Ein archivalisch überliefertes Tagebuch spiegelt adlige Erziehungspraktiken im Russland des 19. Jahrhunderts detailliert wider und zeigt, dass es auch zu dieser Zeit bereits Helikopter-Eltern gab.
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„[…] vieles, wenn nicht alles, verdanke ich meiner Erziehung […]“ schrieb Jurij Samarin (1819–1876), Historiker, Publizist und  Slavophiler
Slavophile
Die Slavophilen waren Vertreter einer Denkrichtung, die sich programmatisch den kulturellen, religiösen und soziale Traditionen des alten Russlands verbunden fühlten. Ihre Gegenspieler in der Debatte um „Russland und Europa“, die seit den 1830er Jahren im russischen Kaiserreich ausgetragen wurde, waren die sogenannten Westler, die die radikale Europäisierung, die Peter I. (1672–1725) begonnen hatte, befürworteten.
, 1846 in einem Brief an den Schriftsteller Nikolaj Gogol’ Nikolaj Gogol’ Der ukrainisch/russische Schriftsteller, Historiker und Publizist wurde 1809 in Veliki Soročincy/Poltava (Ukraine) geboren und starb 1852 Moskau (Russland). Er gilt als einer der bedeutendsten Autoren des Russischen Kaiserreichs. Zu seinem Werk gehören Erzählungen („Abende auf dem Vorwerk bei Dikanka“, „Der Nevskij Prospekt“, „Die Nase“, „Der Mantel“), die Komödie „Der Revisor“ sowie der Roman „Die Toten Seelen“. .1 Ein solcher, zurückschauender Hinweis auf die Bedeutung der eigenen Erziehung und Bildung ist nicht außergewöhnlich. Bemerkenswert jedoch ist, dass es eine Quelle gibt, die Jurij Samarins Erziehungsprozess minutiös nachvollzieht.
Die Samarins waren eine Adelsfamilie mit großem Grundbesitz in Zentralrussland und einigen Tausend leibeigenen Bauern. Der damit einhergehende Wohlstand ermöglichte der Familie einen standesgemäßen Lebensstil. Dazu gehörten neben adäquat ausgestatteten Wohnsitzen in der Stadt und auf dem Land, der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sowie den Reisen ins europäische Ausland auch die entsprechende Erziehung und Bildung für den Nachwuchs. Wie zu dieser Zeit in der russischen Aristokratie üblich, engagierte die Familie Samarin dafür einen französischen Hauslehrer, der langfristig für die Erziehung und den häuslichen Unterricht ihrer Kinder, insbesondere aber des erstgeborenen Jurij zuständig sein sollte. Der aus der Bretagne stammende Adolphe Pascault, der sich in 
Russländisches Kaiserreich
rus. Росси́йская импе́рия, rus. Rossijskaja imperija, eng. Russian Empire, deu. Russisches Kaiserreich, deu. Russländisches Reich

Das Russische Kaiserreich (auch Russländisches Kaiserreich, Russisches Reich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.

