Berühmtheit erlangte Gregor von Rezzori durch seine fiktionalisierten Darstellungen des vergangenen Czernowitz. In seinen Memoiren zeigt er Perspektiven auf das postkoloniale Leben nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns auf.
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Das Territorium des Habsburgerreiches im 19. Jahrhundert war im Gegensatz zu anderen führenden europäischen Imperialmächten wie Großbritannien, Frankreich und Spanien weitgehend auf Mittel- und Südosteuropa beschränkt. Es war multiethnisch und mehrsprachig. Formalisiert wurde dieser Status mit der Errichtung der Doppelmonarchie im Jahr 1867 unter Franz Joseph I. Es bleibt jedoch umstritten, ob 
Österreich-Ungarn
deu. Donaumonarchie, deu. Doppelmonarchie, deu. Habsburgerreich, deu. Habsburgisches Reich, deu. Habsburgermonarchie, hun. Osztrák-Magyar Birodalom, eng. Austria-Hungary, eng. Austrian-Hungarian Monarchy, eng. Austrian-Hungarian Empire

Österreich-Ungarn (ung. Osztrák-Magyar Monarchia), auch als k. u. k. Monarchie bekannt, war ein historischer Staat in Mittel- und Südosteuropa, der von 1867 bis 1918 bestand.

 als traditionelle Kolonialmacht betrachtet werden kann – besonders mit Blick auf die Besetzung und Einverleibung 
Bosnien und Herzegowina
srp. Босна и Херцеговина, srp. Bosna i Hercegovina, bos. Bosna i Hercegovina, hrv. Bosna i Hercegovina, eng. Bosnia–Herzegovina, eng. Bosnia and Herzegovina

Bosnien und Herzegowina ist ein Bundesstaat im südöstlichen Europa. Das Land wird von rund 3 Millionen Menschen bewohnt (2022: 3,23 Mio.) und setzt sich aus den politischen Teilgebieten Republika Srpska, der Föderation Bosnien und Herzegowina und dem Distrikt Brčko zusammen. Bosnien und Herzegowinas Hauptstadt ist Sarajevo. Das Land wird der Balkanhalbinsel zugeordnet und grenzt ans Adriatische Meer. Die Bosnien stellen neben den Serben und Kroaten die größte Bevölkerungsgruppe.

Geografisch setzt sich das Land zusammen aus den historischen Regionen Bosnien und der Herzegowina, deren wechselhafte politische Geschichte in engem Zusammenhang mit den jeweiligen historischen Nachbarstaaten und der Lage auf dem Balkan steht. Bereits seit dem 15. Jahrhundert gehörten die südlichere Herzegowina und große Teile Bosniens zum Osmanischen Reich, das hier an das nördlich gelegene, christlich geprägte Habsburgerreich grenzte. Ende des 19. Jahrhunderts kamen beide Regionen zunächst unter österreichisch-ungarische Finanzverwaltung, 1908 folgte schließlich die Annexion Bosnien-Herzegowinas durch Österreich-Ungarn, was zu einer politischen Krise führte. 1914 waren regionale Freiheitsbewegungen wie „Mlada Bosna“ („Junges Bosnien“) am Attentat auf Thronfolger Franz Ferdinand (1863–1914) beteiligt, das in letzter Konsequenz zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs (1914–1918) und schließlich zum Zusammenbruch Österreich-Ungarns führte.

Ab 1918 gehörten Bosnien und die Herzegowina zum neu errichteten „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (1918–1929), das ab 1929 als „Königreich Jugoslawien“ firmierte, jedoch bereits 1941 infolge deutscher Eroberung im Zweiten Weltkrieg unterging. Ab 1945 war die sozialistische Republik Bosnien und Herzegowina Teil des wiedererrichteten, nun kommunistischen Jugoslawiens. Vor dem Hintergrund des zunehmend kriegerischen Zerfalls des Landes im Rahmen der Jugoslawienkriege (1991–2001) konnte Bosnien-Herzegowina seine 1992 erklärte Unabhängigkeit erst infolge des opferreichen dreijährigen Bosnienkriegs (1992–1995) durchsetzen.

 im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert.1 In diesem Beitrag wird die 
Bukowina
ukr. Буковина, ukr. Bukowyna, ron. Bucovina, eng. Bukovina, deu. Buchenland

Die Bukowina ist eine historische Landschaft im heutigen Rumänien und der heutigen Ukraine. Der nördliche Teil liegt in der ukrainischen Oblast Tscherniwzi, der südliche hingegen gehört zum rumänischen Kreis Suceava. Die Region gehörte einst zum Fürstentum Moldau und zur Habsburgermonarchie.

