Bis zum 19. Jahrhundert entwickelte sich das Eislaufen zu einer Modebeschäftigung der höheren Bevölkerungsschichten. Die Schlittschuhbahn wurde Bestandteil des öffentlichen Raumes. An ihr lassen sich soziale Hierarchien, moralische Werte und Vorstellungen von Geschlecht ablesen. Auch im Baltikum nahm das Schlittschuhfahren einen festen Bestandteil im Leben der deutschen Bevölkerungsgruppe ein, wie zahlreiche Lebenserinnerungen belegen. Doch warum spielte es in der Zeit des Erwachsenwerdens eine solche Rolle, dass es schriftlich festgehalten wurde?
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Das Schlittschuhlaufen ist traditionell nordeuropäische Erfindung. Ausgehend von einem rein nützlichen Charakter entwickelte sich das Eislaufen im Laufe der Geschichte zu einem Vergnügungs- und Sportvertreib. Bis zum 19. Jahrhundert sollte es schließlich überall dort, wo Winter mit Frost verbunden war und Eisflächen entstehen konnten, zu einer Mode der höheren Bevölkerungsschichten werden. Im deutschsprachigen Raum trug zur Verbreitung dieser aufkommenden Mode schon früh der Dichter Friedrich Gottlieb Klopstock mit seiner Ode auf den Eislauf von 1767 bei, in der er das Eislaufen mit dem Tanz auf dem Eis gleichgesetzte:

…Unsterblich ist mein Name dereinst! / Ich erfinde noch dem schlüpfenden Stahl / Seinen Tanz! Leichteren Schwungs fliegt er hin, / Kreiset umher, schöner zu sehn. / …1

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Der Begeisterung für das Schlittschuhfahren lässt sich auch im Baltikum, in den Ostseeprovinzen des  Russländischen Reiches
Russländisches Kaiserreich
Nach Ende des Großen Nordischen Krieges im Jahr 1721 wurde das Zarentum Moskau durch Peter I. (1672–1725) zum Kaiserreich erhoben, das bis zur Februarrevolution 1917 existierte. Während im Deutschen bislang überwiegend vom „Russischen Kaiserreich“ gesprochen wurde, setzt sich aktuell in der Forschung vermehrt die Bezeichnung „Russländisches Kaiserreich“ durch. Sie übersetzt den offiziellen russischen Namen „Rossijskaja Imperija“ präziser, da sich das Adjektiv „rossijskij“ auf die Landesbezeichnung „Rossija“ („Russland“) bezieht - im Gegensatz zum Adjektiv „russkij“, das sich auf ‚ethnisch‘ russische Gegenstände (Sprache, Kultur) beziehen würde. Mit der Bezeichnung des Reiches als „Russländisches Kaiserreich“ wird damit auch verstärkt berücksichtigt, dass es sich um einen kulturell vielfältigen imperialen Staat handelte, der seine Herrschaft über eine Vielzahl unterschiedlichster Bevölkerungsgruppen ausübte. Übersetzt man die offizielle Staatsbezeichnung „Rossijskaja imperija“ als „Russisches“ statt „Russländisches Reich“, erweckt es den Anschein, man folge dem Duktus russischer Nationalisten und möchte die Herrschaft der Russen über andere Ethnien innerhalb des Imperiums als legitim darstellen.
, nachspüren. In zahlreichen autobiografischen Schriften werden die Erlebnisse auf der Eisfläche geradezu schwärmerisch festgehalten.
Aus der Vielzahl der vorhandenen autobiografischen Schriften werden im Folgenden neun publizierte Texte vorgestellt. Es handelt sich um sieben Erinnerungen von Männern, zwei von Frauen, in denen die Verfasser:innen ihre Wintererlebnisse ausführen. Die geschilderten Erfahrungen auf dem Eis stammen aus dem ersten Drittel des 19. Jahrhunderts und reichen bis in das 20. Jahrhundert hinein. Es dominiert der retrospektive Blick auf die eigene Schul- und Studentenzeit in 
Tallinn
deu. Reval

Tallinn (bis 1918 Reval) ist die Hauptstadt Estlands. Sie liegt im Kreis Harju, direkt an der Ostsee und wird von ca. 434.000 Menschen bewohnt.

Tartu
deu. Dorpat, rus. Jurjew, rus. Дерпт, rus. Derpt, rus. Юрьев, deu. Dörpt

Tartu (Einwohnerzahl 2023: 97,435) ist die zweitgrößte Stadt Estlands. Sie liegt im Südosten des Landes und damit im Norden der historischen Landschaft Livland. Aus geografischer Sicht befindet sich Tartu nahezu mittig zwischen den zwei größten Seen des Landes, dem Võrtsjärv (Wirzsee) und dem Peipussee, den sich Estland mit der Russischen Föderation teilt.