 in Stepan Pako umbenannte, trat zu Beginn des Jahres 1824 seinen Dienst an.
Vermessung einer Kindheit im Detail
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In den zahlreichen, bislang aber nur punktuell bearbeiteten Familienarchiven in Russland finden sich häufig Dokumente, die den hohen Stellenwert von Erziehung und Bildung des Nachwuchses belegen. Sie reichen von Korrespondenzen der Eltern mit Hauslehrern und Gouvernanten, Unterrichts- und Stundenplänen, Aufsätzen der Kinder, Schreibübungen und Zeugnissen bis hin zu Erziehungsinstruktionen. Viele dieser Quellen sind nur bedingt aufschlussreich. Sie sagen zwar etwas über den Unterrichtsstoff und die erbrachten Leistungen der Kinder aus, vermitteln aber wenig Kenntnisse über die Bedeutung, die den Inhalten zugemessen wurde, und die Absichten, die hinter den Erziehungsanstrengungen steckten.
Im Falle Jurij Samarins liegt mit einem Erziehungstagebuch eine Quelle mit Seltenheitswert vor, die zeitgenössische Erziehungsvorstellungen und -praktiken widerspiegelt und damit eine russische adlige Kindheit im Detail vermisst.
Der französische Hauslehrer führte vom 13. März 1824 bis zum 24. Juli 1831 auf Anweisung von Jurijs Vater Fedor ein Tagebuch.2 Auf über 580 Seiten dokumentierte er akribisch die Lehr- und Erziehungsziele, seine alltäglichen Beobachtungen über die Entwicklung und das Verhalten seines Zöglings, beschrieb die innerfamiliäre Kommunikation, seinen Austausch mit Fedor Samarin und reflektierte zudem sein eigenes Handeln. Darüber hinaus belegt das Tagebuch, dass Jurij unter permanenter Beobachtung stand, über wenig Freiräume verfügte und seine Entwicklung den klaren Vorgaben und Werten seiner Eltern zu folgen hatte – heute würde man diese wohl als Helikopter-Eltern bezeichnen.
Einige Schlaglichter zeigen im Folgenden exemplarisch, was wir aus dem Tagebuch erfahren und inwiefern die Einträge unser Wissen über die russische adlige Kindheit erweitern können.
Struktur und Inhalt des Tagebuchs
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Pako hat das Tagebuch entsprechend der auf John Locke John Locke John Locke (1632–1704) war ein englischer Philosoph. Nach Studium (Philosophie, Naturwissenschaften und Medizin) und Lehrtätigkeit in Oxford entwickelte er großes Interesse an politischen Fragen. Er bekleidete verschiedene Staatsämter, arbeitete aber auch als Arzt und Erzieher. Zu seinen Werken zählen „Zwei Abhandlungen über die Regierung“, „Ein Essay über den menschlichen Versand“ sowie die pädagogische Schrift „Gedanken über die Erziehung“. zurückgehenden Trias Physique, Morale, Intellectuel/Instruction in drei Spalten unterteilt. Die Einträge sind nicht immer gleichmäßig verteilt und die Schwerpunkte variieren nach Alter des Kindes, der Jahreszeit bzw. den Aktivitäten der Familie oder externen Ereignissen. In größeren Abständen erfolgte die Bewertung der Entwicklung des Kindes sowie eine Einschätzung des Lernerfolgs.
In der ersten Spalte Physique hielt der Hauslehrer den Aufenthaltsort der Familie und die Mobilität der einzelnen Familienmitglieder fest, verwies auf besondere familiäre Ereignisse (wie z. B. Geburten, das Begehen von Feiertagen), die Pflege sozialer Kontakte oder auch zentrale politische Geschehnisse wie der Tod des Zaren Alexanders I. im Jahre 1825. Weiteren Raum nahm alles im strengen Sinne die Physis Betreffende ein: Körperpflege, Schlaf, Träume und Ängste, sportliche Betätigung und Spiele, alltägliche Fortbewegung wie Spaziergänge und Kutschfahrten, Krankheiten und Befindlichkeiten. Dieses minutiös gelistete Interesse an Jurijs körperlicher Verfassung und gesundheitlichem Zustand entspricht den gängigen zeitgenössischen pädagogischen Vorstellungen und lässt sich im weiteren Sinne zudem in den seit dem 18. Jahrhundert auch in Russland wachsenden Bemühungen des Staats um die Gesundheit seiner Untertanen verorten.
Verhalten und Strafen
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Eine große Anzahl der Notizen spiegeln die intensive Auseinandersetzung des Hauslehrers mit dem sozialen Verhalten seines Zöglings wider. Sehr genau beobachtete er Jurijs Umgang mit den einzelnen Familienmitgliedern, Bediensteten und Gästen. Das Tagebuch offenbart, dass Jurijs Verhalten für die ganze Familie belastend sein konnte. Wutanfälle, Streitsucht, Störungen und unflätiges Benehmen bei Tisch, körperliche Übergriffe, Schimpfworte, Unverschämtheiten, Unaufmerksamkeit im Unterricht und verbale Attacken gegenüber seinem Umfeld waren an der Tagesordnung. Désobéissant, ungehorsam, reproche (Tadel) beziehungsweise reprocher (tadeln) sowie caprices (Capricen/Launen, Eigensinn) sind das dominante Vokabular vieler Eintragungen nicht nur in der Rubrik Physique, sondern auch in der Spalte Morale. Bestrafungen regelte der Hauslehrer nicht allein, sondern in engem Austausch mit Jurijs Eltern. Anhand des Tagebuchs lassen sich die Facetten eines permanenten Disziplinierungsprozesses nachvollziehen. Bestrafungen reichten von Zimmerarrest über Zuneigungsentzug bis hin zu regelmäßiger körperlicher Züchtigung:
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Er war ungehorsam. Seine Mutter hat ihm nicht verziehen, er hat wieder die Rute bekommen.3

Er hatte seine Launen und Wutanfälle während derer er mich schlug. Er hat die Peitsche bekommen. Diese Bestrafung hat großen Eindruck bei ihm hinterlassen: er gestand ein: ‚Ich hätte nicht gedacht‘, sagte er, ‚dass die Peitsche so schmerzhaft ist‘4

Beim Spiel hat er seine Schwester geschlagen und erhielt von seinem Papa die gleiche Anzahl an Ohrfeigen, die er gegeben hat, zurück.5