, das ehemals östlichste Kronland des Habsburgerreiches, anhand von Beispielen aus einem autobiographischen Werk des deutschsprachigen Autors Gregor von Rezzori (1914–1998) näher beleuchtet.
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Im Jahr 1774 wurde das Gebiet des späteren habsburgischen Kronlandes Bukowina im Zuge eines der vielen russisch-türkischen Kriege von den Habsburgern annektiert. Dabei wurde aus dem nördlichen Teil des osmanisch beherrschten 
Fürstentum Moldau
eng. Principality of Moldavia, deu. Fürstentum Moldawien, chu. Zemlya Moldavskaya, chu. Землѧ Молдавскаѧ, ron. Principatul Moldovei

Das Fürstentum Moldau war ein historischer Staat in Südosteuropa, dessen Gründung auf das 14. Jahrhundert zurückgeht und der bis 1859 Bestand hatte. Sein Staatsgebiet verteilt sich heute auf Moldawien (ohne Transnistrien) sowie die westlich Moldawiens gelegenen Teile Nordrumäniens und der Südukraine. Das Fürstentum lag damit über Jahrhunderte im Schnittfeld der Einfluss- und Interessensphären benachbarter Großmächte, anfänglich Ungarns und Polens und in den späteren Jahrhunderten vor allem der Habsburgermonarchie im Nordwesten, dem Russländischen Reich im Nordosten, und dem Osmanischen Reich im Süden, das ab 1512 die Oberhoheit über das Fürstentum ausübte.

1859 wurde das Fürstentum Moldau mit dem Fürstentum Walachei vereinigt, zunächst über die Personalunion Fürst Alexandru Ioan Cuzas (1820–1873) und unter dem Titel der „Vereinigten Fürstentümer der Walachei und Moldau“. 1861 gingen beide im neuen „Fürstentum Rumänien“ auf, aus dem zwanzig Jahre später das Königreich Rumänien hervorgehen wird.

 herausgelöst, das sich im Laufe der Jahre durch seine Vielfalt auszeichnete.2 In späteren Habsburgerzeiten hatte die Provinz sogar mehrere offizielle Amtssprachen. Unter ihnen befanden sich Rumänisch und Ukrainisch, während Deutsch die Hauptsprache der kaiserlichen Verwaltung und des kulturellen Lebens war. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts zeichneten sich die Bukowina und ihre Hauptstadt 
Černivci
ron. Cernăuţi, deu. Czernowitz, heb. צֶ׳רנוֹבִיץ, heb. Tschernowitz, yid. טשערנאָװיץ, yid. Tschernowitz, rus. Черновцы, rus. Tschernowzy, ukr. Чернівці, deu. Tschernowitz

Czernowitz (auch Tschernowitz, ukr. Чернівці) ist eine Großstadt in der südwestlichen Ukraine. Die Stadt liegt an der Grenze zu Rumänien und gilt als die Hauptstadt der historischen Landschaft Bukowina. Czernowitz war ein bedeutender Ort der jüdischen Kultur. Im Jahr 2017 hatte Czernowitz etwa 62.000 Einwohner:innen.

Aufgrund des Krieges in der Ukraine ist es möglich, dass diese Informationen nicht mehr dem aktuellen Stand entsprechen.

 dadurch aus, dass es keine ethnischen, sprachlichen oder religiösen Mehrheiten gab. Der daraus resultierende Schmelztiegel war für zahlreiche deutschsprachige Schriftsteller und Dichter eine Quelle der Inspiration.3 Nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns ging die Bukowina im 
Königreich Rumänien
ron. Regatul României, eng. Kingdom of Romania

Das Königreich Rumänien war ein historischer Staat im südöstlichen Europa, der von 1881 bis 1947 bestand. Direkter Vorgänger war das Fürstentum Rumänien, das 1861/62 aus den Teilfürstentümern Moldau und Walachei gebildet worden war, allerdings zunächst noch unter Oberhoheit des Osmanischen Reiches gestanden hatte. Erst infolge des Russisch-Türkischen Krieges von 1877/78 wurde die politische Unabhängigkeit des Fürstentums erreicht, das sich 1881 selbst zum Königreich proklamierte. Erster König war Karl I. (1839–1914), der wie alle seine Nachfolger aus dem Haus Hohenzollern-Sigmaringen stammte.

