Der postkoloniale Blick auf das östliche Europa

Geschichte und Gegenwart eines
erfolgreichen Ansatzes
,
Der Dialog zwischen Postkolonialen Studien und Osteuropaforschung hat seinen Ursprung in
den 1990er Jahren, als die Weltordnung des Kalten Krieges grundlegend erschüttert wurde.
Insbesondere seit der Jahrtausendwende haben sich postkoloniale Perspektiven auf das östliche
Europa verbreitet, weiterentwickelt und zu neuen Erkenntnissen sowohl über diese Region als
auch über die globalen kolonialen Machtverhältnisse geführt.

Der Platz des östlichen Europa in der kolonial geprägten modernen Welt

Die Postkolonialen Studien analysieren die kolonialen Machtverhältnisse zwischen den verschiedenen Regionen, Gesellschaften und Kulturen des Globus in den letzten drei Jahrhunderten. Sie betrachten diese Machtverhältnisse als Fundament der modernen Welt – jenes Systems politischer, ökonomischer und kultureller Beziehungen, das mit dem Zeitalter der europäischen Expansion des 15. und 16. Jahrhunderts seinen Ursprung nahm und durch die Industrielle Revolution entscheidend vorangetrieben wurde. Mit dieser Perspektive einher geht eine kritische Haltung gegenüber dem Phänomen der europäischen oder westlichen Moderne an sich, welche die postkolonialen Autor:innen auch als koloniale Moderne bezeichnen. Denn der Hauptgegenstand der postkolonialen Kritik ist nicht nur oder nicht primär der Kolonialismus als materielle Ausbeutung und Gewaltherrschaft einzelner europäischer Kolonialimperien in den außereuropäischen Kolonien. Vielmehr geht es darum, die Allgemeingültigkeit und den kolonialen Charakter der modernen Begriffe von Geschichte, Kultur und Wissen zu hinterfragen. Aus Sicht der postkolonialen Forschung trugen diese Begriffe entscheidend dazu bei, dass Europa sich selbst an der Spitze des Fortschritts in der modernen Welt verorten konnte. Spiegelbildlich wurde der koloniale außereuropäische Raum dadurch in eine Position der ewigen Rückständigkeit gegenüber der Moderne gerückt – verbunden mit der unendlichen Aufgabe, die Geschichte und Modernität Europas nachholen zu müssen. Diese Position und Aufgabe liegen dem historischen Kolonialismus den Postkolonialen Studien zufolge nicht nur zugrunde, sondern überdauern ihn und prägen unsere Gegenwart.1  Die englische imperialistische Formel „The West and the Rest“, der Westen und der Rest, bringt dieses strukturelle Ungleichgewicht der modernen Welt zum Ausdruck, wie Stuart Hall treffend argumentiert.2
Welchen Platz nimmt das östliche Europa in einer solchen hierarchischen Weltordnung der kolonialen Moderne zwischen „dem Westen und dem Rest“ ein? Diese Frage stand bis in die 1990er Jahre nicht prominent auf der Agenda postkolonialer Forschung, während die „Zweite Welt“ (die sozialistischen Staaten) in der Zeit des Kalten Krieges als mit dem Kapitalismus konkurrierendes Modernitätsmodell galt. Durch den Mauerfall verlor dieses Modell als Alternative zur westlichen Dominanz in der modernen Welt an Gültigkeit. Die Transformationserfahrung der postsozialistischen Gesellschaften wies gleichzeitig frappierende Parallelen zur außereuropäischen Dekolonisierung auf. Damit rückte das östliche Europa näher an die postkoloniale Welt. In den 1990er Jahren verbreitete sich zudem eine Rhetorik über die vermeintliche „Rückkehr nach Europa“ oder die als notwendig bezeichnete „Europäisierung“ der Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, was die Selbstverständlichkeit von deren geographischer Zugehörigkeit zu Europa infrage stellte. All diese Phänomene können als tektonische Verschiebungen auf der imaginären Landkarte der modernen Welt gedacht werden. Sie ebneten den Weg für eine neue, eben postkoloniale Perspektive auf das östliche Europa und seine Position in der kolonialen Moderne.

