Die Ordnung der Dinge

Deutsche Gegenstände in Polens Westgebieten
Ein Behältnis mit der deutschen Aufschrift „Salz“ in einer Küche in Wrocław; eine Landkarte Westpolens, auf der die deutschen Ortsnamen durchgestrichen und die neuen in polnischer Sprache handschriftlich eingetragen sind: Gegenstände wie diese kann man heute noch in der Region finden. Sie verweisen auf deren deutsche Vorkriegsvergangenheit. Welche Geschichten, Praktiken und Gefühle wecken sie?
Die von der Antihitlerkoalition auf den Konferenzen in Teheran (1943), Jalta und Potsdam (1945) beschlossenen Grenzverschiebungen veränderten die geopolitische Landschaft Mitteleuropas tiefgreifend und hielten die Region in Bewegung. Der polnische Staat wurde mit ehemals deutschen Gebieten im Norden und Westen entschädigt, da die östlichen Grenzgebiete Polens aus der Vorkriegszeit in die westlichen Republiken der Sowjetunion eingegliedert wurden. Diese Gebiete, die heute in Polen als 
Wiedergewonnene Gebiete
pol. Kresy Zachodnie, pol. Ziemie Odzyskane, pol. Ziemie Powracające, pol. Ziemie Postulowane, pol. Ziemie Zachodnie i Północne, eng. Returning Territories, eng. Postulated Territories, eng. Western and Northern Territories, eng. Western Borderlands, eng. Regained Lands, eng. Recovered Territories, pol. Ziemie Nowe, pol. Ziemie Uzyskane

Der Terminus 'Wiedergewonnene Gebiete' (polnisch Ziemie Odzyskane) wurde in der Volksrepublik Polen für die ehemaligen Ost- bzw. Nordostgebiete des Deutschen Reiches (mit der Freien Stadt Danzig) verwendet, die nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs an Polen angeschlossen wurden. Der Begriff, der u. a. namensgebend für das speziell für ihre Belange 1945-1949 eingerichtete "Ministerium für die Wiedergewonnenen Gebiete" war, spielte auf eine – nicht immer eindeutige und teilweise mehrere Jahrhunderte zurückliegende – historische Zugehörigkeit dieser Gebiete zum polnischen Herrschaftsbereich an. Der Begriff wurde offiziell allerdings bereits 1938 in Bezug auf die Besetzung des vormals tschechoslowakischen Olsagebiets gebraucht. Bereits während des Zweiten Weltkrieges wurden Postulate zur Eingliederung der Reichsgebiete erhoben, worauf einer der zahlreichen weiteren polnischen Begriffe - „Ziemie Postulowane“ („Postulierte Gebiete“) - anspielte. Die Übernahme der Ostgebiete des Deutschen Reiches wurde in Polen als eine Art Schadensersatz für die verlorenen Ostgebiete empfunden.

 oder einfach als „Westgebiete“ bezeichnet werden, umfassen den größten Teil des ehemaligen Schlesiens, Ostbrandenburgs, Ostpommerns und den südlichen Teil Ostpreußens.