Tartu ist seit Jahrhunderten ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt und ein traditionsreiches Bildungszentrum, das berühmt ist für seine 1632 und damit noch unter schwedischer Herrschaft gegründete Universität. Sie ist bis heute die größte Universität Estlands und Mitglied der Coimbra-Gruppe, einem Netzwerk besonders traditionsreicher und international herausragender europäischer Universitäten. Gleichzeitig ist Tartu auch Standort zahlreicher Museen, darunter des Estnischen Nationalmuseums und des Estnischen Literaturmuseums.

Jelgava
eng. Jelgava, rus. Μитава, deu. Mitau, rus. Елгава, pol. Jełgawa

Jelgava ist eine von zehn Republik-Städten in Lettland in der Region Semgallen (Zemgale). Die heute etwa 60.000 Einwohner zählende Stadt liegt 44 km südwestlich von Riga und war bis 1919 Hauptstadt von Kurland. Als solche war sie adelig geprägt und erlebte im 17. Jahrhundert eine wirtschaftliche Blüte, als Kurland kurzzeitig sogar Kolonien in Gambia und Tobago besaß. Ein wichtiges Bildungszentrum wurde die Stadt ab 1775 mit der Errichtung der Academia Petrina durch Herzog Peter Biron, dessen Vater zwischen 1738 und 1772 das Schloss Mitau (lett. Jelgavas pils) an der Stelle der 1265 erbauten Ordensburg errichten ließ. Es folgten 1815 die Gründung der Kurländische Gesellschaft für Literatur und Kunst und 1818 des Kurländischen Provinzialmuseums. Heute ist Jelgava Standort der Landwirtschaftlichen Universität Lettlands, die ihren Sitz im Schloss Mitau hat.

Das Bild zeigt eine historische Postkarte aus der Zeit um 1900, abgebildet ist das Kurländische Provinzialmuseum (Kurzemes Provinces muzejs) in Jelgava/Mitau (Copernico/CC0 1.0).

 und 
Rīga
deu. Riga, lat. Riga, lit. Ryga, dan. Riga, swe. Riga, yid. rygʿ, yid. ryga, yid. ריגע, pol. Ryga, rus. Riga, rus. Рига

Riga ist die Hauptstadt Lettlands (Bevölkerungszahl 2023: 605.273) und zugleich die mit Abstand größte Stadt des Landes. Sie liegt im Südwesten der historischen Landschaft Livland nahe der Mündung des Flusses Düna (lett. Daugava) in den Rigaischen Meerbusen. Riga war eine bedeutende Handels- und Hansestadt mit einer über Jahrhunderte hinweg einer multiethnischen, doch größtenteils deutschsprachigen Bevölkerung, deren politische Oberherrschaft wiederholt wechselte. Waren es bis zum Ende des Mittelalters vor allem geistliche Herrscher (Erzbistum Riga, Deutscher Orden), die Stadt und Umland für sich beanspruchten, kam die Stadt nach kurzer polnisch-litauischer Herrschaft 1621 zu Schweden. Bereits ein Jahrhundert später wurde Riga Teil des Russländischen Reiches und hier zur Hauptstadt des Ostseegouvernements Livland.

1918 wurde Riga Hauptstadt eines unabhängigen lettischen Staates. Nach der deutschen Besetzung im Zweiten Weltkrieg 1941 wurde die jüdische Bevölkerung Rigas (8% der Gesamtbevölkerung) vor allem im Ghetto eingesperrt, in das auch zahlreiche jüdische Menschen aus dem damaligen Gebiet des Deutschen Reichs deportiert wurden. Noch im selben Jahr organisierte die Wehrmacht Massenerschießungen der jüdischen Bevölkerung auf dem Gebiet der heutigen Stadt. Nach dem Zweiten Weltkrieg änderte sich die ethnische Struktur von Riga – die jüdische, deutsche und polnische Bevölkerung verschwand, und an ihre Stelle traten die russische, weißrussische und ukrainische Bevölkerungsgruppen. Die lettische Bevölkerung verlor ihre Mehrheit in der Stadt, und sank bis zum Zerfall der Sowjetunion auf fast ein Drittel. Inzwischen beträgt ihr Anteil 47% der Gesamtbevölkerung.

