Der Prager Kaffeehaus-Lifestyle um 1900
Von der Provinzstadt zur böhmischen Metropole
Prag (Bevölkerungszahl 2023: 1.384.732) ist die Hauptstadt und die größte Stadt der Tschechischen Republik. Sie liegt im Zentrum des Stadtgebiets am Fluss Moldau. Die erste Prager Burg entstand wohl im 9. Jahrhundert. Im 10./11. Jahrhundert lebten in zwei Burgsiedlungen neben einheimischer Bevölkerung auch Juden. Zu Beginn der 1230er Jahre erhielt Prag Stadtrechte, die zweite der beiden 1257 folgte die Kleinseite (Malá Strana) 1320 Hradschin (Hradčany) als die Burgstadt und 1348 die Prager Neustadt (Nové Město). Vom Anfang an war Prag Residenzstadt der böhmischen Herrscher, spätestens ab dem 12. Jahrhundert in Grenzen des Heiligen Römischen Reichs. Als Kaiserritz im 14. Jahrhundert entwickelte sich Prag zu einem der wichtigsten Zentren des gesamten Reichs, 1348 entstand hier die erste Universität Mitteleuropas. 1784 wurden die vier Städte vereinigt. Nach und nach, insbesondere 1920, nach der 1918 erfolgten Gründung der Tschechoslowakei, wurden weitere Orte eingemeindet. 1938-1945 wurde Prag Hauptstadt des vom Deutschen Reich abhängigen Protektorats Böhmen und Mähren, nach der Zerschlagung des Reichs 1945 durch die Alliierten war Prag bis 1992 wieder Hauptstadt der – nun sozialistischen – Tschechoslowakei. Nach dem Zerfall der Tschechoslowakei blieb Prag als Hauptstadt der Tschechischen Republik eine der wichtigsten und Städten Mitteleuropas.
Wie der Kaffee nach Prag kam
Böhmen ist eine historische Landschaft im heutigen Tschechien. Die Landschaft bildet zusammen mit Mähren und dem tschechischen Teil Schlesiens das heutige Staatsgebiet Tschechiens. In der Region leben heutzutage knapp 6.5 Millionen Menschen. Die Hauptstadt Böhmens ist Prag.
Einhergehend mit der Entwicklung einer städtischen Gesellschaft und ihrem Bedürfnis nach öffentlichen Räumlichkeiten zur Freizeitgestaltung entstanden in Prag ab der Mitte des 19. Jahrhunderts neben den einfacheren Kaffeeschenken auch größere Etablissements. Solche existierten etwa in England und Frankreich schon längere Zeit. Das Café beim Bahnhof (Kavárna U Nádraží, Havlíčková 1029/3, 1846–1875) galt als erstes Prager Kaffeehaus im „großen Stil“, das sich mit seiner günstigen Lage gegenüber der ersten Prager Eisenbahnstation, dem heutigen Masaryk-Bahnhof (Masarykovo nadraží), direkt im Zentrum des urbanen Lebens befand. Es wurde gleichzeitig mit der Errichtung des Bahnhofs im ersten Stock des Gebäudes im orientalisch maurischen Stil umgebaut und beeindruckte mit einem reich dekorierten Interieur. Ein Versuch, die Atmosphäre und Kultur der überwiegend europäisch kolonialisierten Herkunftsländer des Kaffees – oder das, was man dafür hielt – erlebbar zu machen. Gemäß den zeitgenössischen Standards bot das Café seinen Gästen bereits damals alle Services, die von einem Grand Café erwartet werden konnten, darunter einen Lesesaal, einen Billardsalon und einen Spielsaal.