Vor dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) umfasste das Territorium lediglich die historischen Landschaften der Walachei sowie Teile der Moldau und der Dobrudscha. Als Mitglied der Siegermächte des Ersten Weltkriegs konnte das Staatsgebiet nach Kriegsende jedoch massiv ausgebaut und mehr als verdoppelt werden. Unter anderem fielen jetzt auch Bessarabien, die Bukowina, Siebenbürgen oder Teile des Banats an das Königreich. Daher wird das Rumänien der Zwischenkriegszeit auch als „Großrumänien“ bezeichnet; der Zustand vor 1918 als „Altreich“.

Mit dem Aufstieg nationalistischer und faschistischer Gruppierungen in den 1930er Jahren wurde das Land innenpolitisch zunehmend instabil. Bis Mitte 1940 musste Rumänien trotz seines Versuches, sich im Zweiten Weltkrieg neutral zu verhalten, größere Teile der 1918 gewonnenen Gebiete wieder abgeben. Noch im selben Jahr wurde eine Militärdiktatur etabliert, die nun faktisch die Regierungsgewalt ausübte. Wenig später folgte der Kriegseintritt auf Seiten der Achsenmächte und in enger Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Deutschland. 1944 kam es zum Staatsstreich König Michaels I. (1921–2017) gegen die eigene Regierung, in dessen Folge sich das Land den Alliierten anschloss und dem Deutschen Reich den Krieg erklärte. Nur rund drei Jahre später, Ende 1947, zwang die mittlerweile regierende kommunistische Partei Rumäniens Michael zur Abdankung und rief die Rumänische Volksrepublik aus.

 der Zwischenkriegszeit auf, bevor ein Teil von ihr im Zweiten Weltkrieg an die 
Sowjetunion
eng. Soviet Union, deu. Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз, . Совет Ушем, . Советонь Соткс, rus. Sovetskij Soûz, . Советий Союз, yid. ראַטן־פֿאַרבאַנד, yid. סאוועטן פארבאנד, yid. sovətn farband, yid. sovʿtn-farband, yid. sovətn-farband, . Советтер Союзу, . Совет Союзы, deu. Советий Союз, . Советон Цæдис, . Совет Эвилели

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Sie ist aus dem sog. Sowjetrussland hervorgegangen, dem Nachfolgestaat des Russländischen Kaiserreichs. Den Kern der Union und zugleich ihren größten Teil bildete die Russische Sowjetrepublik, hinzu kamen weitere Teilrepubliken. Ihre Zahl variiert über die Zeit hinweg und steht im Zusammenhang mit der Besatzung anderer Länder (Estland, Lettland, Litauen), nur kurzzeitig bestehenden Sowjetrepubliken (Karelo-Finnland) oder mit der Teilung bzw. Zusammenlegung von Sowjetrepubliken. Zusätzlich gab es zahlreiche autonome Republiken oder sonstige Gebietseinheiten mit einem Autonomiestatus, der sich im Wesentlichen auf eine sprachliche Autonomie der Minderheiten beschränkte.

Die UdSSR bestand vor ihrer formellen Auflösung aus 15 Sowjetrepubliken mit einer Bevölkerung von ungefähr 290 Millionen Menschen. Mit ca. 22,4 Millionen km² bildete sie den damals größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem und einer fehlenden Gewaltenteilung.