.
In dem Versuch, verschiedene Stimmen der deutschen Minderheit aufzugreifen, werden sowohl Betrachtungen von Männern und Frauen ‚bürgerlicher‘ als auch adeliger Herkunft präsentiert. Allesamt stammen – bedingt durch die vorhandene Quellenlage – aus der gesellschaftlichen Oberschicht. Die gesellschaftliche Dominanz der deutschen Oberschicht wird in den folgenden hegemonialen interethnischen Zuschreibungen, in der Segregation von den estnischen und lettischen Nachbarn, deutlich. Insbesondere Eislaufszenen aus der Kindheit, der ‚Jugend‘ und dem frühen Erwachsenenalter sind es, die die Erinnerungen lichter machen. Die Attraktivität der Eisfläche spiegelt sich vor allem in den Erfahrungen wider, die auf dem Eis mit dem ‚anderen Geschlecht‘ gemacht wurden. Die Schlittschuhbahn, so scheint es, bot den Raum für Begegnungen und weniger stark reglementierte Kommunikation. Der Vergleich mit dem Tanzparkett – als der vorgegebene geschlossene Raum für gesellschaftlich kontrollierten Austausch zwischen Jungen und Mädchen bzw. Männern und Frauen – wurde oftmals von den Berichtenden selbst gezogen.
Die positive Konnotation des Schlittschuhlaufens lässt sich im umgekehrten Sinne auch bei denjenigen nachzeichnen, die dessen nicht mächtig waren. Sie, wie beispielsweise der 1807 geborene, adelige Alexander Archibald Igelström, sprechen in ihrem reiferen Erwachsenenalter ganz offen von einem persönlichen Erfahrungsverlust. Igelström reflektiert über die 1820er Jahre:
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Am Wasser auf dem Lande aufgewachsen, verstand keiner von uns [Kindern] zu schwimmen oder Schlittschuh zu laufen, es ward eben nicht erlaubt und wohl wahrscheinlich, weil wir keine Aufsicht und Anleitung hatten.2

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Für alle späteren Jahrgänge scheint sich dagegen das Schlittschuhlaufen als Bestandteil des Erziehungskanons verfestigt zu haben. Ab dem Zeitpunkt, an dem Kinder eine schulische Erziehung in der Stadt erhielten, war das Schlittschuhlaufen Teil des institutionellen Unterrichtskanons. Dies berichtet etwa der 30 Jahre später als Igelström geborene Eduard von Dellingshausen. Anders als Igelström erhielt von Dellingshausen eine Schulbildung. Er besuchte die Revaler Domschule, ein Gymnasium für Jungen des estländischen Adels, an dem das Schlittschuhfahren als die traditionelle Winterbeschäftigung der Schüler überhaupt gesehen wurde:
„Die Domschule hatte seit uralten Zeiten jeden Winter im Graben, der sich im Norden am Domberge hinzieht, ihre Schlittschuhbahn.“3
Und weiter:
„Fichtenbäumchen schmückten die Eisfläche, einige Schutzhütten […] ein für die Musik ausgesparter Raum – das war alles und doch bedeutete diese Schlittschuhbahn für uns Schüler viel.“4
Was genau den Schülern an der Eisfläche so wichtig war, erklärt der Verfasser wenige Zeilen später. Demnach diente das Eis nicht nur der sportlichen Betätigung, sondern fungierte auch als gesellschaftlicher Treffpunkt und als Ort, um in Kontakt mit jungen Frauen zu treten. So spielte auf dem gefrorenen Gelände am Gymnasium jeden Sonntag eine Musikkapelle, deren Musik zum Tanz einlud. Und auf Eiskufen oder in Gummischuhen wurde allwöchentlich im Winter dem Aufruf der Musikkappelle gefolgt und getanzt. Diese halböffentliche Veranstaltung gab
„den Schülern die Gelegenheit, sich in der Unterhaltung mit Damen zu üben.“5
Die Attraktion dieser Tanzvergnügen erhöhte sich für die jungen Männer auch dadurch, dass sie sich auf der Eisfläche zuhause wähnten. Schließlich waren sie es – die Revaler Domschüler –, die die Schlittschuhbahn pflegten und ihre Nutzung organisierten:
„[W]ir fühlten uns als die Hausherren und konnten unseren Gästen ritterliche Dienste erweisen.“6
Die anklingende Ungezwungenheit auf dem Eis existierte jedoch nicht. Die „ritterlichen Dienste“ verweisen schon auf einen Kodex, der in der estländischen adeligen Gesellschaft herrschte. Zum einen gab es klare ethnische und soziale Vorgaben, in denen festgelegt wurde, wer überhaupt das Eis betreten durfte, zum anderen gab es Vorgaben in dem Umgang und in der Kommunikation mit den Gästen – den jungen Frauen. Der Träger der Domschule war zu dieser Zeit, Mitte des 19. Jahrhunderts, die Estländische Ritterschaft. Also die Institution, die Administration, Justiz, Politik und Kultur dominierte und gesellschaftliche Orientierung und Vorgaben machte. Es verwundert daher nicht, wenn sich dieser gesellschaftliche Kanon auch in der Schule und auf dem Eis hierarchisch widerspiegelte.7 Auch bestanden fest formulierte hierarchische Verwaltungsstrukturen, mit denen die Benutzung der Eisfläche reglementiert wurde.
Von Dellingshausen berichtet darüber so genau, weil er in seinem letzten Schuljahr der von seinen Mitschülern gewählte „Schlittschuhbahnvorsteher“ wurde. Eine seiner Aufgaben bestand darin, während der Zeit der Landtage, wenn sich der Adel in Reval zusammenfand, Feste auf dem Eis auszurichten. Mit dieser Aufgabe trug er eine große gesellschaftliche Verantwortung, ging es doch darum, den gesamten estländischen Adel der Provinz in seinen Ansprüchen zufriedenzustellen und zugleich die eigene Schule würdig zu repräsentieren.
Ebenso wie von Dellingshausen, nur gute 40 Jahre später, verbrachte der 1873 geborene Leonhard von Krusenstjern seine Schulzeit in Reval. Seine Erinnerungen an die „Eisbahn“8 stammen aus einer Zeit, als von Krusenstjern die zweitletzte Klasse des Gymnasiums besuchte.
„Bei uns älteren Schülern galt es als Ehrensache, im Winter immer auf der Eisbahn zu sein, sobald man dazu Zeit hatte.“9
 
