Seit den Umbrüchen 1989–1991 haftet ‚Osteuropa‘ in Bezug auf Sexualitätspolitiken das Stigma der ‚Rückständigkeit‘ an. Ein Blick in die Quellen hinterfragt diese Sichtweise und erzählt vom blockübergreifenden Homosexuellenrechtsaktivismus der 1980er Jahre.
Die Postkolonialität Osteuropas – eine Frage sexueller Freiheit?
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Die Frage der Postkolonialität Osteuropas wird auch mit Bezug auf Sexualität und Gender diskutiert. Dabei bezieht sich die Debatte insbesondere auf die Zeit nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. In ihrem Zentrum steht die Vorstellung, dass das östliche und ehemals staatsozialistische Europa in Bezug auf sexuelle Freiheit ‚hinterherhinke‘.1 Die kritische, wissenschaftliche Befragung dieser Denkweise baut auf der postkolonialen Theorie auf. Sie hat zu der Einsicht geführt, Forschungsperspektiven zu hinterfragen, in denen der ‚Westen‘ (USA, Westeuropa) ganz selbstverständlich als der „fortschrittlichste Ort sexueller Freiheit“ dargestellt wird, wohingegen allen „nicht-westlichen Anderen“ unterstellt wird „vorübergehend rückständig und sexuell weniger fortschrittlich“ zu sein.2 Demnach dient das rhetorische Mittel der ‚Rückschrittlichkeit des Ostens‘ häufig dazu, die Vorstellung des Westens als Vorreiter der Moderne und Demokratie zu untermauern. Die Debatte wirft auch die grundsätzliche Frage auf, inwiefern das Denken in den großen Raumkategorien ‚Ost‘ und ‚West‘ die vielfältigen kulturellen, politischen, konfessionellen und geographischen Einflüsse außer Acht lässt, die die Geschichte und Gegenwart der Regionen geprägt haben. Eine Denkweise, die den ‚Osten‘ dem ‚Westen‘ gegenüberstellt und deren jeweilige Unterschiedlichkeit betont, tendiert außerdem häufig dazu, transnationale Verbindungen und das Phänomen des Wissensaustauschs aus dem Blick zu verlieren. 
Die Geschichte des Eastern Europe Information Pool stellt ein solches Beispiel transnationalen Austauschs dar. Eine kleine Gruppe in 
Wien
eng. Vienna

Wien ist die Bundeshauptstadt und politisches, kulturelles und wirtschaftliches Zentrum Österreichs. Allein im Stadtgebiet leben rund 1,9 Millionen Einwohner:innen und damit ein Fünftel der Landesbevölkerung, im Großraum insgesamt sogar ein Drittel aller Österreicher:innen. Historisch bedeutend ist Wien insbesondere als Hauptstadt und mit Abstand wichtigste Residenzstadt der ehemaligen Habsburgermonarchie.

 ansässiger homosexueller Aktivist:innen verfolgte in den letzten Jahren des Kalten Krieges die utopische Idee, im Ostblock eine Schwulen- und Lesbenbewegung anzustoßen. Zwischen 1981 und 1990 reisten Mitglieder der Gruppe regelmäßig durch den Eisernen Vorhang in die Warschauer-Pakt-Staaten und nach 
Jugoslawien
srp. Југославија, hrv. Jugoslavija, eng. Yugoslavia, slv. Jugoslavija, sqi. Jugosllavia

Jugoslawien war ein südosteuropäischer Staat, der mit Unterbrechungen und in leicht wechselnden Grenzen von 1918 bis 1992 bzw. 2003 existierte. Hauptstadt und größte Stadt des Landes war Belgrad. Historisch unterscheidet man insbesondere zwischen der Zeit des Königreichs Jugoslawien von 1918 bis 1941 (auch 'Erstes Jugoslawien' genannt) und dem kommunistischen Jugoslawien ab 1945 (das sog. 'Zweite Jugoslawien') unter dem diktatorisch regierenden Staatschef Josip Broz Tito (1892-1980). Der Zerfall Jugoslawiens ab 1991 und die Unabhängigkeitsbestrebungen mehrerer Landesteile mündeten schließlich in die Jugoslawienkriege (auch Balkankriege oder postjugoslawische Kriege genannt). Die Nachfolgestaaten Jugoslawiens sind heute Slowenien, Kroatien, Serbien, Montenegro, Nordmazedonien, der Kosovo und Bosnien und Herzegowina.