Die Nachkriegsmigration und das materielle Erbe in Polens Westgebieten

Die Neuziehung der Grenzen löste große Wanderungsbewegungen aus. Die Bevölkerung veränderte sich und damit auch die soziokulturelle Zusammensetzung der betroffenen Gebiete. Deutsche, deren Heimat in den neu ausgewiesenen polnischen Gebieten außerhalb der deutschen Nachkriegsgrenzen lag, sahen sich gezwungen, diese zu verlassen. Gleichzeitig siedelte die Sowjetunion Millionen Pol:innen aus den von ihr annektierten Gebieten in diese Regionen um. Weitere wurden ermutigt, aus anderen Teilen Polens oder aus dem Ausland in die Westgebiete zu ziehen, um dort eine starke polnische Präsenz aufzubauen. Diese teils erzwungenen, teils freiwilligen Migrationsbewegungen schafften ein komplexes Mosaik aus Vertreibung und Umsiedlung, welches das soziale, kulturelle und demografische Gefüge der neuen polnischen Westgebiete nachhaltig beeinflusste.
Im Zuge dieser Bevölkerungsverschiebungen begegneten sich Menschen, die sich anfangs nicht nur fremd, sondern oft auch feindselig gegenüberstanden. In vielen Fällen erlebten polnische Migrant:innen Veränderungen ihres sozialen Status. Beispielsweise erfuhren einst wohlhabende Adelsfamilien einen sozialen Abstieg, wenn sie gezwungen waren, in kleine Wohnungen zu ziehen. Aber auch der Aufstieg war möglich, etwa wenn zuvor landlose Bauern eigene Höfe erhielten. In vielen Fällen ordneten die Bevölkerungsbewegungen die Beziehungen zwischen den Menschen und den Gegenständen, die sie in den Westgebieten vorfanden, neu. Unsere Forschungen über diese Beziehungen zwischen Vorkriegsobjekten und den heutigen Bewohnern von Wrocław und Szczecin, den beiden größten Städten der polnischen Westgebiete, zeigen, dass jener Prozess bis heute anhält.1 Objekte aus der Vorkriegszeit geben nach wie vor Anlass zu spezifisch regionalen Praktiken und Emotionen.
Die in den polnischen Westgebieten eintreffenden Siedler:innen bildeten in Bezug auf ihre Migrationsgründe, ihre Herkunft und ihren sozioökonomischen Status eine überaus heterogene Gruppe. Sie alle waren jedoch mit der kulturellen Fremdheit dieser bis vor kurzem deutschen Gebiete konfrontiert. Der offiziellen Staatspropaganda zufolge kehrten die polnischen Siedler:innen in „ursprünglich polnische“, „wiedergewonnene Gebiete“ zurück. In Wirklichkeit waren diese Gebiete jedoch seit Jahrhunderten von einer überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung bewohnt gewesen. Die Konfrontation der Siedler:innen mit der Materialität von Wrocław und Szczecin rief daher zunächst ein Gefühl des Unbehagens hervor. Die groß angelegten staatlichen Kampagnen zur so genannten „Entgermanisierung“ zielten in erster Linie darauf ab, die kulturelle „Fremdheit“ der Region zu verringern, indem deutsche oder preußische Denkmäler sowie deutsche Inschriften aus der Lebenswelt entfernt wurden. Aufgrund ihrer Zweckmäßigkeit und des allgemeinen Nachkriegsmangels blieben allerdings viele der aus der deutschen Ära „geerbten“ Gegenstände der antideutschen Regierungspropaganda zum Trotz in Gebrauch. Im Laufe der Jahre wurden sie genutzt, umfunktioniert oder repariert und fügten sich mehr und mehr in eine Umgebung aus neuen, nach dem Krieg produzierten Gegenständen ein.
Die Bewohner von Wrocław und Szczecin leben heute inmitten von Gegenständen, deren Provenienz im Alltag oft übersehen wird. Hier und da verrät eine deutsche Aufschrift auf einer Kaffeekanne oder einem Kleiderbügel ihre Herkunft aus der Vorkriegszeit. Unsere 2019 bis 2023 in Wrocław und Szczecin durchgeführten Recherchen ermöglichen einen reflektierten Blick auf Gegenstände des täglichen Gebrauchs. Wir klopften an die Türen von Wohnungen und Häusern in Vorkriegsvierteln und baten ihre Bewohner:innen, über das historische Erbe der beiden Städte zu sprechen. Nicht alle stimmten einem Interview zu, aber mehrere Personen luden uns in ihre Wohnungen ein. Dies gab uns die Gelegenheit, nach ihrer Familiengeschichte zu fragen – vor allem nach der Nachkriegsmigration und den sich daraus ergebenden Erfahrungen. Außerdem erhielten wir Auskunft über ein ausgesprochen diverses Spektrum an Gegenständen, darunter „poniemieckie“, d. h. ehemals deutsche Gegenstände,2 und die Geschichten, die sich dahinter verbergen.
Wir konzentrierten uns in unserer Forschung auf bis heute erhaltene Gegenstände und beobachteten, welche Praktiken sie bei den Bewohner:innen dieses Teils Polens ausgelöst haben. In einem Haus in Wrocław begegnete uns ein Gemälde, das noch immer an derselben Wand hängt wie vor dem Krieg. Die polnischen Eigentümer teilten das Haus nach dem Krieg einige Monate lang mit den ehemaligen deutschen Eigentümern und beschlossen, deren Bitte nachzukommen und das Gemälde dort zu belassen, wo es bereits lange Jahre zuvor gehangen hatte. Andere Menschen zeigten uns beschädigte oder unvollständige Gegenstände, die sie weiterhin als eine Art „Andenken an die Geschichte des Hauses“ schätzen. Dazu gehört das Fragment eines Messers, das im Hinterhof gefunden wurde, oder Stücke von Zeitungen, die während eines Renovierungsprojekts in der Wand gefunden und sorgfältig gerahmt über dem Küchentisch aufgehängt wurden.
All diese Objekte sind die fragilen Zeugen der Vorkriegsgeschichte Wrocławs und Szczecins sowie ihrer Nachkriegsbewohner:innen – einer Geschichte, die aufgrund der politischen Mythen und der Propaganda des kommunistischen Polens viele Jahrzehnte lang im Verborgenen lag. Erst mit dem Ende der kommunistischen Herrschaft im Jahr 1989 und der damit einhergehenden Aufhebung der Zensur wurden alternative Erzählungen über die Region laut. Dazu trugen Schriftsteller:innen, Wissenschaftler:innen sowie soziale Aktivist:innen bei, die das Interesse daran weckten, ein umfassenderes und wahrheitsgetreueres Bild der lokalen Vergangenheit aufzudecken. Gegenstände aus der Vorkriegszeit werden von unseren Gesprächspartner:innen oft begehrt und hoch geschätzt. Marcin zum Beispiel suchte jahrelang nach einer Wohnung in einem Vorkriegshaus in Szczecin und entschied sich schließlich für eine, in der sogar die originalen Türklinken erhalten sind. Da sie etwas Unverwechselbares und Einzigartiges für die Region darstellen, gilt die deutsche Provenienz dieser Objekte vor Ort als eine wertvolle Ressource. Andere Haltungen, wie etwa die Verleugnung oder gar Abneigung gegen die deutsche Vergangenheit der Region, sind ebenfalls noch anzutreffen, wenn auch in weit geringerem Umfang.