Die Begegnungen mit jungen Frauen hob auch von Krusenstjern in seiner Rückblende hervor. Wie zuvor von Dellingshausen spricht er die Rolle der Schüler als Gastgeber an. Neu ist allerdings bei dieser Schilderung, dass die Domschüler die jungen Frauen berühren, ja, ihnen beim An- und Ausziehen der Schuhe behilflich waren. Auch, dass hierbei eine klare Handlungsabsicht intendiert war, wird jetzt erstmals angesprochen.
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Man kam auf die Schlittschuhbahn, um für das Wohlbefinden der jungen Damen zu sorgen, ihnen die Schlittschuhe an- und abzuschnallen, mit ihnen Paar zu laufen und natürlich auch um zu flirten.10

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In der Praxis bedurfte es zum „Flirten“ allerdings einigen strategischen Geschicks, denn nach wie vor existierten Ende des 19. Jahrhunderts die gesellschaftlichen Regeln der Kommunikation zwischen (jungen) Männern und (jungen) Frauen, die einzuhalten waren:
„Da es damals des Anstandes wegen unerläßlich war, mußte mindestens immer eine Mutter zugegen sein und meistens frieren. An die Mütter machte man sich natürlich auch heran und unterhielt sich mit ihnen, damit sie es nicht langweilig hätten. Glaubte man da das Seinige genügend getan zu haben, so winkte man unauffällig einen Kameraden herbei, der dann den Dienst bei der Mutter weiter tat."11
Der Handlungsraum auf der Eisbahn war demnach für junge Frauen deutlich bewachter als der für junge Männer, die hier frei, wenngleich im Rahmen eines festen Regelwerks, agieren und eben flirten konnten. Das entsprach den zeitgenössischen Vorstellungen einer Bipolarität der Geschlechter. Frauen wurden in dieser Betrachtungsweise zu passiv, Männer zu aktiv Gestaltenden. Die – im 19. Jahrhundert – gerne gebräuchliche Zuweisung, nämlich die „Natur“ der Frau, beruhte nicht zuletzt auf rechtlichen Vorgaben, in denen Frauen Zeit ihres Lebens Vormünder – sei es der Vater, der Ehemann oder ein Onkel bzw. Bruder – benötigten.
Wie viele andere seiner Zeitgenossen knüpft auch von Krusenstjern die Nennung der Eisbahn direkt an seine Schilderungen von Tanzgesellschaften. Die Eisbahn und das Tanzparkett werden als ähnliche und oftmals die einzigen Erfahrungsräume benannt, in denen ein Austausch unter den Geschlechtern möglich gewesen sei.
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Die Begeisterung für das Eis teilte ebenfalls der 1879 geborene Otto Freiherr von Taube. Auch er verband Schlittschuhlaufen mit „gesellige[m] Getreibe“ und auch er konnotierte den Zeitvertreib positiv, mit Genuss. Und dies, obwohl er sich selbst als einen schlechten Läufer bezeichnete. Er ist wohl der einzige, der körperliche Einschränkungen und die Folgen der Kälte in Form von Frostbeulen benannte. (Beide Aspekte hielten ihn jedoch nicht vom Schlittschuhlaufen ab!) Von Taubes Erfahrungen ergänzen die Schilderungen von Dellingshausens. Beide sprechen aus der Perspektive eines Revaler Gymnasialschülers. Und beide kommen zu dem Schluss, dass die höheren örtlichen Schulen im Winter ganz unter dem Zeichen des Schlittschuhfahrens standen.
„In Reval hatte eine jede höhere Schule ihre eigene Schlittschuhbahn, auf der die betreffende Schülerschaft bisweilen Abendfeste bei Fackelbeleuchtung, bunten Lampen und Feuerwerk veranstaltete.“12
Von Taube selbst kam aufgrund seines jungen Alters nie in den Genuss, an einer solchen Veranstaltung teilzunehmen. Er lief daher immer auf der städtischen, öffentlichen Schlittschuhbahn. Hier traf er sich mit Jungen seines Alters und gemeinsam ärgerten sie andere Jungengruppen wie „die Russenjungen“ mit dem selbst verfassten Spottreim:
„Mongolen und Tataren / Uns stets ein Greuel waren. / Tataren und Mongolen, / Die soll der Teufelholen.“13
Damit schildert von Taube erstmals auch interethnische Kontakte. Die Auseinandersetzung mit Mädchen ist für ihn – vermutlich aufgrund seines jungen Alters –  nicht so interessant wie die ethnisch-nationale Abgrenzung zu anderen schlittschuhfahrenden Kindern.
Die Reflektionen eines weiteren Eisläufers, Wolfgang Wachtsmuth, belegen, dass dem Schlittschuhlaufen in allen Ostseeprovinzen ähnlich viel Bedeutung beigemessen wurde. Er, Jahrgang 1876, schildert es in der Rückbetrachtung auf seine Schulzeit als Gymnasiast in Mitau  und aus der Perspektive des späteren Lehrers, der die Pflichten und Tätigkeitsfelder der Schüler wiedergeben will. Beispielsweise stellt er die Leitung der Schlittschuhbahn seines Gymnasiums als ein Arbeitsfeld für die Selbstbetätigung der Schülerschaft heraus:
„Im Winter stand die Schlittschuhbahn auf der Drixe [dem lokalen Fluss] im Mittelpunkt des Interesses.“14
Wachtsmuth gewährt einen kleinen Einblick in die Verwaltung von schulischen Schlittschuhbahnen. Beispielsweise existierten neben dem „Schlittschuhbahn-Direktor“ so genannte Ordner, die alle mit Schleifen versehen und gut erkennbar waren. Sämtliche Funktionen wurden von Schülern übernommen. Unklar ist, ob sie gewählt oder in anderer Form erkoren wurden. Für alle Mitwirkenden galt jedenfalls, dass sie als Respektpersonen „hochangesehen“15 waren. Außerhalb der Schulzeit, in den Ferien, wurden die Posten von der studentischen Verbindung „Curonia“ (die deutschbaltische Verbindung von Männern aus 
Kurland
eng. Courland, lav. Kurzeme, rus. Kurljandja, rus. Курляндия, lat. Curonia, lat. Couronia, swe. Kurland, dan. Kurland, lat. Curlandia, pol. Kurlandia, rus. Kuronija, rus. Kuroniâ, rus. Курония, rus. Kurzeme, rus. Курземе, rus. Kurlândiâ, rus. Kurliandii︠a︡

Kurland ist eine historische Landschaft des heutigen Lettlands. Sie erstreckt sich zwischen der Ostsee und dem Rigaischen Meerbusen sowie dem Fluss Düna im Nordosten und Litauen im Süden. Ihr Name leitet sich von den baltischen Kuren ab, die hier an der Seite der ugrofinnischen Liven lebten. Zu den größten Städten Kurlands gehören Liepāja, Jelgava und Ventspils.

Das heutige Verständnis der Region ist unter anderem durch das russländische Ostsee-Gouvernement Kurland geprägt, das ab 1795 und formal bis 1918 bestand. Dazu gehörten eigentlich noch die kleineren Regionen Semgallen und Oberlettland, die den zentralen bzw. östlichen Teil des Gouvernements bildeten. Sie sind heute vielfach mitgemeint, wenn im historischen Zusammenhang von Kurland gesprochen wird. Im Hochmittelalter kreuzten sich hier die Einflüsse der ugrofinnischen und baltischen Völker einerseits und der Wikinger andererseits. Im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit stand die Region auch unter der Herrschaft Schwedens, Dänemarks und vor allem des Deutschen Ordens. Durch den Druck Russlands und Schwedens zog sich der Orden letztendlich aus dem Gebiet zurück. Kleinere Teile Kurlands wurde anschließend in Polen-Litauen eingegliedert. Der größte Teil blieb bis 1795 als Herzogtum Kurland und Semgallen ein Lehen Polen-Litauens. Auch wenn der russische Einfluss allmählich zunahm, wurde Kurland erst mit der Dritten Teilung Polen-Litauens 1795 Teil des Russländischen Reich - deutlich später als die weiteren beiden Ostseegouvernements Estland und Livland, die bereits im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) unter russische Herrschaft gekommen waren.

) übernommen.