. Sie wollten vor Ort Kontakte knüpfen und auf diese Weise Informationen „über die Lage der Schwulen und Lesben in Osteuropa“3 sammeln. Unter dem Namen Eastern Europe Information Pool (EEIP) als „Informationsbüro für das östliche Europa“4 – dokumentierte die Gruppe ihre Erkenntnisse in insgesamt zehn Jahresberichten. Diese schriftliche Hinterlassenschaft des Eastern Europe Information Pool zeigt, dass die Konstruktion Osteuropas als ‚sexuell rückschrittlicher Raum‘ nicht erst im Zuge der Transformationsphase nach 1989 –1991 entstanden ist. Zugleich widersprechen die in den Jahresberichten gesammelten Informationen diesem Vorurteil.
Die Institutionalisierung der ‚internationalen‘ Schwulen- und Lesbenbewegung und ihr transnationaler Aktivismus in Zeiten des Kalten Krieges
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Die Entstehung des Informationsbüros fällt in eine Zeit der verstärkten Sichtbarwerdung von trans, schwulen, lesbischen und bisexuellen Personen, vor allem in den USA, Australien und Westeuropa. In ihrem Kampf um Gleichberechtigung nutzen die Aktivist:innen der 1970er Jahre öffentlichkeitswirksame Strategien, wie die „Neudefinierung des Comingouts als Teil des gesellschaftspolitischen Wandels“5. Die dadurch zunehmende gesellschaftliche Sichtbarkeit queerer queerer Der Begriff queer (englisch für ‚schräg‘, ‚verkehrt‘), der bereits Ende des 19. Jahrhunderts, als Beleidung für Schwule benutzt wurde, erfährt ab den 1990er Jahren eine Umdeutung, indem diejenigen, die durch ihn beleidigt werden sollten, ihn in einem ermächtigenden Gestus für sich selbst verwendeten und damit positiv besetzten. Die (Selbst-)Bezeichnung queer bezieht sich heute nicht mehr nur auf gleichgeschlechtliches Begehren, sondern auf Personen verschiedenster sexueller oder geschlechtlicher Identitäten, wie auch auf Lebensweisen, kulturelle Praktiken und Politiken, die sich außerhalb dessen bewegen, was gesellschaftlich als „Norm(al)“ verstanden wird bzw. diesem widersetzen und sich infolgedessen auch mit gesellschaftlicher Ungleichbehandlung, rechtlicher Diskriminierung und Gewalt konfrontiert sehen. Queer ist als ein uneindeutiger Begriff zu verstehen, der sich der Intention einer eindeutigen definitorischen Festlegung, Kategorisierung, Identifikation und Benennung von Wirklichkeit entzieht und verwehrt.  Menschen verstärkte die politische Selbstorganisation in Gruppen und trieb so die Mobilisierung der sozialen Bewegung voran.
Vor dem Hintergrund dieser Ereignisse gründeten sich Ende der 1970er Jahre die beiden Organisationen, die später für die Gründung und Koordinierung des Eastern Europe Information Pool verantwortlich zeichneten: Die Homosexuelle Initiative (HOSI) Wien, bei der 1981 das Informationsbüro eingerichtet wurde, und die NGO International Lesbian and Gay Association International Lesbian and Gay Association 1978 gründete sich im englischen Coventry die International Gay Association als ein internationaler Zusammenschluss schwul-lesbischer Organisationen aus Australien, den USA und (West-)Europa. 1986 wurde der Verband offiziell zur International Lesbian and Gay Organisation (kurz: ILGA) umbenannt und 2008 erneut in International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association. Unter dem Dachverband ILGA World versammeln sich heute über 1900 internationale LGBTI-Organisation, die weltweit für die Menschenrechte queerer Personen lobbyieren. Die NGO verfügt über einen beratenden ECOSOC-Status bei den Vereinten Nationen. (ILGA), auf deren Geheiß es aktiv war. Die Organisation ILGA fungierte als international-agierende Interessensvertretung queerer Menschen. Von vorneherein verband die NGO ihre Antidiskriminierungsarbeit mit der weltweiten Dokumentation von Informationen über Diskriminierung und deren Verbreitung. Die geopolitische Teilung Europas begrenzte den politischen Handlungsraum der ILGA nur bedingt. Für ihre Forderung nach LGBT-Rechten als Menschenrechte, hatte insbesondere die bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa 1975 unterzeichnete Schlussakte von Helsinki eine wichtige ‚Brückenfunktion‘6 über den Eisernen Vorhang hinweg. Denn der Beschluss beinhaltete eine Klausel über die Wahrung der Menschenrechte und war auch von den Machthabern der Warschauer-Pakt-Staaten und Jugoslawiens unterzeichnet worden. 
Als schließlich der Eastern Europe Information Pool 1981 gegründet wurde, schuf sich die NGO ein „direktes Instrument zur Beseitigung des Informationsdefizites“7, welches für sie in Bezug auf Homosexualität im Ostblock bestand. Im Verlauf der 1980er Jahre wurde das Wiener Informationsbüro zu einem Knotenpunkt für den Austausch von Wissen und Informationen zwischen der institutionalisierten Homosexuellenrechtsbewegung westlich und den schwul-lesbischen Akteur:innen östlich des Eisernen Vorhangs. Bis 1990 verfasste die Gruppe um den Eastern Europe Information Pool über hundert Seiten Jahresberichte, welche verschiedenste Arten von Informationen bündelten. In abgedruckten Gesetzestexten, Reiseberichten und Hintergrundartikeln erfuhren die Lesenden, wie das Informationsbüro die Situation von Schwulen und Lesben im Staatssozialismus einschätzt.
Vom Versuch gesellschaftliche Unsichtbarkeit und flüchtige Räume zu dokumentieren
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Was die rechtliche Stellung Homosexueller in den jeweiligen Ländern des staatsozialistischen Blocks betrifft, offenbaren die Jahresberichte große Unterschiede. Damit entwirft die Quelle ein viel komplexeres Bild, das dem Narrativ der Rückständigkeit Osteuropas widerspricht: Zum Zeitpunkt der Tätigkeit des Informationsbüros wurden homosexuelle Handlungen in der 
Sowjetunion
eng. Soviet Union, deu. Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз, . Совет Ушем, . Советонь Соткс, rus. Sovetskij Soûz, . Советий Союз, yid. ראַטן־פֿאַרבאַנד, yid. סאוועטן פארבאנד, yid. sovətn farband, yid. sovʿtn-farband, yid. sovətn-farband, . Советтер Союзу, . Совет Союзы, deu. Советий Союз, . Советон Цæдис, . Совет Эвилели