Soziale Distinktion durch Objekte

Diese Beziehungen zwischen „polnischen“ Menschen und „deutschen“ Objekten begannen schon unmittelbar nach dem Krieg. Die Neuankömmlinge eigneten sich das ehemals deutsche Eigentum an – oder, um es mit Robert Trabas Worten zu sagen, sie schafften ein „Gefühl von Meins-Sein“3. Obwohl unsere Analyse ergeben hat, dass es verschiedene Auffassungen zu den betreffenden Gegenständen und ihren Funktionen gibt,4 möchten wir in diesem Beitrag einen genauen Blick darauf werfen, wie die Nachkriegsbewohner:innen die ungewöhnliche Weitergabe dieses Eigentums verstanden und legitimierten. Die Figur des Eigentümers beziehungsweise der Eigentümerin ist dabei von entscheidender Bedeutung.
Während unserer Feldforschung in Wrocław begegneten wir Elzbieta, die uns eine Geschichte aus ihrer Vergangenheit als junge Ethnografin in Niederschlesien erzählte. Sie berichtete uns von einem Schmied, der, als er nach dem Krieg in die Region kam, eine ganze Schmiede samt Werkzeug von seinem Vorgänger übernahm. Elzbieta bemerkte: „Er war an den richtigen Ort gekommen.“
Gibt es weitere Beispiele für eine solche gefühlte „Richtigkeit“? Wann treten sie auf, und worauf beziehen sie sich? Wir haben uns diesen Fragen gestellt und herausgefunden, dass die Aneignung von Gegenständen dann als „richtig“ (pl.: właściwe) aufgefasst wird, wenn der alte und der neue Eigentümer bestimmte Gemeinsamkeiten aufweisen, die Vergangenheit und Gegenwart miteinander verknüpfen. Zu diesen Gemeinsamkeiten gehören etwa ein Beruf, eine bestimmte Fähigkeit und in einigen Fällen die Zugehörigkeit zu einer noch breiteren Kategorie – wie der sozialen Klasse. Ein eindrucksvolles Beispiel stammt von Magda, die von den Vorkriegsbodenfliesen in der Wohnung ihres Freundes in Wrocław ganz fasziniert war. Mithilfe eines Adressbuchs aus der Vorkriegszeit fand sie heraus, dass die ehemaligen Bewohner der Wohnung ein Beamter und ein Professor waren. Bemerkenswerterweise deckten sich diese Berufe mit denen ihrer Freundin, einer Beamtin, und des Ehemanns ihrer Freundin, eines Akademikers. Der Gedanke, dass ein Objekt nach dem Krieg in einem ähnlichen sozialen Umfeld „wieder auftauchte“ und im Besitz von Personen war, die seinen Vorkriegsbesitzer:innen ähnlich sind, löste bei unseren Gesprächspartner:innen Aufregung und Zufriedenheit aus. Sie betrachteten dies als eine glückliche Fügung des Schicksals.
Aber wie sieht es nun im umgekehrten Fall aus, d. h., wenn ein Gegenstand in einem ganz anderen sozialen Umfeld landet? Wanda, eine unserer Gesprächspartnerinnen, bewohnte eine Wohnung in einer Villa. Sie erinnerte sich an den Zustand der Wohnung zum Zeitpunkt, als ihre Familie Anfang der 1960er Jahre einzog: „Der Kutscher hatte sich dort niedergelassen. [...] Ich kann Ihnen nur sagen, dass [...] meine Schwiegermutter erst den Dreck von den Fensterbänken schaufeln musste, bevor sie uns aufnahm.“ Wanda beschrieb die Verwahrlosung des polnischen Vormieters, die sie mit seiner Herkunft aus einer niedrigeren Schicht in Verbindung brachte. Es herrschte das weit verbreitete Vorurteil, dass die wohlhabenderen Viertel der Stadt und die von der Gemeinde übernommenen Gebäude deshalb verfallen, weil ihre Bewohner:innen unteren sozialen Schichten angehören. Oft fand sich das Argument, dass diese Bewohner:innen nicht über die nötigen Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen würden, die Immobilien zu schätzen und ordnungsgemäß in Stand zu halten. Der Zustand von Gebäuden hängt jedoch in hohem Maße von Entscheidungen auf kommunaler Ebene ab, z. B. der, Mietshäuser zu renovieren und die notwendigen finanziellen Investitionen zu tätigen.
