Die Tschechoslowakei war ein zwischen 1918 und 1992 in wechselnden Grenzen und unter wechselnden Namen und politischen Systemen bestehender Staat, dessen ehemalige Landesteile in den heutigen Staaten Tschechien, Slowakei und der Ukraine (Karpatenukraine, bereits 1939 ungarisch besetzt, ab 1945 an die Sowjetunion) aufgegangen sind. Nach 1945 stand die Tschechoslowakei unter politischem Einfluss der Sowjetunion, war als Satellitenstaat Teil des sog. Ostblocks und ab 1955 Mitglied des Warschauer Paktes. Zwischen 1960 und 1990 trug das kommunistische Land offiziell den Namen Tschechoslowakische Sozialistische Republik (abgekürzt ČSSR). Die demokratische politische Wende wurde 1989 mit der Samtenen Revolution eingeleitet und mündete 1992 in der Gründung der unabhängigen Tschechischen bzw. Slowakischen Republiken.
Welche Rolle spielten Kindermedien in der Tschechoslowakei – und inwieweit schlugen sich das sozialistische Menschen- und Gesellschaftsbild oder gar politische Ereignisse in ihnen nieder? Auskunft darüber kann nicht zuletzt ein kleiner Bodenbewohner geben.
Eine Hose!
Text
Er gehört zu den prominentesten Tschechen überhaupt: Der kleine Maulwurf. Ihr Filmdebüt erlebte die putzige Zeichentrickfigur im Jahr 1957 in einem gerade einmal zwölfminütigen Abenteuer. Die Handlung ist schnell erzählt: Der kleine Maulwurf besitzt viele wichtige Dinge – eine Sicherheitsnadel, Garn, verbeulte Nägel – die er nirgendwo unterbringen kann. Eines Tages sieht er auf einer Wäscheleine eine herrliche blaue Hose mit wunderschönen und äußerst praktischen großen Taschen. So eine möchte der kleine Maulwurf auch haben. Aber wie? Zunächst fragt er im Wald und auf der Wiese bei seinen Freunden herum, findet aber keine Antwort. Erst der übellaunige Krebs bietet ihm an, Leinen zurechtzuschneiden, und auch der Schilfrohrsänger könnte nähen – wenn der Maulwurf nur den Stoff brächte. Die Suche geht also weiter, und sie lohnt sich. Der Flachs gibt sich als Rohstoffpflanze für Leinenprodukte zu erkennen, und der kleine Maulwurf macht sich an die Arbeit. Er jätet eifrig Unkraut, verjagt Schädlinge und gießt die durstige Pflanze.
Text
Wie der Maulwurf zu den Hosen kam („Jak krtek ke kalhotkám přišel“)
Text
Irgendwann kann der Flachs geerntet werden, dann gewässert – hier ist der Frosch behilflich. Die Pflanzen werden getrocknet und weiterverarbeitet, gebrochen und gekämmt. Dabei helfen dem kleinen Maulwurf wiederum Storch und Igel. Kleine Spinnen verarbeiten den Flachs zu einem feinen Faden, die Blaubeeren färben ihn. Nun muss aus dem Faden zu Stoff verarbeitet werden; der Maulwurf bittet die Ameisen um Unterstützung, die emsig einen Webstuhl bauen und ein blaues Leinentuch weben. Dabei werden sie – mit einer Anleihe in der klassischen Fabelkunst – musikalisch unterstützt von Grille und Hummel. Schließlich kann der Krebs die versprochene Arbeit tun, und er schneidet das Leinen zurecht, damit der Schilfrohrsänger eine fantastische Hose daraus nähen kann, mit großen Taschen. Der kleine Maulwurf könnte glücklicher nicht sein.