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Sie ist aus dem sog. Sowjetrussland hervorgegangen, dem Nachfolgestaat des Russländischen Kaiserreichs. Den Kern der Union und zugleich ihren größten Teil bildete die Russische Sowjetrepublik, hinzu kamen weitere Teilrepubliken. Ihre Zahl variiert über die Zeit hinweg und steht im Zusammenhang mit der Besatzung anderer Länder (Estland, Lettland, Litauen), nur kurzzeitig bestehenden Sowjetrepubliken (Karelo-Finnland) oder mit der Teilung bzw. Zusammenlegung von Sowjetrepubliken. Zusätzlich gab es zahlreiche autonome Republiken oder sonstige Gebietseinheiten mit einem Autonomiestatus, der sich im Wesentlichen auf eine sprachliche Autonomie der Minderheiten beschränkte.

Die UdSSR bestand vor ihrer formellen Auflösung aus 15 Sowjetrepubliken mit einer Bevölkerung von ungefähr 290 Millionen Menschen. Mit ca. 22,4 Millionen km² bildete sie den damals größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem und einer fehlenden Gewaltenteilung.

 und in 
Rumänische Volksrepublik
ron. Republica Socialistă a României, eng. Socialist Republic of Romania, deu. Sozialistische Republik Rumänien, eng. Romanian People's Republic, ron. Republica Populară Română, ron. Republica Populară Romînă

Die „Rumänische Volksrepublik“ (1947–1965) bzw. „Sozialistische Republik Rumänien“ (1965–1989) war ein sozialistischer Einparteienstaat in Südosteuropa, der als Teil des Ostblocks und des Warschauer Paktes unter starkem Einfluss der Sowjetunion stand.