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Die akribischen Aufzeichnungen sind ein wichtiges Dokument hinsichtlich der Strafpraktiken adliger Familien im vorrevolutionären Russland. Ihre Aussagekraft geht aber noch darüber hinaus, da Vorstellungen von Disziplin und die Bestrafungspraktiken in den Familien eng mit den gesellschaftlichen Ansichten von Ordnung und dem vorherrschenden Menschenbild verbunden waren.
Verflochtene Welten
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Die Einträge in der Rubrik Instruction sind häufig stichwortartig gehalten und vermerken schematisch Jurijs „Lernalltag“. An vielen Stellen steht die Abkürzung id. (idem) für sich wiederholende Inhalte und Praktiken.6 Aufgelistet sind einzelne Fächer, Lernziele sowie die Bewertung bzw. Prüfungen der jeweiligen Leistungen. Je älter Jurij wurde, desto mehr Raum nimmt die Wissensvermittlung ein. Eingefügte Pläne belegen, dass der Tagesablauf des Kindes strikt geregelt und in der Abfolge von Unterricht, Mahlzeiten, Pausen und Spaziergängen zwischen 10 Uhr morgens und 20.30 Uhr am Abend eng getaktet war.
Der Unterrichtsstoff entsprach dem gängigen Bildungskanon. Interessant ist die Auseinandersetzung mit den Sprachen Französisch und Russisch in dem Tagebuch. Wie in vielen Adelsfamilien war Französisch die vorherrschende Sprache bei den Samarins, wenngleich auch Russisch gesprochen und korrespondiert wurde.
Jurij, dessen Erziehung nach ausländischem – französischem – Vorbild erfolgte, begann 1824 Französisch sowie Russisch zu lesen und zu schreiben. Hinsichtlich der Sprachen gab es klare Zuständigkeiten zwischen dem Hauslehrer und den Eltern. Pako war für die französische Lektüre zuständig, Jurijs Mutter und seltener auch der Vater lasen mit ihrem Sohn regelmäßig Russisch. Der Erfolg dieses Vorgehens war offensichtlich bescheiden, wie der Hauslehrer am 29. Dezember 1825 vermerkte: „Obwohl er in Russland ist, lernt er seine Sprache kaum“.7
 
Auf den ersten Blick schienen die Samarins zu den russischen Adligen zu zählen, die aufgrund ihres ausländisch geprägten Lebensstils auch als „Fremde im eigenen Land“ bezeichnet wurden. Die Frage nach der Verortung Russlands im Zusammenhang mit der Europäisierung der Oberschichten stellte sich verstärkt seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert.
Um die Russischkenntnisse ihres Sohnes zu verbessern, engagierte die Familie Samarin im Oktober 1826 zusätzlich einen russischen Hauslehrer, Nikolaj Nadeždin Nikolaj Nadeždin Nikolaj Nadeždin (1804–1856) war der Sohn eines Dorfgeistlichen, der am Seminar in Rjazan’ Literatur und Deutsch unterrichtete. Seit 1826 lebte er in Moskau und gründete 1831 die Zeitschrift „Teleskop“. Dort veröffentlichte er 1836 Petr Čaadaevs folgenreichen „Ersten Philosophischen Brief“, der die geistige Rückständigkeit Russlands im Vergleich zu Westeuropa anprangertе. Zar Nikolaus I. ließ daraufhin Čaadaev für wahnsinnig erklären, den „Teleskop“ schließen und Nadeždin in die Verbannung nach Nordwestrussland schicken. . Die Unterrichtszeit des Kindes wurde fortan zwischen den Lehrern tageweise aufgeteilt. Im Tagebuch vermerkte Pako zudem:

Gerade weil er nicht genug Russisch spricht, weil er nicht ausreichend viel Zeit mit seinem Russischlehrer verbringt, wurde beschlossen, dass für einige Monate meine Präsenz in seiner [Jurijs, KK] Nähe vom Aufstehen bis zum Schlafengehen durch M. Nadejedine ersetzt wird. In der Konsequenz bedeutet dies, dass M. Nadejedine sich bei ihm niederlassen wird.8

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Die Dominanz des Französischen schien allerdings durch diese Bemühungen nicht gebrochen worden zu sein: Jurij Samarin erinnerte sich viele Jahre später daran, dass er in der Aufnahmeprüfung für die Moskauer Universität wie viele seiner adligen Kommilitonen schwere orthografische Fehler im Russischen machte.9
 
Dennoch belegt das Tagebuch die stetigen Bemühungen in der Familie, ihre Kinder in der russischen Sprache und Kultur zu beheimaten, bei alltäglicher Nutzung des Französischen. Damit waren sie wie viele russische adlige Familien von einem unkomplizierten „kulturellen Bilingualismus“ gekennzeichnet. Diesen Begriff hat die amerikanische Historikerin Michelle Marrese geprägt und festgestellt, dass die „Vertrautheit mit russischen und westlichen Lebensstilen es den Adligen ermöglichte, in variierender Intensität an der Europäischen Kultur teilzuhaben, ohne sich dem Gefühl, zu Russland zu gehören, zu entziehen […].“10 In diesem Kontext lässt sich auch Jurijs Kindheit und die anderer seines Standes besser verorten. Sie bestand nicht, wie man zunächst meinen könnte, aus zwei Welten, einer russischen und einer „fremden“, sondern war ein Raum, in dem verschiedene kulturelle Parameter zu dem verschmolzen, was adlige russische Kindheit ausmachte. Für Jurij war es alltäglich, sprachliche und kulturelle Kontexte zu wechseln; das heißt, sich vormittags mit französischer Lektüre und lateinischen Übersetzungen zu befassen und nachmittags mit der Mutter russische Texte zu lesen und die Freiheiten des Landlebens in der russischen Provinz zu genießen. Seine Kindheit lässt sich als transnational und verflochten kategorisieren und zeigt, dass vermeintliche Gegensätze sich bei genauem Hinsehen in einer Synthese auflösen können.