Die unterstellte Unfähigkeit, seine Dinge in Ordnung zu halten, ist heute ein häufiger Gegenstand negativer Kommentare im Internet und in den sozialen Medien. Auf dem Profil „Geschichten aus den Müllcontainern von Breslau“ zeigt ein Instagrammer wertvolle Gegenstände, die er im Müll findet. Menschen üben oft harsche Kritik an anderen, die sie nicht kennen, weil sie potenziell wertvolle Gegenstände wegwerfen. Dahinter steht die stillschweigende Annahme: Jemand hat den Wert dieser Dinge verkannt, weil ihm das nötige Wissen oder die Kompetenz fehlen; der Gegenstand ist daher in die „falschen“ Hände geraten.
Daraus ergeben sich Überlegungen zu Klassenunterschieden in Polen – während der kommunistischen Ära und heute5   – und über die Rolle, welche die Aneignung von Gegenständen und der soziale Aufstieg nach dem Krieg gespielt haben. Hier möchten wir besonders hervorheben, wie wichtig der imaginäre soziale Kontext eines Objekts war, wenn es um die Wahrnehmung der Eigentumsübertragung ging. Mit dem Konzept ‚Ordnung der Dinge‘ (pl.: porządek rzeczy), den wir aus den Erzählungen unserer Gesprächspartner:innen ableiten, zeigen wir, dass der Zustand eines Objekts mit der Person, der es gehört, und ihrer Fähigkeit, sich darum zu kümmern – oder eben nicht zu kümmern –, in Verbindung gebracht wird. Wenn der soziale Kontext eines Gegenstandes (bestehend aus seinen früheren und jetzigen Besitzer:innen) „wiederhergestellt“ wird, wird oft angenommen, dass dies mit einer „richtigen“ Pflege einhergeht. Dies vermittelt wiederum das Gefühl, es werde eine zuvor unterbrochene Kontinuität lediglich weitergeführt. Damit wird zudem die als unsicher empfundene Eigentumsübertragung legitimiert.
Agata, die in den 1990er Jahren Besuch von einem Mann erhalten hatte, der ihre Villa in Wrocław bewohnt hatte, beschrieb dieses Treffen wie folgt: Als der Mann darum bat, sein ehemaliges Zuhause zu sehen, ließ sie ihn eintreten. Humorvoll berichtete sie von der Atmosphäre dieses Treffens. Das Gespräch der beiden löste sich bald vom Haus. Stattdessen schilderten sie sich gegenseitig verschiedene Gegenstände, die einstmals im jeweiligen Familienbesitz waren, wie Gemälde mit Jagdszenen und Siegelringe, die ihnen als Indikatoren für ihren sozialen Status dienten.
Agata gewann den Eindruck, dass der frühere Besitzer zufrieden war, als er sah, wer die ehemalige Villa seiner Familie nun bewohnte. Er wähnte sich „an einem Ort, an dem auch die von ihnen [den Vorbesitzern] verbrachte Vergangenheit eine Rolle spielt. Es ist zwar nicht wirklich ihre Vergangenheit, aber sie wird von einer bestimmten Gesellschaftsschicht geteilt. Und es geht nicht um den Adel oder wie auch immer man es nennen mag, sondern darum, dass die Vergangenheit und ihre Werte geschätzt werden.“
Agatas Beobachtung, dass der ehemalige Besitzer sich mit dem Zustand des Grundstücks zufrieden zeigte, kann als eine Form der symbolischen Wiedergutmachung verstanden werden und als eine Art, die zerstörerische Eigentumsübertragung nach 1945 zu legitimieren.
Unsere Forschungen haben ergeben, dass die deutsche Vergangenheit von Wrocław und Szczecin für ihre heutigen Bewohner:innen nach wie vor ein relevantes Thema ist. Die von der ehemaligen deutschen Bevölkerung hinterlassenen Gegenstände wirken noch immer: Sie tragen bis heute zur Identitätsbildung bei, werden zur sozialen Abgrenzung genutzt, füllen Lücken in unterbrochenen Migrationsbiografien und rufen starke Emotionen hervor.

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