Die kolonialen Vermächtnisse der Begriffe ‚Osteuropa‘ und ‚Balkan‘

Das neue Interesse an der Rolle des östlichen Europa in der kolonialen Moderne schlug sich in zwei Pionierarbeiten der postkolonialen Osteuropaforschung der 1990er Jahre nieder: Larry Wolffs „Inventing Eastern Europe“ (wörtlich übersetzt: „Die Erfindung Osteuropas“) und Maria Todorovas „Imagining the Balkans“ (wörtlich übersetzt: „Die Vorstellung des Balkans“).3  Wie die Titel bereits andeuten, untersuchen die Studien die Genese und Entwicklung der Raumkonzepte ‚Osteuropa‘ und ‚Balkan‘, jeweils in ihrem Verhältnis zu Europa und dem kolonialen ‚Orient‘. Obwohl Wolff und Todorova ihren Ansatz nicht ausdrücklich als postkolonial bezeichneten, bezogen sich beide auf Edward Saids „Orientalism“ („Orientalismus“), eines der ersten Grundlagenwerke der postkolonialen Literatur.4  Said analysierte darin den Orientalismus als Diskurs der europäischen Moderne über den Orient: Seit dem 19. Jahrhundert dachten die europäischen Orientalisten den Orient als das minderwertige „Andere“ Europas und definierten Europa über diesen Gegensatz als Ort der Moderne und der Zivilisation.
Wolff und Todorova zeigten, dass Osteuropa und der Balkan ebenso wie der Orient Produkte des modernen westeuropäischen Denkens über das östliche beziehungsweise südöstliche Europa sind. Sie schrieben den beiden Raumbegriffen Osteuropa und Balkan die gleiche Funktion zu wie dem Orient, eine Kontrastfolie für das moderne Selbstverständnis Westeuropas zu sein. Ihren Forschungen zufolge unterschied sich der westeuropäische Blick auf den asiatischen Orient jedoch von dem auf den Osten des eigenen Kontinentes, eben weil Letzterer eine unbestreitbare geographische Zugehörigkeit zum eigenen Identifikationsraum Europa aufwies.
Sowohl Wolff als auch Todorova trugen entscheidend zu einem spezifischen postkolonialen Blick auf das östliche Europa bei. Dabei werden Osteuropa und der Balkan nicht in erster Linie als historische Regionen verstanden, sondern als historisch gewachsene Kategorien mit kolonialen Zügen. Sie spiegeln eine Form der Verortung und Selbstverortung des östlichen Teils des Kontinentes in der modernen Welt wider, die diesen in eine Position der Unterlegenheit gegenüber Westeuropa rückt.

Der Orientalismus wandert nach Osten

Eine weitere wichtige postkoloniale Perspektive der 1990er Jahre, die die Position des östlichen Europa in der kolonialen Moderne zu erfassen versucht, stammt aus einem bekannten Aufsatz von Milica Bakić-Hayden.5  Die Autorin zeigte, dass orientalistische Denkmuster nicht nur die Beziehung zwischen dem ‚Westen‘ und dem ‚Orient‘ prägen, sondern auch im östlichen Europa selbst und außereuropäischen Regionen verbreitet sind – also in Gebieten, die selbst als ‚östlich‘ oder ‚anders‘ wahrgenommen werden. Viele Gesellschaften in diesen Regionen übernahmen orientalistische Stereotypen, um ihre östlichen Nachbarn zu beschreiben und sich dadurch selbst als ‚modern‘, ‚europäisch‘ und ‚überlegen‘ darzustellen.
Bakić-Hayden beschrieb am Beispiel der neu entstandenen Machtverhältnisse zwischen ethnischen Gruppen im Jugoslawien der frühen 1990er Jahre, wie der Orientalismus im Osten reproduziert wurde und aus diesen vielen Orientalismen  räumliche Hierarchien auf regionale Ebene entstehen. Dafür prägte sie den Begriff „nesting Orientalism“, der sich mit verschachtelter Orientalismus übersetzen lässt. Diese Idee einer von mehreren verflochtenen Orientalismen geprägten Weltordnung eröffnete eine weitere übergeordnete postkoloniale Sichtweise auf das östliche Europa: Die (süd)osteuropäischen Gesellschaften rückten selbst in den Blick, und zwar nicht nur als Adressaten, sondern auch als Produzenten kolonialer Vorstellungen über ihre eigenen östlichen Nachbarn, die sie als minderwertig und rückständig beschreiben.