Den grün-blau-weißen Deckel auf dem Kopf, hohe ‚Schneegaloschen‘ an den Füßen. Die Allerfeinsten den ‚Kaisermantel‘ mit weitem Kragen um die Schultern geworfen – so wandelte der stilvolle Student gemessenen Schrittes die Bahn auf und ab und stieß die Auserwählte im leichten Stuhlschlitten vor sich her.16

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Über die Mitauer Eisbahn verfügten demnach zwei Autoritäten: Das deutschsprachige Jungengymnasium und die deutschbaltische studentische Verbindung. In beiden Fällen handelte es sich um die männlichen Mitglieder der deutschen Bevölkerungsgruppe. Und sowohl die jüngeren als auch die etwas älteren Eisläufer nutzen die Fläche für Zusammenkünfte mit Mädchen oder jungen Frauen. Anders jedoch als die zuvor zitierten Darstellungen scheinen die Studenten und ihre Eispartnerinnen nicht auf Kufen gestanden zu haben. Die Männer trugen eine Art Überziehschuh, um sich auf dem Eis halten zu können; die Frauen dagegen hatten den passiven Part inne und wurden sitzend geschoben. Laut Wachtsmuth existierte gleichwohl auch die Gruppe der Schlittschuhläufer, aber
„Nur die Kunstläufer, die sich sehen lassen konnten, pflegten während der belebten Besuchszeit sich Schlittschuhe anzuschnallen.“17
Möglicherweise war eine Verabredung zwischen Studenten und jungen Frauen auf dem Eis in Kufen nicht angemessen und widersprach den Umgangsformen des Beisammenseins von Mann und Frau. Außerdem bedurfte es einigen Geschicks, den mit Eisen beschlagenen Stuhlschlitten, auf dem die Frauen saßen, zu lenken und parallel dazu ein Gespräch zu führen.
Wachtsmuths Darstellung ist die einzige, in der von einer separaten Nutzung der Eisbahn die Rede ist. Genau sind seine Angaben zu den Ritualen der Eisbelegung. So wurde die jährliche Ablösung durch die Studenten als öffentlicher Akt gefeiert: Die Studenten hatten „ihren großen Tag […], wenn sie in den Weihnachtsferien ‚die Musik stifteten‘. Dann spielte auf ihre (oder richtiger: auf ihrer Väter) Kosten eine Militärkapelle, die Studenten traten in geschlossenem Zuge an und wurden – schon beim Erscheinen […] – mit dem gebührenden Tusch empfangen."18
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Sehr viel persönlicher sind die Aufzeichnungen des zwanzig Jahre später, 1895, geborenen Oswald Hartge. Seine Schilderung von den Wintern stammt aus der 
Estland
eng. Eestimaa, est. Eestimaa, lat. Hestonia, swe. Aistland, deu. Iste, lat. Aisti, lat. Aesti, dan. Estland, eng. Esthonia, lat. Estia, lat. Hestia, swe. Eistland, swe. Estlatum, swe. Estland, deu. Esthland, rus. Estljandija, rus. Ėstljandija, rus. Èstlândiâ, rus. Эстляндия, deu. Aestii, eng. Estland

Estland ist eine historische Landschaft in Nordosteuropa, die den nördlichen Teil des heutigen estnischen Staates umfasst. Die Region ist weitgehend deckungsgleich mit dem gleichnamigen Ostseegouvernement des Russländischen Kaiserreichs, das bis 1918 bestand - und neben Livland und Kurland eines von insgesamt drei Ostseegouvernements bildete. Im Hoch- und Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit hatten Teile der Region auch unter der Herrschaft finnischer Fürsten, der Rus, Schwedens, Dänemarks und des Deutschen Ordens gestanden. Erst im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700-1721) kam Estland unter russische Hoheit. Insbesondere seine Stadtbevölkerung war deutschsprachig, wobei die meisten Menschen auf dem Land lebten. Hier bildeten sich neben der estnischen Mehrheit auch russische und schwedische Minderheiten.