Wichtigste Figur der rumänischen Politik über einen Großteil des Bestehens des Landes war Nicolae Ceaușescu (1918–1989), der das Land von 1965 bis 1989 diktatorisch regierte und mit Beginn der 1970er Jahre einen Personenkult um sich und seine Familie aufbaute. Eine entscheidende Rolle für den Machterhalt Ceaușescus spielte die massive und rücksichtslose Verfolgung politischer Gegner durch die Geheimpolizei Securitate.

Die „Sozialistische Republik Rumänien“ endete mit der Rumänischen Revolution im Dezember 1989 und nach Jahren des wirtschaftlichen Niedergang des Landes. Im Zuge der Revolution wurden auch Ceaușescu und seine Frau Elena am 25. Dezember 1989 hingerichtet.

 mit einem Freiheitsentzug von bis zu fünf Jahren bestraft, so auch in der jugoslawischen Provinz Kosovo, der bosnisch-herzegowinischen, mazedonischen und serbischen Republik, wo bis zu einem Jahr Gefängnisstrafe drohte. 
Sozialistische Volksrepublik Albanien
eng. People's Socialist Republic of Albania, sqi. Republika Popullore Socialiste e Shqipërisë

Die Sozialistische Volksrepublik Albanien war ein südosteuropäischer Staat, der von 1944 bis 1991 Bestand hatte. Albanien, das erst 1912 seine Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich erklärt hatte, war seit 1928 Königreich und von 1939 bis 1943 italienisches Protektorat gewesen, bevor es im September 1943 von der Wehrmacht besetzt wurde. Nach deren Rückzug Ende 1944 rief die Kommunistische Partei Albaniens, die zuvor eine führende Rolle im Widerstand gespielt hatte, die Volksrepublik aus. Bei der Regierungsform handelte sich formal um ein sozialistisches Einparteiensystem, in der Praxis war Albanien eine stalinistische Diktatur, die tatsächliche oder vermeintliche Regimegegner in großer Zahl tötete und auch die Familien potentieller Oppositioneller verfolgte.

Bis in die 1960er Jahre war Albanien Mitglied des Warschauer Paktes und des Ostblocks, versuchte nach einer kurzen Annäherung an die Volksrepublik China aber seit den 1970er Jahren, diplomatisch und wirtschaftlich möglichst autark zu agieren. Diese Politik musste erst Ende der 1980er Jahre und angesichts des drastischen wirtschaftlichen Niedergangs aufgegeben werden, in deren Folge auch die antikommunistische Bewegung Auftrieb erhielt und ein sukzessiver Demokratisierungsprozess eingeleitet wurde.

 legalisierte Homosexualität 1977 auf dem Papier, verfolgte diese aber zugleich strafrechtlich durch andere Rechtsmittel bis in die 1990er Jahre. 
Volksrepublik Polen
eng. Polish People’s Republic, pol. Polska Rzeczpospolita Ludowa

Die Volksrepublik Polen war ein von 1944 bis 1989 existierender sozialistischer Staat in den Grenzen des heutigen Polens. Sozialistische Einheitspartei des Ein-Parteien-Staates war die kommunistische Polnische Vereinigte Arbeiterpartei (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza, PZPR).

 legalisierte gleichgeschlechtlichen Sex zwischen Erwachsenen bereits 1932, 
Volksrepublik Ungarn
eng. Hungarian People's Republic, hun. Magyar Népköztársaság, deu. Ungarische Volksrepublik

Die Volksrepublik Ungarn war ein sozialistischer Staat in Ostmitteleuropa, der von 1949 bis 1989 bestand. Ihr voraus ging das 1920 wiedererrichtete Königreich Ungarn, das von 1920 bis 1944 allerdings nicht durch einen Monarchen oder eine Monarchin, sondern stellvertretend durch den autoritär regierenden „Reichsverweser“ Miklós Horthy (1868–1957) als Staatsoberhaupt regiert worden war. 1944 wurde Ungarn von der Wehrmacht besetzt, 1945 von der Roten Armee. Nach Kriegsende scheiterten die Versuche, eine Demokratie aufzubauen, und das politische System wurde unter kommunistischer Führung sukzessive zu einem sozialistischen Einparteiensystem umgebaut.