Erste Forschungsrichtung : Die imperial-koloniale Erfahrung des östlichen Europa

Mit der wachsenden Zahl von Studien in den letzten beiden Jahrzehnten haben sich auch die Interessengebiete und Ansätze der postkolonialen Ost- und Südosteuropaforschung stark vervielfältigt. Vier Forschungsrichtungen lassen sich festhalten, ohne damit die Gesamtheit der postkolonialen Ansätze vollständig abbilden zu wollen.
Ein erster Fokus richtete sich auf den kolonialen Charakter der europäischen Landimperien, angefangen bei Russland. Autor*innen wie David Chioni Moore oder Claire Cavanagh rückten zu Beginn des 21. Jahrhunderts die Abhängigkeits- und Unterdrückungserfahrungen, die das östliche Europa erst mit dem zarischen und dann mit dem sowjetischen imperialen Projekt verband, in den Mittelpunkt.6  Sie bemängelten, dass diese Erfahrungen in der postkolonialen Literatur bis dahin unsichtbar gewesen seien, und forderten, das 
Russländisches Kaiserreich
rus. Российская империя, rus. Rossijskaja imperija, eng. Russian Empire, deu. Russisches Kaiserreich, deu. Russländisches Reich

Das Russländische Kaiserreich (auch Russisches Reich, Russisches Kaiserreich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.

 und die 
Sowjetunion
eng. Soviet Union, deu. Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз, . Совет Ушем, . Советонь Соткс, rus. Sovetskij Soûz, . Советий Союз, yid. ראַטן־פֿאַרבאַנד, yid. סאוועטן פארבאנד, yid. sovətn farband, yid. sovʿtn-farband, yid. sovətn-farband, . Советтер Союзу, . Совет Союзы, deu. Советий Союз, . Советон Цæдис, . Совет Эвилели

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Sie ist aus dem sog. Sowjetrussland hervorgegangen, dem Nachfolgestaat des Russländischen Kaiserreichs. Den Kern der Union und zugleich ihren größten Teil bildete die Russische Sowjetrepublik, hinzu kamen weitere Teilrepubliken. Ihre Zahl variiert über die Zeit hinweg und steht im Zusammenhang mit der Besatzung anderer Länder (Estland, Lettland, Litauen), nur kurzzeitig bestehenden Sowjetrepubliken (Karelo-Finnland) oder mit der Teilung bzw. Zusammenlegung von Sowjetrepubliken. Zusätzlich gab es zahlreiche autonome Republiken oder sonstige Gebietseinheiten mit einem Autonomiestatus, der sich im Wesentlichen auf eine sprachliche Autonomie der Minderheiten beschränkte.

Die UdSSR bestand vor ihrer formellen Auflösung aus 15 Sowjetrepubliken mit einer Bevölkerung von ungefähr 290 Millionen Menschen. Mit ca. 22,4 Millionen km² bildete sie den damals größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem und einer fehlenden Gewaltenteilung.

 als koloniale Imperien zu betrachten.
Neben Russland wurden auch
Preußen
eng. Prussia, lit. Prūsija, rus. Prussija, rus. Prussiâ, rus. Пруссия, . Prūsa, pol. Prusy, lat. Borussia

Die historische Region ist benannt nach dem baltischen Volksstamm der Prußen. Im Zuge der Etablierung des Deutschen Ordens wurde dieser Stamm unterworfen und ging mit der Zeit unter, der Name der Region blieb allerdings erhalten. Der 1440 gegründete, aus sowohl Adligen wie Städten bestehende Preußische Bund scherte aus dem Deutschordensverband aus und unterwarf sich dem polnischen König. Das Gebiet des Bundes ist seitdem auch als Königlich Preußen bekannt. Der verbliebene Teil des ehemaligen Deutschordensgebiets wurde 1525 schließlich in das Herzogtum Preußen überführt aus dem das spätere Königreich Preußen hervorging.

 beziehungsweise das 
Deutsches Reich
eng. German Reich

Das Deutsche Reich war ein von 1871 bis 1945 existierender Staat in Zentraleuropa. Die Zeit von der Gründung bis 1918 wird als Deutsches Kaiserreich bezeichnet, dann folgte die Zeit der Weimarer Republik (1918/1919-1933) und die des Nationalsozialismus (sogenanntes Drittes Reich) von 1933 bis 1945. Als Tag der Reichsgründung gilt der 01.01.1871.