Der Film kann einfach als niedliche Tiergeschichte gesehen werden. Oder aber als manipulativer sozialistischer Lehrfilm. Es handelt sich immerhin um ein Werk der spätstalinistischen . Im Film wird die Arbeit idealisiert, insbesondere die Arbeit im Kollektiv; es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Ameisen dem kleinen Maulwurf helfen und auch in anderen Kindergeschichten der Zeit eine zentrale Rolle spielen. Zudem ist das Ziel dieser Arbeit – die Hose mit den großen Taschen – kein Objekt der Eitelkeit, sondern eine ausgesprochen praktische Angelegenheit, schließlich will der Maulwurf sein Werkzeug dabeihaben. Der kleine Maulwurf kann damit als ein Beispiel für die Instrumentalisierung der Kindheitskultur und die Manipulierung von Kindern in diktatorischen Gesellschaften gesehen werden.
Tschechoslowakei
ces. Československo, slk. Česko-Slovensko, eng. Czecho-Slovakia, eng. Czechoslovakia
Text
Allerdings bringt diese Interpretation ihre Probleme mit sich. Abgesehen davon, dass sie extrem unoriginell ist, fehlt es ihr auch an Stringenz. Dies sowohl auf der Erzählebene – so bilden die Ameisen das einzige Kollektiv inmitten zahlreicher Einzelgänger – als auch kontextbezogen. Ohne das Hintergrundwissen zu Produktionsort und -jahr könnte man den Film ebenso gut als Zeugnis anderer Gesellschaftsordnungen interpretieren, bis hin zum Neoliberalismus mit seiner Freude an unbezahlter Arbeit. Vor allem aber ist die Story, die Lösung eines Problems oder eines Konfliktes durch Fleiß, Gespräche und gegenseitige Hilfe, geradezu klassisch für die moderne europäische Kinderliteratur. Und tatsächlich war und ist der kleine Maulwurf zeit- und raumübergreifend enorm erfolgreich, was interessante Fragen bezüglich der gesellschaftlichen Funktionen und der Erfolgsbedingungen von Kindermedien und insbesondere für deren Möglichkeiten in sozialistischen Gesellschaften aufwirft.
Die Bedeutung von Kindermedien
Text
Kinderliteratur und Kindermedien allgemein haben in der historischen Betrachtung sehr unterschiedliche Umgangskonjunkturen erfahren. Diese reichen von kompletter Missachtung als historisch irrelevantes Genre („und überhaupt muss man doch nicht überall nach Politik suchen“) über die Betrachtung von Kinderbüchern als perfides Manipulationsinstrument in diktatorischen Regimen. Aus einer differenzierteren Sicht aber sind Kindermedien in den letzten Jahren zu einem intensiv erforschten Gegenstand der Literatur- und Kulturwissenschaften und der Geschichte geworden. Es geht darum, wie Kindermedien Machtbeziehungen betrachten, verarbeiten, erklären, perpetuieren oder kritisieren, wie sie mit Geschlechterordnungen, Ungleichheiten, politischen und moralischen Werten, historischen Narrativen und Traumata umgehen. Welche erzählerischen und ästhetischen Mittel werden genutzt, um Kinder mit speziell für sie geschaffenen Medien zu erziehen, d.h. an die von Erwachsenen dominierte Gesellschaft anzupassen? Welche Ziele dieser Erziehung werden hier deutlich? Wie verändern diese sich im Laufe der Zeit? Wie funktionieren diese Medien, wen sprechen sie an?
Speziell an Kinder gerichtete Medien gibt es im europäischen Kontext seit der Frühen Neuzeit, als
Fibeln
Fibel
auch:
Eine Fibel ist ein frühes Lese- bzw. Lehrbuch, das Kindern erste Kenntnisse im Lesen und Schreiben und insbesondere in der Lektüre gedruckter Schrift vermitteln sollte. Dazu waren Fibeln reich bebildert und mit zahlreichen Anschauungstafeln, teils auch mit Silbentabellen, Wortlisten oder Sinn- und Merksprüchen ausgestattet. Bereits seit Beginn der Frühen Neuzeit nachweisbar gehören Fibeln in den nachfolgenden Jahrhunderten zu den meistverbreiteten Drucken und, neben Kalendern, bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts zu den wenigen nicht in erster Linie religiösen Werken, die in zahlreichen Haushalten anzutreffen waren. Im Titel wurden sie im deutschsprachigen Raum meist als „ABC-Buch“ oder „Namenbuch“ bezeichnet.