 fiel. Die Länder des ehemaligen Kronlandes befinden sich heute unter rumänischer und ukrainischer Kontrolle.
Gregor von Rezzori und „Blumen im Schnee“
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Zu diesen bedeutenden literarischen Persönlichkeiten zählte auch der Schriftsteller Gregor von Rezzori, der aus einer Linie angesehener habsburgischer Verwaltungsbeamter stammte. Im Sommer 1914 wurde er, wenige Wochen vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs, in der Bukowina geboren. Da seine Eltern die Entscheidung getroffen hatten, in der Bukowina zu verbleiben, nachdem diese nach dem Ersten Weltkrieg in das Königreich Rumänien eingegliedert worden war, ist das 1989 erschienene autobiografische Werk „Blumen im Schnee“4, das seine Kindheit im Czernowitz der Zwischenkriegszeit beschreibt, von Erinnerungen an eine entschwindende Vergangenheit durchwebt. Rezzoris Erinnerungen sind nicht chronologisch aufgebaut, sondern werden durch detaillierte Porträts von Familienmitgliedern und seiner geliebten Gouvernante dargestellt. Das Buch wurde 1989 (im selben Jahr wie das Original) von H.F. Broch de Rothermann ins Englische übersetzt und 2010 von Penguin in einer Neuausgabe wiederaufgelegt.5
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Wie der überwiegende Teil seiner fiktionalen Prosa gewähren auch diese Memoiren einen Einblick in die Art und Weise, wie die deutschsprachige Familie von Rezzori mit dem Verlust jenes Reiches umging, in dem sie zuvor gelebt hatte. Wie bereits an anderer Stelle erwähnt,6 führten der Wegfall des einst privilegierten Status, der ihnen als ethnischen Deutschen im östlichsten Kronland zuerkannt worden war, und der Zerfall der hochgradig hierarchischen sozialen und sprachlichen Strukturen, die die habsburgische Gesellschaft geprägt hatten, in der Zwischenkriegszeit zu der Vorstellung vom „Bukowina-Deutschen“. Indem er feststellt, dass „[w]ir [...] uns als dereinstige Österreicher in einer hauptsächlich österreichisch geprägten Provinz auf[fassten]“ (S. 40)7, scheint von Rezzori sein jüngeres Alter Ego und seine exzentrische Familie in diese Bezeichnung einzuschließen. Wenn er beispielsweise erwähnt, dass „[w]ir [...] die Jahre zwischen 1919 und 1939 im Wahn einer pseudofeudalen Stellung in der Welt [lebten]“ (S. 40) können in der Tat viele der geschilderten Probleme als Chiffre für die einer ganzen Generation gelesen werden.
Die Bukowina als Kolonie in „Blumen im Schnee“
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Angesichts der Diskussionen über den Kolonialismus im mittel- und osteuropäischen Kontext ist es bemerkenswert, dass von Rezzori in seinem Buch mehrfach auf die Bukowina als „Kolonie“ zu sprechen kommt. So schreibt er zum Beispiel das Folgende über seine eigene vielfältige Abstammung: „Weder mein Vater noch meine Mutter gehörten zu den Bodenständigen. Beide – jeder auf seine oder ihre Weise – lebten sie in einer Art Exil: verschlagen in ein Kolonialland, das von den Kolonialherren verlassen worden war. Von einer früheren ‚ guten Gesellschaft‘[...], war verschwindend wenig übriggeblieben. [...] Was davon übriggeblieben – das heißt: nicht in die Schrumpfländer der neugegründeten österreichischen Republik zurück oder anderswohin abgewandert war, zerfiel in nationalistisch definierte Gruppen.“ (S. 71)
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Das Bewusstsein eines „kolonialen“ Erbes zeigt sich nicht zuletzt in von Rezzoris Beschreibungen des rastlosen Vaters, eines Mannes mit eigenwilligen politischen Ansichten und Verhaltensweisen, der in seinen frühen Jahren in den damals neu besetzten Ländereien der Habsburger Herzegowina versuchte, „abenteuerliche Pioniervorstellungen“ (S. 161) zu verwirklichen. Tatsächlich schreibt von Rezzori, dass die „k.u.k. Monarchie [...] weit in den europäischen Südosten [reichte]: ein Kolonialreich, dessen Kolonien auf demselben Kontinent lag.“ (S. 161)
Erst nachdem er später die Bukowina nach mehreren Auseinandersetzungen mit der rumänischen Bürokratie verlassen soll, hält von Rezzori fest, dass sein Vater in Siebenbürgen aufblühte. „Hier brauchte er nicht die undankbare und ermüdende Rolle des hinterlassenen Kolonialherren zu spielen.“ (S. 187) Das Wesentliche dabei ist, dass „er in der festen Welt der [Siebenbürger] Sachsen ein Spalier gefunden [hatte], an das er sich mit allen psychischen Bedürfnissen verläßlich anranken konnte.” (S. 187) In der Tat schreibt von Rezzori, dass diese „Siebenbürger Sachsen“ „einen sicheren Stand in ihrer unanzweifelbaren identität [hatten]. Sie waren in erster Linie Siebenbürger Sachsen, deutsch zwar ihrer Herkunft und Sprache nach, aber gänzlich eigenständig, bodenständig sie selbst: tief verwurzelt in einem Land, das seit fast einem Jahrtausend ihr eigenes war [...]." (S. 187)