, die 
Habsburgerreich
eng. Habsburg Empire, deu. Habsburgermonarchie, deu. Donaumonarchie, eng. Habsburg Realm, eng. Habsburg monarchy, deu. Danubian monarchy, lat. Habsburg Monarchia

Als Habsburgerreich werden die Territorien und Länder bezeichnet, die von den Herrschern und Herrscherinnen aus dem Haus Habsburg bzw. Habsburg-Lothringen vom Mittelalter bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Personalunion regiert wurden – jedoch lange keinen zusammengehörigen Staat im engeren Sinne bildeten. Erst 1804 wurde das Kaisertum Österreich als ein solcher gegründet, aus dem 1867 Österreich-Ungarn bzw. die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie hervorging.

Zum Habsburgerreich gehörten eine Vielzahl von kleineren und größeren Ländern und Territorien, die überwiegend in Gruppen zusammengefasst wurden. Dazu gehörten neben dem Erzherzogtum Österreich und seinen Nebenländern (darunter etwa die Herzogtümer Kärnten, Krain, Salzburg und weitere) vor allem die sog. „Länder der Böhmischen Krone“ sowie die „Länder der ungarischen Krone“. Im Rahmen der Expansionspolitik des 19. Jahrhunderts kamen weitere Territorien und Landesteile hinzu, auch auf dem Balkan (u. a. Bosnien und Herzegowina). Angesichts der zahlreichen Grenzverschiebungen, territorialer Neuordnungen und zeitweiliger territorialer Gewinne und Verluste war das Habsburgerreich praktisch durchgängig Grenz- und Gebietsänderungen unterworfen.

Seit dem späten 18. Jahrhundert bildeten die meisten Teilstaaten des Habsburgerreiches die sog. Kronländer, die später eigene Landesordnungen erhielten. Mit der Umwandlung des Kaisertums in einen österreichisch-ungarischen Doppelstaat (Doppelmonarchie) schieden das Königreich Ungarn und die weiteren Länder der ungarischen Krone auch aus dem Kreis der Kronländer aus. Im Anschluss wurden sie im behördlichen Sprachgebrauch auch als Transleithanien bezeichnet, alle weiteren (ohne Bosnien und die Herzegowina) als Cisleithanien.

 und das 
Osmanisches Reich
eng. Ottoman Empire, tur. Osmanlı İmparatorluğu, deu. Ottomanisches Reich

Das Osmanische Reich war der Staat der osmanischen Dynastie von ca. 1299 bis 1922. Der Name leitet sich vom Gründer der Dynastie, Osman I., ab. Der Nachfolgestaat des Osmanischen Reichs ist die Republik Türkei.

 zum Gegenstand postkolonialer Deutungsmuster. Eine umfangreiche Forschungsliteratur untersuchte, wie orientalistische Stereotype und koloniale Raumvorstellungen Regionen wie die preußisch-deutsche Posener Provinz, Bosnien und Galizien unter der habsburgischen Herrschaft oder den osmanischen Libanon prägten.7  Insbesondere für das Deutsche Kaiserreich wurden auch Analogien zwischen den imperial-kolonialen Vorstellungen über die polnischen Gebiete im Osten des Reiches und jenen über die afrikanischen Kolonien sichtbar gemacht.8 
Zudem verweisen Analysen der deutschen Expansionsprojekte vom Kaiserreich bis zum „Dritten Reich“9  auf Kontinuitäten im deutschen Bild des Ostens von der wilhelminischen zur NS-Zeit. Sie erforschen dabei auch Verflechtungen und Parallelen zwischen dem europäischen Kolonialismus und dem nationalsozialistischen Projekt der Eroberung, Beherrschung und rassischen Neubesiedlung des Ostens.