Die Volksrepublik Ungarn war Mitglied des Warschauer Paktes und stand unter starkem politischem Einfluss der Sowjetunion, die 1956 auch den Ungarischen Volksaufstand gewaltsam niederschlug. In den 1980er Jahren ging mit dem wirtschaftlichen Niedergang des Landes eine allmähliche politische Liberalisierung und Öffnung nach Westen einher, die auch das Ende sozialistischen Volksrepublik einläutete, aus der 1989 die heutige Republik Ungarn hervorging.

 1961, die 
Tschechoslowakei
ces. Československo, slk. Česko-Slovensko, eng. Czecho-Slovakia, eng. Czechoslovakia

Die Tschechoslowakei war ein zwischen 1918 und 1992 in wechselnden Grenzen und unter wechselnden Namen und politischen Systemen bestehender Staat, dessen ehemalige Landesteile in den heutigen Staaten Tschechien, Slowakei und der Ukraine (Karpatenukraine, bereits 1939 ungarisch besetzt, ab 1945 an die Sowjetunion) aufgegangen sind. Nach 1945 stand die Tschechoslowakei unter politischem Einfluss der Sowjetunion, war als Satellitenstaat Teil des sog. Ostblocks und ab 1955 Mitglied des Warschauer Paktes. Zwischen 1960 und 1990 trug das kommunistische Land offiziell den Namen Tschechoslowakische Sozialistische Republik (abgekürzt ČSSR). Die demokratische politische Wende wurde 1989 mit der Samtenen Revolution eingeleitet und mündete 1992 in der Gründung der unabhängigen Tschechischen bzw. Slowakischen Republiken.

 1962, die DDR und 
Volksrepublik Bulgarien
eng. People's Republic of Bulgaria, bul. Народна република България

Die Volksrepublik Bulgarien war ein sozialistischer Staat im Südosten Europas, der von 1946 bis 1990 bestand. Bulgarien war seit einem Putsch im Jahr 1934 weitgehend diktatorisch regiert worden. Obwohl es zu Beginn des Zweiten Weltkriegs zunächst versucht hatte, politische Neutralität zu wahren, wurde es 1941 von deutschen Truppen besetzt und vom nationalsozialistischen Deutschland zum Beitritt zu den Achsenmächten gedrängt, was den Kriegseintritt und die Kriegserklärung mehrerer alliierter Staaten nach sich zog, 1944 erklärte auch die Sowjetunion Bulgarien den Krieg, die das Land noch im selben Jahr 1944 vollständig besetzte. 1946 wurde schließlich die Volksrepublik ausgerufen.

Das Ende der Volksrepublik Bulgarien wurde durch den in den 1980er Jahre ausgelösten Reformprozess eingeleitet. 1990 fanden erstmals freie Wahlen statt, in deren Folge eine demokratische Verfassung entwickelt wurde.