,
Katechismen
Namenbuch, ABC-Buch
Katechismus
auch:
Ein Katechismus ist ein Buch, das Grundlagen der christlichen Glaubenslehre vermittelt und dazu in didaktisch aufbereiteter Weise präsentiert, häufig in Dialog- bzw. Frage-Antwort-Form. Katechismen gehören in der Frühen Neuzeit zu den meistverbreiteten religiösen Drucken und richten sich auch an Kinder und Heranwachsende. Neben Fibeln und Kalendern gehören sie bis ins 18. Jahrhundert zum Grundbestand auch sozial niedrig stehender Haushalte.
und Lesebücher entstanden; im 19. und frühen 20. Jahrhundert kamen für junge Leser*innen konzipierte Zeitschriften hinzu, Abenteuerbücher und die klassischen Backfischromane. Im 20. Jahrhundert explodierte der Markt für Kindermedien geradezu, mit unterschiedlichen Genres auf dem Buchmarkt, Filmen und bald auch Fernsehproduktionen. Dabei spielten sozialistische Gesellschaften eine wichtige Rolle. Die Sowjetunion seit 1917 und die ostmittel- und südosteuropäischen sozialistischen Länder seit den 1940er Jahren übernahmen eine der zentralen Prämissen der modernen Vorstellung von Kindheit: Kinder seien formbar und damit eine entscheidende Ressource für gesellschaftliche Gestaltung. Im sich als revolutionär verstehenden, explizit zukunftsorientierten Sozialismus wurde diese Ressource intensiv genutzt – unter anderem mit der Organisation von Kinder- und Jugendverbänden und großem Engagement für Kindermedien unterschiedlichster Art. Auch in der sozialistischen Tschechoslowakei bildeten Kinder eine wichtige Projektionsfläche und ein zentrales Kommunikationsziel der Regierung.Katechismen
Kindermedien in der sozialistischen Tschechoslowakei
Text
Bereits 1949 war ein staatlicher Verlag für Kinderbücher gegründet worden, und 1953 kam der slowakische Verlag Mladé letá hinzu; die beiden nationalen Kinderliteraturen wiesen nur wenige Verbindungen auf. Als das Tschechoslowakische Fernsehen 1953 seinen Betrieb aufnahm, wurde auch eine Redaktion für Kindersendungen gegründet. Der Kinderfilm wurde binnen weniger Jahre zum Aushängeschild insbesondere des tschechischen Films. Kindermedien galten nicht als Nische, sondern als gesamtgesellschaftlich wichtige Aufgabe. Stanislav Neumann, der Chefredakteur des Kinderbuchverlags, erklärte: „Kinderliteratur kann eine mächtige Waffe sein, ein mächtiges Instrument, das uns dabei hilft, Kinder zu Erbauern einer kommunistischen Gesellschaft zu erziehen.“ Der Schriftsteller Josef Šlajer nannte Kinderbuchautor*innen „Ingenieure der Kinderseelen“. Es gab Erzählungen über Lenins vorbildliche Kindheit, Bilderbücher über fleißig arbeitende Vorschulkinder, Comics mit Ameisen, die den Fünf-Jahresplan propagierten und übererfüllten. Viele Bücher wurden aus dem Russischen übersetzt. Dennoch zeichnete die tschechische Kinderliteratur andere Helden. Die Kinder in Prag und Brno kämpften nicht gegen Faschisten, sondern halfen dabei, Wohnungen zu renovieren und kümmerten sich um kranke Mitschüler. Es war vor allem eine Helferkindheit, keine Kämpferkindheit; die Welt der Kinder entsprach damit eher dem, was das Bürgertum des 19. Jahrhunderts unter dem Etikett „kindlich“ für sie vorgesehen hatte.
Der Maulwurf und der Mohnkuchen
Text
Die Frage danach, was „kindlich“ oder „kindgerecht“ war, wurde in Fachzeitschriften wie „Zlatý Máj“, aber auch in regulären Medien und auf Schriftstellerkongressen immer wieder intensiv diskutiert. Sie spiegelt sich in den Kindermedien selbst, so auch in der Geschichte vom Kleinen Maulwurf.