Zwischen Wien und Paris: Architektur und Interieur der Prager Kaffeehäuser
Analog zu anderen europäischen Metropolen befanden sich die meisten Kaffeehäuser an diesen beiden Hauptverkehrsstraßen. Dabei bildete sich in Prag im Unterschied zu den Wiener oder Pariser Cafés die Besonderheit heraus, die Kaffeehäuser im Ersten Stock zu errichten – oft über den Geschäftslokalen. Die ans Kaffeehaus angeschlossenen Restaurants oder Bars waren wiederum häufig im Souterrain Souterrain Der Begriff Souterrain (auch Tiefparterre) bezeichnet ein Unter- oder Kellergeschoss, das nicht vollständig unterirdisch angelegt ist, sondern dessen Fußboden häufig auch nur leicht unter Erd- bzw. Straßenniveau liegen kann. Über dem Souterrain folgt dann meist das höher gelegene und repräsentativere Hochparterre. Beide Geschossarten sind vor allem in europäischen oder europäisch geprägten Großstädten des ausgehenden 19. Jahrhunderts anzutreffen, bei Wohngebäuden und Stadthäusern zumeist auf der Straßenseite bzw. als Teil der Vorderhäuser größerer Gebäudeblöcke, beispielsweise den großen Mietskasernen im Berlin der Gründerzeit. Die Geschosstrennung konnte auch eine soziale Trennung sein: Das Hochparterre war wohlhabenden Familien oder den Geschäftsräumen einkommensstärkerer Berufsgruppen vorbehalten. Im Souterrain waren nicht selten Dienstwohnungen von Personal, Gastwirtschaften, Werkstätten oder Wohnungen sozial schwächerer Personengruppen untergebracht (wenn nicht ohnehin schon in die Hinterhäuser oder Nebengebäude verbannt). untergebracht oder ergänzten das eigentliche Café um weitere Räumlichkeiten im gleichen Geschoss. Andere Kaffeehäuser waren wiederum ein Bestandteil größerer Komplexe wie Vereins- und Gesellschaftshäuser oder Hotels. Zu den Paradebeispielen dieser Art von Kaffeehäusern zählt das Café im Gemeindehaus bzw. Repräsentationshaus (Kavárna v Obecním domě, Náměstí Republiky 1090/5, seit 1911), das durch seine Jugendstilelemente ins Auge sticht. Dieses monumentale Multifunktionsgebäude war Sammelstelle für verschiedene Vergnügungsstätten und diente als Vorbild für die zahlreichen Passagen, die in Prag vor allem in der Zwischenkriegszeit rund um den Wenzelsplatz errichtet wurden.
Von der grünen Chartreuse bis zum Eierpunsch
Von der Nachrichtenbörse bis zur tänzerischen Revolution
Bürgermeisterstammtisch, Post-Börse-Verkehr und künstlerischer Umbruch: Hot Spot gesellschaftlichen Lebens
„Er [der künstlerische Umbruch] hatte seinen Ursprung im Café Union und den Sitzungen bei Kaffee und Hörnchen. Das war einmalig, denn bisher waren alle künstlerischen Oppositionen, Verschwörungen und Sezessionen sowie neuen Cliquen, Vereine und Zeitschriften auf bürgerliche Art in Restaurants vorbereitet worden, und zwar beim Bier seltener beim Wein.“2
Ein Prager Kaffeehauslifestyle?
Kaffeehäuser ließen aber vor allem neue, alternative Kommunikations- und Verkehrsräume entstehen, die Begegnungen ermöglichten, die normalerweise im Alltag in dieser Form nicht stattfinden konnten. Sie wurden das, was der französische Philosoph Michel Foucault (1926–1984) als Heterotopie bezeichnete. Als Begegnungsstätten sowie Orte übernationaler Zusammenkünfte wirkten sie insofern als demokratische Institution, als sie die vielen Individuen an einen gemeinsamen Tisch brachten und Heterogenitäten egalisierten. Die Eigentümlichkeit des Prager Kaffeehauslifestyles basierte gerade auf jenem ethnisch-kulturell heterogenen Milieu, wie es Prag als Tripolis mit tschechischsprachiger Mehrheit und deutschsprachiger und jüdischer Minderheit idealtypisch verkörperte. Gerade eine Stadt wie Prag bedurfte des Kaffeehauses als demokratischem Ort zur Zusammenkunft einer kulturell hybriden Gesellschaft.