 1968 und die übrigen vier der acht jugoslawischen Republiken bzw. Provinzen (Slowenien, Kroatien, Montenegro, Provinz Wojwodina) im Jahr 1977. Die Bundesrepublik Deutschland legalisierte Homosexualität 1969 und Österreich 1971, viele andere Staaten in Europa hatten dies bereits in den 1930er und 1940er Jahren getan. Diese Gegenüberstellung zeigt, dass sich die rechtliche Lage für Homosexuelle in den Ländern des östlichen Europa, wie in anderen europäischen Staaten auch, zu unterschiedlichen Zeitpunkten verbesserte und sich daraus kein einheitlicher Rückschluss über die Rückständigkeit des Ostens ableiten lässt.8
In Bezug auf gesellschaftliche Diskriminierung verwies das Informationsbüro u.a. auf den staatssozialistischen Gesellschaftsentwurf in dessen Zentrum das heterosexuelle Familienmodell stünde. Im Falle Polens beispielsweise betonte die Gruppe die starke Stellung der katholischen Kirche und in Bezug auf Jugoslawien und Bulgarien argumentierte sie – stark stereotypisierend9 – mit dem Einfluss ‚patriarchaler Traditionen im Balkan‘ . Je nach Land sahen sich homosexuelle Menschen also einem eher subtilen bis gewaltvollen Anpassungsdruck ausgesetzt, was es ihnen erschwerte, teils verunmöglichte, sich in der staatsozialistischen Öffentlichkeit zu bewegen.10
Aus diesem Grund finden sich in den Aufzeichnungen des Informationsbüros zahlreiche Beispiele, die den Erfindungsreichtum und die Widerständigkeit queerer Menschen im Umgang mit Repressionen und Unsichtbarkeit belegen. Die Jahresberichte dokumentierten die schwul-lesbischen Landschaften hinter dem Eisernen Vorhang: Sie erzählen von zufälligen Begegnungen an den bulgarischen Stränden am Schwarzen Meer, die Homosexuellen Momente flüchtiger Intimität ermöglichten (Cruising); sie berichteten vom Suchen neuer Bekanntschaften in den Kontaktanzeigen des polnischen Freizeitmagazin RELAKS und von der Eröffnung der inoffiziellen Disko ‚U Richarda‘ im tschechischen 
Brno
deu. Brünn

Die im Südosten der Tschechischen Republik gelegene Stadt Brünn (tsch. Brno) ist mit ca. 380.000 Einwohnern nach Prag die zweitgrößte Stadt des Landes. Sie löste 1641 Olmütz (tsch. Olomouc) als Hauptstadt Mährens ab. Heute ist Brünn/Brno Verwaltungssitz der Südmährischen Region (Jihomoravský kraj) und ein wichtiges Industrie-, Handels- und Kulturzentrum. Die Universitätsstadt ist Sitz des Verfassungsgerichts und des Obersten Verwaltungsgerichts Tschechiens.

, die ein Student ab 1985 in der elterlichen Villa gemeinsam mit seiner Mutter betrieb.11 Die Entstehung solcher subkultureller Praktiken und Räume – um nur einige zu nennen – war jedoch kein spezifisch ‚realsozialistisches Phänomen‘, sondern ist eine Charakteristik queerer Kulturen,12 die auch die Arbeit der Aktivist:innen des Informationsbüros auszeichnete.
Die EEIP-Jahresberichte zwischen emanzipatorischer Wissenspolitik und westlichem Blick
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Mit dem Sammeln von Informationen zur Lage Homosexueller im Ostblock war das Informationsbüro aktiver Teil der internationalen Bestrebung des ILGA-Dachverbandes. In diesem Sinne war die Dokumentation ein Mittel der Antidiskriminierungsarbeit und zielte langfristig auf die Überwindung gesellschaftlicher und staatlicher Ungleichbehandlung ab. Sie sollte mehr Sichtbarkeit für die strukturelle Dimension von Diskriminierung bewirken und bei Betroffenen ein besseres Verständnis für die eigene Benachteiligung. Dies war aus Sicht des Wiener Informationsbüros wichtig für die Ausprägung eines politischen Bewusstseins sowohl als queere Einzelperson als auch als soziale Gruppe. Hinter der Arbeit des Informationsbüros steckte also ein emanzipatorischer Anspruch, der auch das Selbstverständnis der Gruppe prägte.
Insbesondere zu Beginn der Tätigkeit des Eastern Europe Information Pool bewirkte dieses Selbstverständnis allerdings eine „klare [gedankliche] Linie zwischen Ost und West“13. So schrieb die Gruppe in ihrem Vorbericht (Preliminary Statement) von 1982:

Die Situation der Homosexuellen in [...] allen osteuropäischen Ländern ist ganz anders als die in Westeuropa oder Amerika. Es ist unmöglich, eine Schwulenrechtsbewegung oder -organisation zu gründen, da es sowohl soziale als auch rechtliche Hindernisse gibt. Einerseits würde jede derartige Aktivität ein Eingreifen der Polizei nach sich ziehen. Andererseits scheinen die Schwulen dort im Allgemeinen nicht an solchen Aktivitäten interessiert zu sein. In mehreren dieser Länder gibt es eine große Subkultur, und die meisten unserer Freunde dort ziehen es vor, die Dinge auf dieser Ebene zu belassen, zumindest vorläufig. Eine schwule Befreiungsbewegung, wie es die HOSI [Homosexuelle Initiative Wien] ist, ist für viele von ihnen eine fremde Idee. Umso wichtiger ist es, dass wir uns verstärkt für unsere schwulen Mitstreiter in Osteuropa einsetzen.14

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Das Denken in ‚Ost‘ und ‚West‘ – die geopolitische Ordnung des Kalten Krieges – prägte somit das Vorgehen der Aktivist:innen zu Beginn ihrer Tätigkeit durchaus. Ihr Leitgedanke, durch öffentliche politische Selbstorganisation eine Verbesserung der gesellschaftlichen Lage homosexueller Menschen zu bewirken, baute auf früheren aktivistischen Erfahrungen in Westeuropa und den USA auf. Dieser Leitgedanke traf 1981 auf die politische Realität des Staatssozialismus. Dessen reglementierte mediale Öffentlichkeit und der Überwachungsapparat begrenzte jedoch die Möglichkeiten der dort lebenden Homosexuellen, sich in Gruppen zu organisieren, bzw. verschob diese in Privaträume, die Kirche, studentische Kreise und kulturelle Nischen. Die Mitglieder des Informationsbüros verwarfen deshalb ihr anfängliches Vorhaben, im Ostblock eine soziale Bewegung nach westlichem Vorbild anzustoßen als utopisch und konzentrierten sich stattdessen auf den Aufbau eines aktivistischen Netzwerkes durch den Eisernen Vorhang.
Durch die stetige Vernetzung des Informationsbüros nahmen die Beiträge lokaler Aktivist:innen über die Jahre mehr und mehr Raum in den Jahresberichten ein. Darunter fanden sich Stimmen, die sich selbstbewusst als Teil der internationalen Schwulen- und Lesbenbewegung positionierten, ebenso wie Kritik an der Vorgehensweise des Informationsbüros. Auf diese Weise verlor die trennende Ost-West-Denkweise, die die Jahresberichte anfänglich prägte, an Bedeutung. Im Laufe der 1980er Jahre wurden die Jahresberichte zu einem Medium, in dem Gruppen östlich und westlich des Eisernen Vorhangs gemeinsam die zunehmende queere Selbstorganisation in Polen, Ungarn, Slowenien, der DDR und der ČSSR dokumentierten. 
Diese Entwicklung kulminierte am 7. November 1987 im ersten Regionaltreffen des Eastern Europe Information Pool (EEIP Regional Meeting) in 
Budapest

Budapest ist die Hauptstadt Ungarns und mit ca. 1,7 Millionen Einwohner:innen die größte Stadt des Landes. Sie liegt in Mittelungarn an der Donau. Budapest ist 1873 durch die Zusammenlegung der Städte Buda und Pest entstanden.

. Das informelle Treffen versammelte neben Aktivist:innen aus der DDR, Polen, ČSSR, Jugoslawien und Ungarn auch Vertreter:innen des Wiener Informationsbüros und der ILGA an einem Ort. Seine Entstehung markierte einen Höhepunkt blockübergreifender Selbstorganisation, bereitete die Grundlage für die transnationale Zusammenarbeit europäischer Aktivist:innen und prägt über die Auflösung des Informationsbüros 1990 hinaus die schwul-lesbischen Landschaften in Europa.
Text
Eine postkoloniale Perspektive schärft den Blick dafür, dass seit dem Ende des Kalten Krieges Fragen der gesellschaftlichen und politischen Zugehörigkeit zu Europa auch durch die Kategorie der sexuellen Freiheit ausgedrückt wurde. Die Quellen des Eastern Europe Information Pool zeigen, dass die Vorstellung Osteuropas als ‚sexuell rückschrittlicher Raum‘ ein Konstrukt ist, das es nicht vermag, die historische Komplexität und Verschiedenheit queerer Selbstorganisation und sexueller Politiken in Ost und West abzubilden.