Dessen Schöpfer Zdeněk Miler hatte zunächst ein hochdidaktisches Werk über den „Mohnkuchen“ vorgelegt, das Produktionsvorgänge in der Landwirtschaft erklärte und den Traktor als neues Wunderinstrument feierte; am Ende hält ein kleiner Junge glücklich einen Mohnkuchen in der Hand. Wenige Jahre später erhielt Miler den Auftrag für ein ähnliches Produkt, diesmal mit dem Thema Textilien. Aus dieser trockenen Aufgabenstellung entstand der Kleine Maulwurf. Zwei Filme mit der gleichen Aussage – ein Produkt braucht viele Arbeitsschritte und intensive Zusammenarbeit – und sehr unterschiedlichen Stilen. Denn der propere kleine Maulwurf orientierte sich nicht am technisch-sozialistischen Erklärstil des Mohnkuchens, sondern an einem romantischen Kindheitsbild. Die Verbindung von Kindern mit anthropomorphisierten Tieren, der in Bild, Text und Stimme betonte Niedlichkeitsfaktor, die das Unschuldigkeitsmotiv hervorhebende Freude am Einfachen, die Kulisse einer unberührten und zugleich nach Vorbild der menschlichen Gesellschaft gestalteten Natur griffen auf etablierte, aus sozialistischer Perspektive eigentlich bourgeoise Traditionen zurück.
Text
Vom Mohnkuchen („O makovém koláči“)
Ideale einer sozialistischen Kindheitskultur
Text
Miler stand hier nicht allein. Die Welt tschechoslowakischer Kindheitskultur – und dazu gehören sowohl Medien für Kinder als auch Medien, die sich an Erwachsene richteten, aber über Kinder sprachen – veränderte sich seit Ende der 1950er Jahre deutlich. Dem vorausgegangen waren intensive Diskussionen darüber, wie man Medien für Kinder sinnvoller einsetzen und besser gestalten könnte. Daran beteiligten sich so berühmte Schriftsteller:innen wie Marie Majerová oder Bohumil Říha, später auch Journalist:innen und die Soziologie. Nach dem Krieg war das Ziel gesetzt worden, eine sozialistische Kinderliteratur zu schaffen und früheren „Schund“ aus den Regalen zu verbannen. Nun wurde kritisiert, dass diese neue Kinderliteratur zu weltfremd und nicht kindgerecht sei, langweilig und spröde. Ausdrücklich gefordert wurde außerdem eine größere Vielfalt der Kindermedien, die der Vielfalt der tatsächlichen Kindheiten entsprechen sollte: Je nach Alter, Wohnort, Interessen, Geschlecht und individueller Lebenssituation brauchten Kinder, so die neue Einsicht, unterschiedliche Geschichten. Bestimmt war diese Debatte vor allem von einer Sorge: Hatten die sozialistischen Kindermedien über dem Sozialismus womöglich die Kinder vergessen?
Und tatsächlich entwickelte sich in dieser Zeit eine vielfältigere Medienlandschaft für Kinder. Dazu gehörte eine differenzierte Klassifizierung beispielsweise der Kinderzeitschriften für die unterschiedlichen Altersgruppen und mehr und mehr auch nach Interessen und Hobbies. Auch der staatliche Kinderbuchverlag entwickelte mit der Zeit unterschiedliche Editionen. Buchillustrationen und die grafische Gestaltung von Zeitschriften wiesen nun eine große Vielfalt und Innovationskraft auf – in gewisser Weise erinnern Kindermedien der tschechoslowakischen 1960er an die avantgardistische Kinderliteratur der frühen Sowjetunion.
