yang meinen hier die Siedler:innen, die im Zuge der ‚Entdeckung‘ Nordamerikas das Land der indigenen Bevölkerung besetzt haben. Dekolonisierung, so heißt es bei Tuck und Yang, dürfe nicht zur bloßen Metapher werden, das heißt, es dürfe nicht für Aktivitäten oder Prozesse stehen, die nicht zur Rückgabe des Landes führen. Betrachten wir die lange Liste von gesellschaftlichen und politischen Bewegungen, die die Autor:innen anprangern sowie die Wissenschaft an sich, müssen wir davon ausgehen, dass die Autor:innen nicht nur die Siedler:innen als problematisch betrachten, sondern alle Gesellschaftsformen mit pluralistischer Politik. Die Proklamation „Dekolonisierung ist keine Metapher“ ist eine Chiffre für Kompromisslosigkeit, deren Ziel utopisch ist: „Decolonization offers a different perspective to human and civil rights based approaches to justice, an unsettling one, rather than a complementary one. Decolonization is not an ‘and’. It is an elsewhere.“
Das FATA-Kollektiv versucht, „indigene Völker“ (korennye narody) als Repräsentant:innen der radikalen Dekolonisierungsbewegung in der Russländischen Föderation zu inszenieren. Sie werden dadurch zur Chiffre einer Utopie, deren Handlungsoptionen – wenn auch ex negativo – klar umrissen sind. Das Hauptproblem der Ausstellung liegt jedoch weniger in der Utopie – immerhin produziert sie kraftvolle und mobilisierende Bilder – denn in der potenziell einseitigen Darstellung der Realität. So ließe sich mit gutem Grund etwa die Frage nach der Vielfalt der Sichtweisen, Meinungen und Erinnerungen innerhalb der indigenen Bevölkerung stellen. Gibt es Uneinigkeiten bezüglich der Erinnerungskultur innerhalb der Gemeinschaften? Gibt es dort Positionen, die nicht zur politischen Ausrichtung der Ausstellung passen? Eine realistischere Darstellung der Situation der verschiedenen Völker in der Russländischen Föderation als widersprüchlich wäre zwar wenig schmeichelhaft, weil sie auch assimilierte bzw. russländische Positionen beinhalten müsste. Sie würde es jedoch ermöglichen, eine Offenheit für verschiedene, komplexere, langwierigere politische Handlungsoptionen zu bewahren.
In jedem Fall könnten und sollten die ausgestellten Arbeiten unabhängig von der engführenden kuratorisch-aktivistischen Rahmung wahrgenommen werden, in der sie präsentiert werden. Sie haben nämlich das Potential, die Unterschiede und die Individualität zu veranschaulichen, die in der künstlerischen Ausführung angelegt sind. In den Arbeiten artikuliert sich die Erkenntnis, dass die Konfrontation mit dem vollen Ausmaß der erfahrenen Gewalt eine Gefahr birgt, nämlich die der Paralyse im Angesicht der mit der Menschlichkeit nicht in Einklang zu bringenden Wahrheit. Aus diesem Grund erscheint das Motto, unter welchem die Ausstellung stattfindet, „Dekolonisierung ist keine Metapher“, als ein eindrückliches Bild für die weitreichenden Konsequenzen einer totalen Konfrontation mit der Vergangenheit. Dass sie auch von den Opfern gefürchtet wird, ist nachvollziehbar, es ist jedoch auch mutig und inspirierend, dass die Künstler:innen sich an die Kante des Abgrunds wagen, um uns zu zeigen, was sie dort vermuten.