, aus Dorpat. Sie ist präziser als die meisten Reflektionen. Vielleicht, weil der Beginn seiner Eislaufzeit schon in sehr jungen Jahren erfolgte, gibt er sogar den Zeitpunkt an, an dem er das Eislaufen erlernte. Im Alter von fünf Jahren erhielt Hartge seine ersten Schuhe mit Eiskufen: „[…] nicht etwa die damals modernen vernickelten ‚Schneewittchen‘ mit einer keck nach oben gebogenen Spitze, auch nicht die gewöhnlichen ‚Halifax‘, die mit einer Feder vorn festgemacht und hinten mit einem Riemen festgeschnallt wurden, sondern ganz urzeitliche, die an der der Fußspitze und am Hacken mit Riemen festgeschnallt wurden."19
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Hartge gibt aber nicht nur Einblick in die um 1900 bereits bestehende Vielfalt an Schlittschuhmodellen, er erwähnt die Schlittschuhe seiner Kindheit ebenfalls, um auf die Erziehungsmethode seines Vaters hinzuweisen. Die scheint auf den ersten Blick besonders hart gewesen zu sein, denn der von Hartge so vermisste Halifax-Schlittschuh war bereits seit den 1860er Jahren sehr in Mode. Der Vater hatte jedoch mit Absicht das genannte, wackelige Modell gewählt, damit sein Sohn den richtigen Stand erlernen und einen guten Gleichgewichtssinn schulen konnte. Der Vater selbst, der fast ein halbes Jahrhundert vor seinem Sohn, in den 1860er Jahren, das Schlittschuhlaufen erlernt hatte, hatte wohl noch schlechtere Kufen tragen müssen, nämlich so genannte „Strittschohe“ nach holländischem Muster.20 Hier war die „Eisenschneide […] in eine hölzerne Sohle eingefügt, die am Hacken einen Dorn hatte, der in den Stiefelhacken getreten wurde. Vorne wurde der Schlittschuh mit einer Zuckerschnur angebunden oder mit einem Riemen angeschnallt."21
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Den Unterricht des Schlittschuhfahrens übernahm Hartges Vater selbst, handelte es sich bei der Betätigung doch um eine Familientradition, die unter den männlichen Familienmitgliedern weitergereicht wurde. Zur Belohnung für gutes Training erhielt Hartge von seinem Vater in späteren Jahren als Schuljunge „die besten bei der Firma Brock vorhandenen Schlittschuhe“ mit dem Markennamen „Yachtclub“.22 Mit ihnen, die fest angeschraubt wurden, war laut Hartge sogar der Kunstlauf möglich und der Unterricht konnte auf einem höheren Niveau erfolgen. Dennoch blieb Hartge noch ausreichend Zeit für das „jungenhafte Spiel“ auf dem Eis, bei dem mehr als 15 Jungen Fangen und Anschlagen spielten. Zwar sammelte Hartge keine Erfahrungen mit Mädchen – jedenfalls ist davon keine Rede –, aber auch er kann von Reglementierungen auf dem Eis berichten. Der Aufsicht führende Vater nämlich sorgte dafür, dass der Kontakt mit Jungen aus ‚einfachen‘ Familien nicht zu eng wurde. Eine Beziehung zu estnischen, aber auch gesellschaftlich niedriger stehenden deutschsprachigen Kindern, die auf öffentlichen Eisflächen anzutreffen waren, war nicht erwünscht.23
Der Blick auf die hinterlassenen autobiografischen Schriften macht deutlich, dass Erinnerungen an das Schlittschuhlaufen vor allem von Männern artikuliert wurden. Nur wenige Frauen berichten von ihren Erfahrungen auf dem Eis. Eine davon ist die 1860 geborene Emmy Seidel, geb. Loesevitz. Sie, die Nicht-Adelige, erinnert sich an ihre Kindheit im Rigaer Winter 1869/70. Wenngleich auch bei ihr das Schlittschuhlaufen neben den ersten Erfahrungen auf Tanzgesellschaften (so genannte Kinderbälle) in den Kontext der Interaktion mit Jungen gestellt wird, ist es Seidel in ihrer Darstellung wichtiger, grundsätzliche Aspekte der Erziehung kritisch anzusprechen. Ihre Erinnerungen heben sich in diesem Punkt durch eine deutlich größere Reflektiertheit ab. Seidel ist die einzige, die die Erziehung und die gesellschaftlichen Vorgaben für Mädchen im Umgang mit Jungen hinterfragt. Sie bemängelt die Separierung der Geschlechter im Alltag und hebt die daraus resultierende Unsicherheit und Steifheit bei Kontakten hervor. Für ihre Kritik zieht sie ein persönliches Erlebnis auf dem Eis heran, bei dem sie als Neunjährige alleine in Begleitung eines Jungen Schlittschuh lief. Als ein ihr unbekannter Junge sie auf ihren Eisgefährten ansprach, war sie entsetzt, denn der Unbekannte war davon ausgegangen, dass ihre Begleitung ein „Courmachers“24, also ihr Verehrer und künftiger Bräutigam, sei.
Die 15 Jahre später geborene und ebenfalls in Riga lebende Else Frobenius, geb. Gaehtgens, kann hingegen nicht von dergleichen Erfahrungen berichten. Sie erhielt durch ihren Vater eine sehr strenge Erziehung. Als Pastorentochter wurden ihr – zu ihrem großen Bedauern – viele Aktivitäten verboten. Darunter fiel auch das Schlittschuhlaufen, dass sie im Gegensatz zu ihren Schulkameradinnen nicht praktizieren durfte: „… mit Militärmusik im Eislauf wiegen“25 gemeinsam mit den männlichen Altersgenossen vom nahen Gymnasium hielt ihr Vater aus moralischen Gründen für nicht angemessen. Seine Tochter sollte nicht öffentlich in den unmittelbaren Kontakt mit jungen Männern treten – und dies schon gar nicht tanzend auf dem Eis.
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Dass die Eisfläche den Freiraum bot, in dem junge Männer näher an ihre Altersgenossinnen herantreten konnten als vielleicht von der Familie gewünscht, oder dass auf ihr der Platz war, um sogar zueinander zu finden, scheint – so zeigt das letzte Beispiel – in der Tat nicht abwegig gewesen zu sein. Von einer emotionalen, ja schicksalhaften Begegnung auf dem Eis erzählt der 1872 geborene Ernst von Hoyningen-Huene. Er, der von der estländischen Insel 
Ösel
swe. Ösel, lat. Osilia, est. Saaremaa, dan. Øsel, deu. Oesel