Zweite Forschungsrichtung: Die kolonialen Verstrickungen des östlichen Europa am Beispiel Polens

Eine zweite Forschungsrichtung bilden postkoloniale Perspektiven, die das östliche Europa nicht nur als Ziel westlicher imperial-kolonialer Ansprüche, sondern auch als Entstehungsraum imperial-kolonialer Diskurse fassen. Ein gutes Beispiel hierfür ist die postkoloniale Polenforschung. In ihren Anfängen zu Beginn des neuen Jahrtausends konzentrierte sie sich zunächst auf die Erfahrungen der polnischen Regionen als Objekt russisch-sowjetischer und preußisch-deutscher imperial-kolonialer Bestrebungen.10  Doch schon wenige Jahre später dienten postkoloniale Theorien zunehmend auch dazu, den imperial-kolonialen Charakter des polnischen Blicks auf den Osten der ehemaligen 
Polen-Litauen
eng. Polish–Lithuanian Commonwealth, lit. Abiejų Tautų Respublika, pol. Rzeczpospolita Obojga Narodów, deu. Erste Polnische Republik, lat. Respublica Poloniae, pol. Korona Polska i Wielkie Księstwo Litewskie, lat. Res Publica Utriusque Nationis, deu. Republik beider Völker

Bereits 1386 wurden das Königreich Polen und das Großfürstentum Litauen durch eine Personalunion verbunden. Polen-Litauen bestand als multiethnisches Staatsgebilde und Großmacht im östlichen Europa von 1569 bis 1795. In dem auch Rzeczpospolita genannten Staat wurde der König von den Adeligen gewählt.

 (die sogenannten Kresy, die ukrainischen und litauischen Grenzgebiete) im 19. und 20. Jahrhundert herauszuarbeiten.11  Es folgten Studien zur polnischen Beteiligung an den europäischen Kolonialexpeditionen in Afrika oder am russischen Kolonialprojekt in Sibirien während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als der polnische Staat nicht existierte, sowie zu den polnischen Kolonialambitionen in der Zwischenkriegszeit.12 
Betrachtet man all diese Studien zusammen, so ist es nicht möglich, Polen in seiner modernen Geschichte eindeutig in eine Rolle als Kolonialmacht oder Objekt kolonialer Projekte einzuordnen. Vielmehr erscheint es im Mittelpunkt verschiedener, zum Teil widersprüchlicher asymmetrischer Beziehungen, in denen koloniale Selbstzuschreibungen und imperiale Ansprüche miteinander verwoben sind.13

Dritte Forschungsrichtung: Die postkoloniale Lage des östlichen Europa

Der postkoloniale Blick richtete sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts drittens auf die Analogien zwischen der postsozialistischen Phase der 1990er Jahre und der außereuropäischen Dekolonisierung: in der hybriden, also von vielfältigen Einflüssen geprägten Identitätsbildung, der Aufarbeitung imperialer Traumata, den Herausforderungen bei der Dekolonisierung von Sprache, Kultur und Selbstbild sowie der Neuverhandlung der eigenen Position im globalen System.14 
Seit den Debatten um den Beitritt der postsozialistischen Staaten in die Europäische Union und die NATO befasst sich die postkoloniale Forschung darüber hinaus mit den neuen Machtasymmetrien zwischen den ehemaligen Mitgliedern des Warschauer Pakts und den westlichen Staaten.15  Im Mittelpunkt einer postkolonialen Kritik stehen die imperial-kolonialen Merkmale des Narrativs, das diesen Beitrittsprozessen zugrunde lag. Demnach galt das östliche Europa als der weniger europäische Teil des Kontinents, der erst durch die Erweiterungen überhaupt habe „europäisiert“ werden können. Die Region nahm auch nach der Eingliederung in die beiden internationalen Institutionen dort zumindest vorerst eine nachgeordnete Rolle ein.
Eine weitere wichtige postkoloniale Lesart, um die Grunddynamiken der postsozialistischen Ära zu verstehen, ist das Phänomen der Selbstorientalisierung. Mit diesem Begriff bezeichnet etwa der Anthropologe Michał Bukowski die Verinnerlichung orientalistischer Stereotype in der Selbstwahrnehmung postsozialistischer Gesellschaften.16  Die Selbstorientalisierung betrifft vor allem soziale Gruppen wie Bauern oder Arbeiter, die in die Kategorie der sogenannten „Transformationsverlierer“ fallen. Diese Gruppen galten in den 1990er Jahren als Überbleibsel der kommunistischen Ära. Ihnen wurde unterstellt, grundsätzlich passiv zu sein sowie unfähig, sich an die kapitalistische Moderne anzupassen. Analog zum Orient dienten sie somit als Kontrastfolie für die Modernität der neuen postsozialistischen wirtschaftlichen und politischen Eliten