Maulwurfsbotschaften
Text
Auch der Kleine Maulwurf machte über die Zeit eine interessante Entwicklung durch. Die Bildsprache blieb und verstärkte sich noch im romantischen oder auch disneyhaften Sinn: Der Maulwurf wurde immer rundlicher und entsprach so einem traditionellen Kindheitsideal. Zugleich wurden die Themen vielfältiger, die Botschaften komplexer. Im Film Der kleine Maulwurf und das Auto (1963) befindet das kleine Tier sich nicht mehr in der idyllischen Landschaft des heimischen Waldes, sondern in einer modernen Stadt. Autos, Lärm und Schmutz bestimmen sein Leben. Natürlich geht auch diese Geschichte gut aus, in einer bemerkenswerten Weise. Der Maulwurf entdeckt seine Begeisterung für Motoren und bemüht sich, gegen viele Widerstände, um ein eigenes Auto. Dabei hilft ihm interessanterweise diesmal niemand; vielmehr erntet er Zweifel und Spott. Am Ende adaptiert der Maulwurf sich in dieser neuen Welt, er bastelt sich ein Auto zusammen, nutzt die Errungenschaften der Mechanisierung und kurvt schließlich mit einem schicken Sportwagen durch die Straßen. Ein bemerkenswert individualistischer Film mit einer nicht unamerikanischen Ästhetik, der die technische Moderne idealisiert.
Text
Der Maulwurf und das Auto („Krtek a autíčko“)
Sozialistische und andere Kindheitskonzepte
Text
Kindheit war in der sozialistischen Tschechoslowakei eine Plattform und ein politisches Instrument, aber auch ein Konzept, das ständig diskutiert und entwickelt wurde. Was als „sozialistische“ Kindheit zu gelten hatte und was als „bürgerliche“, war nicht ganz klar, und die Überschneidungen sind bemerkenswert. Dies machte auch den großen Erfolg ausländischer Kinderbücher in der Tschechoslowakei möglich, so die mehrfach aufgelegten Lindgrenschen Bullerbyn-Bücher. Vor allem aber ergab sich aus der Offenheit sozialistischer Kindheitsmedien ein großes Interesse westlicher Märkte für tschechische Fernsehproduktionen. Dazu gehörte nicht nur der Kleine Maulwurf, sondern auch Serien wie Arabela – die Märchenbraut oder Luzie, der Schrecken der Straße.
Auch eine sehr kurze Betrachtung der Geschichte tschechischer sozialistischer Kindheitskultur zeigt, wie flexibel und nützlich die Projektionsfläche Kindheit sein kann. Seit dem 18. Jahrhundert gibt es in Europa Kindheitsbilder, die eine erstaunliche Dominanz entfaltet haben. Die emotionale und damit potentiell stets auch politische Wirkung des Konzepts „Kindheit“ greift genau darauf zurück. Dies gilt in unterschiedlichem Maße auch für sozialistische Kindheitskulturen – diese wandten sich zwar in vieler Hinsicht gegen „bourgeoise“ Traditionen, sie nutzten aber die erlernten Sehgewohnheiten und Vorstellungen von einer „glücklichen“ Kindheit auch zu ihren Zwecken. Diese Sehgewohnheiten zeigen grenzübergreifend Wirkung und bilden damit auch den Grund für die vielfältigen Interpretationsmöglichkeiten und insbesondere für den immensen Erfolg des kleinen Maulwurfs und seiner blauen Hose.
Text
Spätere Maulwurf-Filme sollten unter anderem ökologische Fragen thematisieren und in ihrer Bildsprache die traditionelle Verbindung von Kindheits- und Naturideal aufgreifen. Gezeigt werden Müllprobleme oder, in fast dystopischer Weise, die Zerstörung von Lebensraum. So auch im Film Der Maulwurf und der Bulldozer (1975). Der Maulwurf hat sich ein schönes Zuhause mit einem blühenden Garten geschaffen, jätet Unkraut und gießt die Blumen, kümmert sich um die Bienen. Eine Grille spielt eifrig auf ihrer Geige, der Mond geht über der Idylle auf. Eines Tages jedoch geschieht das Unfassbare: Ein Bulldozer gräbt sich durch die Landschaft und droht, die schöne kleine Welt des Maulwurfs zu vernichten. Nachdem es dem Maulwurf nicht gelingt, die Maschine aufzuhalten (weder mit seinem bekannten „haló“ noch mithilfe der geigespielenden Grille), bleibt nur eins: Das Monstrum auszutricksen. Der Maulwurf verändert den vorgegebenen Weg und leitet den Bulldozer auf diese Weise um sein Zuhause herum. Am Ende ist die Naturzerstörung selbst zwar nicht gestoppt worden, aber der Maulwurf hat seine kleine Welt gerettet.