Ösel ist die größte Insel Estlands und grenzt den Rigaischen Meerbusen nach Nordwesten von der weiteren Ostsee ab. Zugleich ist sie die viertgrößte Ostseeinsel überhaupt.

 Kommende, war 1896 aus beruflichen Gründen nach 
Sankt-Peterburg
rus. Leningrad, deu. Sankt Petersburg, eng. Saint Petersburg, rus. Ленингра́д, rus. Петрогра́д, rus. Petrograd

Sankt Petersburg ist eine Metropole im Nordosten Russlands. In der Stadt wohnen 5,3 Millionen Menschen, was sie nach Moskau zur zweitgrößten des Landes macht. Sie liegt an der Mündung der Newa (Neva) in die Ostsee im Föderationskreis Nordwestrussland. Sankt Petersburg wurde 1703 von Peter dem Großen gegründet und war von 1712 bis 1918 die Hauptstadt Russlands. Von 1914–1924 trug die Stadt den Namen Petrograd, von 1924–1991 den Namen Leningrad.

 gezogen. In seinen Erinnerungen bezeichnet er unter der Überschrift „Erste Bekanntschaft mit Eurer Mutter“ die Schlittschuhbahn als den Ort, an dem er sich verliebte. Seine Schilderungen beziehen sich auf die Schlittschuhbahn am Taurischen Palais, auf der sich der Hochadel Nordeuropas vergnügte. Frauen, wie die spätere Kaiserin Marie, Tochter des dänischen Regenten Christian, die Kaiserin selbst oder andere – von Hoyningen-Huene unbenannte – „Großfürsten“ bewegten sich hier auf dem Eis. Das ganze gesellschaftliche Vergnügen wurde untermalt von Musik. Gleich mehrere Musikkapellen erhöhten durch „ihre flotten Weisen die Freude am Sport“. Aus der Sicht des Betrachters bestand das Besondere an der Schlittschuhbahn jedoch nicht an der Ausstattung und dem hohen Besuch, sondern darin, dass die Eisbahn nicht überall frei einsehbar war. So schloss sich der Seefläche ein Fluss mit einer Windung an, der sich durch den Park schlängelte und den Eislaufenden Möglichkeiten bot, sich außer Sichtweite den gesellschaftlichen Kontrollen zu entziehen. „Im abgelegenen ‚Tour du monde‘ hatten wir [seine spätere Ehefrau und von Hoyningen-Huene] die beste Gelegenheit, ungestört zu plaudern und uns näher kennen zulernen."26
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Das Schlittschuhfahren als Praxis für das Flirten stellte einen festen Bestandteil in den Kindheits- bzw. Schulerinnerungen vor allem von Jungen ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dar. Die Schlittschuhbahn diente als Raum für zwischengeschlechtlichen Austausch, als Treffpunkt für junge Männer und Frauen. In diesem Sinne wurde die Schlittschuhbahn als das weniger stark reglementierte Pendant des Balles bzw. Tanzparkettes wahrgenommen. Die oftmals ersten Erfahrungen mit dem anderen Geschlecht wurden auf dem Eis gesammelt und in ihrer Besonderheit fixiert. Auch Erwachsenen bot die Eisfläche eine weniger stark reglementierte Möglichkeit der zwischengeschlechtlichen Kontaktaufnahme. Und sieht man auf das Beispiel von Hoyningen-Huene, so können über erste emotionale Eindrücke auch eheliche Verbindungen entstehen.
Für die Festigung oder Entwicklung der eigenen geschlechtlichen Zugehörigkeit bietet daher der Mikrokosmos Schlittschuhbahn Raum für weitere Untersuchungen – der unter diesem Aspekt bislang zu Unrecht von der Forschung kaum beleuchtet worden ist.