Vierte Forschungsrichtung: Grenzen, Kritik und Alternativen

In den späten 2000er-Jahren setzte viertens ein Nachdenken über die methodischen Herausforderungen ein, überhaupt postkoloniale Perspektiven auf das östliche Europa anzuwenden. Ein theoretisches Instrumentarium, das für die Erfahrung des Kolonialismus und der Dekolonisation entwickelt wurde, auf einen anderen Kontext zu übertragen, birgt Risiken: etwa eine zu enge koloniale Deutung des Verhältnisses zwischen dem östlichen und westlichen Europa, die blind für die spezifischen Machtasymmetrien dieses Verhältnisses macht.
Eine einseitige Wahrnehmung des östlichen Europa als kolonisierter Raum kann außerdem den Blick auf die Ressourcen der osteuropäischen Gesellschaften verstellen, um sich selbst als modern zu identifizieren und behaupten. Nicht nur das: Sie verschleiert auch die aktive Beteiligung dieser Gesellschaften an den modernen Phänomenen des Kolonialismus, Imperialismus und Rassismus, aber auch Antisemitismus. Zum Beispiel bestärkten die postkolonialen Narrative in Polen teilweise die traditionellen Feindbilder Deutschland und Russland. Zugleich dienten sie als Argument, um Polens historische Schuld gegenüber ethnischen Minderheiten und östlichen Nachbarn zu verdrängen. Damit bieten sie eine neue, akademisch anerkannte Grundlage für das altbekannte Opfernarrativ polnischer nationalistischer und konservativer Kräfte.17 
Die postkoloniale Osteuropaforschung ist sich der Grenzen der postkolonialen Brille deutlich bewusst. Sie beschreibt die historische und gegenwärtige Position des östlichen Europa in der modernen Welt zumeist mit einer Reihe von Begriffen, die eben diese Grenzen sichtbar machen. Schon Maria Todorova definierte in ihrer Arbeit den Balkan nicht als das koloniale „Andere“ wie den Orient, sondern als „unvollkommenes Eigenes“ Europas.18  Daneben entwickelte die  Forschung eine lange Liste an weiteren Bezeichnungen, darunter „semikolonial“, „semiperipher“, „inbetween (übersetzt: dazwischen) peripher“, aber auch „postabhängig“ oder gar „postsozialistisch“/„postsowjetisch“. Jeder dieser Begriffe hat eine etwas andere Bedeutung. Sie beschreiben aber alle, wie die ökonomische, politische und vor allem kulturelle Beziehungen zwischen dem östlichen Europa und dem Westen nicht im Rahmen traditioneller kolonialer Verhältnisse verhandelt wurden und werden, und doch mit dem Kolonialismus verwoben sind. Sie bringen zum Ausdruck, dass die Regionen des östlichen Europa keine Kolonien oder Peripherien von Imperien im engeren Sinne sind, sondern dass Machtasymmetrien außerhalb und innerhalb Europas unterschiedlichen Stärken und Ausprägungen unterliegen.
Um die Grenzen der postkolonialen Perspektive geht es schließlich auch in der dekolonialen Kritik: Dieser Ansatz hat sich in den letzten zehn Jahren mit Blick auf das östliche Europa entwickelt und im Zusammenhang mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine an Sichtbarkeit und Bedeutung gewonnen. Für Madina Tlostanova, eine seiner zentralen Vertreter:innen, sind die postsozialistischen Gesellschaften durch eine sehr spezifische Erfahrung von Unterordnung geprägt: unter ein „zweitrangiges“ Imperium wie Russland, das sich selbst in einem Unterlegenheitsverhältnis zum Westen befand, und unter die alternative sowjetische Moderne, die nach 1989 ihre Gültigkeit vollständig verlor.19  Postkoloniale Theorien machen Tlostanova zufolge die Spezifik dieser Unterwerfungserfahrung weitgehend unsichtbar. Stattdessen plädiert sie für einen emanzipatorischen Ansatz, „die dekoloniale Option“, die sowohl koloniale als auch russisch-/sowjetisch-imperiale Denk- und Wissensstrukturen nicht nur in ihrer Besonderheit erfasst, sondern auch aktiv überwindet.20