Demgegenüber charakterisiert von Rezzori die „pseudofeudale[.]“ Stellung der Bukowina-Deutschen8: „Dieses merkwürdigerweise von niemandem angefochtenen Als-ob wurde gefördert durch die Nachwirkung eines ehemaligen Kolonialherrentums, in dem wir nach dem Ende der Doppelmonarchie machtlos hinterlassen worden waren“ (S. 40) Er beschreibt diese Reste der ehemaligen habsburgischen Elite „wie nach dem Ende des Raj in Indien verbliebene Briten“ (S. 40). Das koloniale Indien galt gemeinhin als das Kronjuwel unter den zahlreichen britischen Überseebesitzungen; daher dient von Rezzoris Vergleich zwischen der Situation der Briten, die nach der Teilung Indiens blieben, und derjenigen der ehemaligen deutschen Elite in der Bukowina dazu, die Radikalität der sozialen, kulturellen und politischen Veränderungen zu verdeutlichen, welche die Region in dieser Zeit durchlief.
Reflexionen zur Bukowina als Kolonie
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Wie bereits erwähnt, wurde Blumen im Schnee 1989 sowohl im deutschen Original als auch in englischer Übersetzung publiziert. Da von Rezzori über Ereignisse schreibt, die sich mehr als sechs Jahrzehnte zuvor ereignet hatten, ist sein Werk vor dem Hintergrund der zahlreichen Ereignisse die Mittel- und Osteuropa in der Mitte und am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts tiefgreifend beeinflussten, zu interpretieren. Dazu gehörten der Aufstieg des Dritten Reichs, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs sowie der Aufstieg der kommunistischen Regime und des Warschauer Pakts. Was den kolonialen Kontext anbelangt, so waren die vergangenen Jahrzehnte auch Zeuge des Zerfalls der riesigen überseeischen Imperien von Mächten wie Großbritannien, Frankreich und Portugal. Aufgrund des sukzessiven Zerfalls der kommunistischen Regime in den Ländern Mittel- und Osteuropas muss auch das Jahr 1989 als das Jahr hervorgehoben werden, in dem der sowjetische Einflussbereich sich zurückzuziehen begann. Der immense Machtverlust der Sowjetunion in der gesamten Region diente als Vorspiel für den endgültigen Zerfall der UdSSR; vielleicht beeinflusste diese Perspektive von Rezzoris Entscheidung, die Bukowina im Rahmen seines Buches als „Kolonie“ zu bezeichnen.
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Da nun das Nachwort zu Blumen im Schnee nach den Umwälzungen von 1989 spielt, könnte man versucht sein anzunehmen, dass es den Leser auf die Ereignisse der Gegenwart aufmerksam machen möchte. Ursprünglich als separates Postskriptum 1990 veröffentlicht, erschien es daher nicht in der deutschen Erstausgabe, obwohl es als Schlussstein des gesamten Werks gedacht war. Darin besucht von Rezzori zum ersten Mal seit 1936 seinen Geburtsort Czernowitz (heute Czernowitz in der Ukraine). Doch anstatt über postkoloniale Aspekte zu reflektieren, stellt von Rezzoris Epilog eher einen Bericht über die persönliche Reise des Autors dar, einen Versuch, einen Ort wieder aufzusuchen, der nur noch als „mythischer Topos“9 existiert, und sich mit ihm auszusöhnen. Dennoch stellt diese Reise in der Tat „einen Sturz ins Unwirkliche“ dar, bei dem er „seinen Sinnen nicht mehr trauen konnte“, wobei von Rezzori feststellt, dass das „heutige Tschernowitz eine Absage sowohl an das Cernăuți der Zwischenkriegszeit als auch an das kaiserliche österreichische Czernowitz war“10. Damit wirft er ein Schlaglicht auf den scharfen Kontrast, den er gegenüber der heute postsowjetisch-ukrainischen Stadt mit ihrer Vergangenheit unter rumänischer und habsburgischer Herrschaft erlebt.
Schlussbemerkungen
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Als Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion über Kolonialismus, Okkupation und Herrschaft in Mittel- und Osteuropa liefert „Blumen im Schnee“ eine Chronik des komplexen Zusammenspiels verschiedener sozialer, kultureller und politischer Faktoren, die für die Bukowina unmittelbar nach dem Untergang des Habsburgerreiches prägend waren. Indem es von Rezzoris Beobachtungen über diese verschwundene Vergangenheit wiedergibt, zeigt das Buch – zumindest in den Augen eines ihrer wichtigsten literarischen Vertreter –, dass Mitglieder der ehemaligen Elite die Bukowina der Zwischenkriegszeit nach wie vor aus einer eindeutig koloniale Warte betrachteten. Darüber hinaus dokumentiert das Buch eine Welt, ein Reich und eine Gesellschaft, die inzwischen aus dem Gedächtnis der Menschen verschwunden sind, und zeigt, wie flüchtig die Präsenz der deutschstämmigen Elite in den herrschenden Hierarchien der Region war. Durch die präzise dargestellten Erinnerungen an eine in einem verschwundenen Czernowitz verbrachte Kindheit und Jugend bietet die Erforschung von Gregor von Rezzoris Memoiren einen weiteren Anstoß für die Arbeit an literarischen Darstellungen des Kolonialismus im mittel- und osteuropäischen Kontext und anderswo.

Siehe auch