Neben der ökologischen Interpretation drängt sich eine weitere Botschaft des Films auf. Denn der Bulldozer des Jahres 1975 erinnert in seiner Ästhetik sehr an die sowjetischen Panzer vom
August 1968
Prager Frühling
Als „Prager Frühling“ werden die politischen Reformbewegungen in der Tschechoslowakei bezeichnet, die Ende August 1968 von Truppen des Warschauer Paktes unter sowjetischer Führung gewaltsam niedergeschlagen wurden. Die Reformbemühungen gingen dabei maßgeblich von der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPČ) unter ihrem Ersten Sekretär Alexander Dubček (1921–1992) selbst aus, waren jedoch eine Reaktion auf eine bereits mehrjährige ökonomische und gesellschaftliche Krise. Die Reformen zielten nicht auf einen umfänglichen Regierungs- oder Systemwechsel, sondern auf die Schaffung eines „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“. Das dazu in Angriff genommene Liberalisierungs- und Demokratisierungsprogramm beinhaltete beispielsweise die Reduzierung der Planwirtschaft, erste marktwirtschaftliche Freiheiten und Privatisierungen von Unternehmen, Bürokratieabbau, die Stärkung von Gewerkschaften und Betriebsräten, Rede- und Versammlungsfreiheit, Reisefreiheit oder die Abschaffung der Presse- und Kunstzensur.
Das Reformprogramm stieß in der sowjetischen Führung und bei den Regierungen weiterer Staaten des Warschauer Paktes (v. a. Polens, Ungarns, Bulgariens und der DDR) auf bald heftigen Widerstand. In der Nacht auf den 21. August 1968 folgte der militärische Einmarsch in die Tschechoslowakei, an dem mehr als eine halbe Million Soldaten beteiligt waren („Operation Donau“). Mehr als hundert Menschen kamen bei den folgenden Protesten ums Leben, hunderte weitere wurden verletzt. Das Politbüro der KPČ einschließlich Dubčeks wurden verhaftet, nach Moskau gebracht und am 26. August gezwungen, im „Moskauer Protokoll“ die Rücknahme aller Reformen und die langfristige Stationierung sowjetischer Truppen im Land zuzusagen.
Die nachfolgende Phase der tschechoslowakischen Geschichte, in der die zuvor durchgeführten Reformen zurückgenommen und Regimekritiker massiv verfolgt wurden, wird als Zeit der „Normalisierung“ bezeichnet. Der Begriff wird bereits im „Moskauer Protokoll“ verwendet.
. Er zerstört rücksichtslos, was der Maulwurf, einem eindeutig sozialistischen Ideal folgend, in seiner Heimat mühsam aufgebaut hat. Weder Sprache („haló“) noch die Kunst der Grille oder der verzweifelte Angriff zweier Rotkehlchen mit Kieselsteinen können ihn aufhalten. Der Maulwurf lernt, was auch die tschechoslowakische Gesellschaft lernen musste: Ein Kampf gegen diese Übermacht ist nicht möglich, und es bleibt einzig der Versuch, zu retten was zu retten ist und sich auf das Privatleben, die kleine Welt zurückzuziehen. Diese Interpretation wird dadurch gestützt, dass die Handlung des Films von Ivan Klíma vorgeschlagen worden war – einem ehemaligen kommunistischen tschechischen Autor, der gegen die sowjetische Invasion protestiert hatte und dadurch in den 1970er und 1980er Jahren massive Repressionen erfuhr. So gesehen, wäre Der Maulwurf und die Normalisierung ein passender Untertitel für den oberflächlich märchenhaften Film, und das scheinbar glückliche Ende hinterlässt einen bitteren Nachgeschmack.Text
Der Maulwurf und der Bulldozer („Krtek a buldozer“)
Text
Wie der kleine Welpe Appetit auf Honig bekam („Jak štěňátko dostalo chuť na med“)