Der Mehrwert des postkolonialen Ansatzes: Ein Fazit

Abschließend stellt sich die Frage nach dem Mehrwert des Dialogs zwischen Postkolonialen Studien und Osteuropaforschung. Zugespitzt formuliert: Warum überhaupt der postkoloniale Blick auf das östliche Europa? Auf diese Frage schlagen Dorota Kołodziejczyk und Siegfried Huigen eine anschlussfähige Antwort vor:21  Die postkoloniale Perspektive solle nicht dazu dienen, dem östlichen Europa in unterschiedlichen historischen Kontexten eindeutig den Status einer Kolonie oder eines postkolonialen Raumes zuzuweisen und damit bestimmte nationale Opfermythen und Feindbilder zu untermauern. Vielmehr ermögliche sie, die Region in ein Geflecht kultureller, politischer und sozialer Machtbeziehungen auf globaler Ebene einzubetten. Dadurch können die Erfahrungen und Prozesse, die das östliche Europa historisch und gegenwärtig bestimmen, in Zusammenhang und Wechselwirkung mit denen des „Globalen Südens“ gesetzt und untersucht werden. Ein solches postkoloniales Verständnis des östlichen Europa stellt auch die dominanten nationalistischen Geschichtserzählungen der Region in Frage.
Die osteuropäische Perspektive bietet jedoch umgekehrt auch einen Mehrwert für die postkolonialen Studien. Sie bricht die Zweiteilung zwischen Kolonisierten und Kolonisatoren auf, indem sie die Ambivalenz und Vielfalt dieser Rollen betont. Anhand des östlichen Europa lässt sich paradigmatisch aufzeigen, dass in bestimmten Gesellschaften diese beiden Rollen miteinander in komplexer Weise interagieren. Die Dichotomie „der Westen und der Rest“ ist daher unzureichend, um die hierarchische Weltordnung der kolonialen Moderne zu erfassen. Das östliche Europa verkörpert nicht nur eine dritte Position zwischen den beiden Polen. Vielmehr kann es als Blickwinkel oder postkoloniale Kritik verstanden werden, um das Bewusstsein für die Vielfalt der Machtverhältnisse, aber auch der Möglichkeiten der einzelnen kolonialen oder semikolonialen Akteure zu schärfen, selbst Narrative über die eigene Macht und Modernität zu kreieren. Das östliche Europa als Blickwinkel stellt somit auch die Vorstellung in Frage, es gäbe einen einzigen „klassischen“22  Kolonialismus und die Hierarchien auf globaler Ebene seien allein dessen Ergebnis.
Schließlich wirkt Europa durch die osteuropäische Perspektive weniger monolithisch als in den postkolonialen Studien, die die postsozialistische Welt ignorieren. Die postkoloniale Kritik neigt dazu, Europa einen einheitlichen Charakter als Ort zuzuschreiben, der ein Monopol auf die Definition von Modernität und Zivilisation für sich beansprucht. Richtet man aber die postkoloniale Lupe auf das östliche Europa selbst und seine Beziehungen zum westlichen Europa, so erscheint der Kontinent gerade als nicht homogen. Manuela Boatcă spricht über diese europäische Heterogenität als multiple Europas im Plural mit jeweils unterschiedlichen Rollen in der kolonialen Moderne.23  Die Position des östlichen Europa gegenüber dem westlichen Europa zu betrachten, verkompliziert somit das (Selbst)Verständnis Europas als selbsternanntes Zentrum der Moderne. Anca Parvulescu definiert das östliche Europa sogar als eine „Methode“,24  die Europa in ihrer Einheitlichkeit bricht und die Verbindungen zwischen den verschiedenen Regionen des östlichen Europa und der Welt jenseits von Westeuropa ermöglicht. Damit trägt das östliche Europa auf ganz spezifische Weise zu einem Kernanliegen der Postkolonialen Studien bei, nämlich (West)Europa zu dezentralisieren und zu „provinzialisieren“.25

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