Deutsche Narrative zu Russlands Krieg in der Ukraine
Positionen und Gegenpositionen
Russlands Angriffskrieg in der Ukraine erschüttert ganz Europa. Ein medialer Kampf der Worte prägt die deutsche Debatte über diesen Krieg. Wissenschaftler:innen aus der Ukraine, Deutschland und Polen analysieren in einer Blogreihe die verschiedenen Narrative in Literatur, Kultur und Medien und deren Auswirkungen auf die öffentliche Meinung.
Russlands Krieg in der Ukraine ist nicht nur ein Materialkrieg mit Waffen, sondern auch ein medialer Krieg mit Worten und ein Kampf um die Überlegenheit der eigenen Narrative. In der deutschsprachigen Öffentlichkeit herrscht seit dem 24.2.2022 bis heute grundsätzliche Einigkeit allenfalls darüber, dass der Krieg so schnell wie möglich ein Ende finden sollte. In Bezug auf die Frage, wie es zu einem Kriegsende kommen kann, besteht größtmögliche Uneinigkeit. Das wird vor allem an den offenen Briefen für und gegen Waffenlieferungen deutlich, die seit Ende April 2022 von Prominenten publiziert, erstunterzeichnet und von Zehn- und Hunderttausenden unterschrieben wurden: Zunächst Alice Schwarzers Brief in der „Emma“: Der Offene Brief an Kanzler Scholz | EMMA, dann Anfang Mai der Brief vom Intellektuellenkreis um den Journalisten um Ralf Fücks (Waffenlieferung an die Ukraine: Offener Brief | ZEIT ONLINE). Es folgten weitere offene Briefe und im Februar 2023 die Petition „Manifest für den Frieden“ von Sarah Wagenknecht und Alice Schwarzer, die dann, fast pünktlich zum Jahrestag der Vollinvasion Russlands in die Ukraine, am 25. Februar 2023 gemeinsam in Berlin die Demonstration „Aufstand für den Frieden“ organisierten. Dasselbe Team meldete sich Anfang Dezember 2024 erneut mit dem „Appell der 38: Eine Minute vor 12!“ zu Wort: Appell der 38: Eine Minute vor 12! | EMMA. Vermutlich ist ein Antwortschreiben auf diesen Friedensappell schon in Arbeit…
Die Begründungen für diese völlig gegensätzlichen Haltungen liegen in den verschiedenen Auffassungen über die Ursachen des Krieges und die Intentionen der Kriegsparteien sowie ihren Fähigkeiten, ja sogar in unterschiedlichen Benennungen des Krieges: Es gibt Stimmen, die den Angriffskrieg als Konflikt oder gar nur als Krise bezeichnen. Andere wiederum sprechen explizit von einem Krieg Russlands gegen die Ukraine und differenzieren in dieser Benennung schon zwischen Angreifer und Verteidiger. Uneinigkeit besteht auch hinsichtlich der Vorstellungen über Europa über die Zeit nach (einem vorläufigen) Kriegsende: Während ein Teil der Bevölkerung denkt, dass ein baldiger Waffenstillstand oder Verhandlungen durch Gebietsabtritte der Ukraine an Russland den Frieden in Europa wiederherstellen und den westeuropäischen Staaten vielleicht sogar einen erneuten Handel mit Russland ermöglichen könnte, sind andere überzeugt, dass die Gefahr einer Ausweitung des Krieges auf weitere Länder in Ostmittel- und Osteuropa dann erst recht steigt. Diesen differierenden Auffassungen liegen sich aus verschiedenen Quellen speisende und unterschiedliche Zwecke verfolgende Narrative zugrunde, die jeweils eine andere Geschichte über Ursachen, Intentionen und Ziele des Krieges präsentieren, präferierte Handlungsoptionen auf die jeweilige Begründungserzählung zurückführen und entsprechende Lösungsvorschläge unterbreiten.
Literatur-, Sprach-, Kultur- und Medienwissenschaftler:innen aus der Ukraine, Deutschland und Polen gingen diesem den Krieg flankierenden ‚Kampf der Worte‘ in kürzeren und längeren Blogbeiträgen auf den Grund: Schamma Schahadat macht den Aufschlag mit der Rezeption ukrainischer Literatur unter Kriegsbedingungen und dem ‚Literaturstreit‘ um die Verleihung des Friedenspreis des deutschen Buchhandels an Serhij Zhadan. Monika Wolting nimmt die Vorsagekraft literarischer Werke im Krieg in dem Projekt ‚Kassandra‘ in den Blick, während Olena Saikowska die jüngsten Entwicklungen ukrainischer Literatur untersucht. Cornelia Ilbrig befasst sich mit dem Narrativ der Zeitenwende im Kontext des Krieges. Die Sprache der russischen Propaganda ist Thema des Beitrags von Natalia Grinina. Deutsche Reaktionen auf Russlands Angriff in der Literatur werden von Jana Mende und als Krisenreaktion bei Silke Pasewalck beschrieben und analysiert. Den Abschluss bildet ein Interview mit der Übersetzerin Claudia Dathe und der Professorin für germanische Philologie Maria Ivanytska von der Universität Kyjiw zur Vermittlung und Darstellung ukrainischer Literatur und Kultur in Deutschland.
Die hier versammelten Beiträge sind Ergebnis der Tagung „Deutsche Narrative zu Russlands Krieg in der Ukraine – Positionen und Gegenpositionen“, die im Rahmen der von der Volkswagen-Stiftung initiierten und geförderten Themenwoche zu Russlands Krieg in der Ukraine auf Schloss Herrenhausen in Hannover vom 22. bis zum 24. Februar 2023 stattfand. Wir danken Copernico und der Volkswagenstiftung für die Förderung der Publikationen.