Verschiedene Aussagen aus beiden Gruppen zeigen, wie stark ausgeprägt Fantasien über die Geschlechterverhältnisse im Ostblock unter Westdeutschen der Nachkriegszeit waren. Als beispielsweise in einer Gruppe von vierzehn Frauen in einem Müttererholungsheim das Gespräch auf das Thema ‚Osten‘ kam, erzählte eine Frau, Schäfer (Pseudonym), was ihr ein Bekannter über ihre Erfahrungen in „Russland“ erzählt hatte:
„Die Mütter und die Frauen – also das ist wirklich wahr – wenn sie ein Kind erwarten, sie sind alle in der Fabrik, nicht. Sie arbeiten bis zum letzten Tag. Da sind in der Fabrik Saele, da kommt der Arzt, nicht, sie werden untersucht, bis – wenn es eben nicht mehr geht – kommt sie hin, entbindet sich, das Kind wird ihr weggenommen und kommt dann in ein Heim, und die Mutter geht weiter arbeiten.“
Schäfers Einstellungen waren grundlegend in fantastischen Ideen über den Status der Frau und die Rolle des Staates bei der Gestaltung der Familie in Sowjetrussland verwurzelt. Für sie war diese dystopische Vision der Trennung von Mutter und Kind, die die Frau ihrer ‚natürlichen‘ Rolle als Mutter und Erzieherin beraubt und sie in entfremdende Formen der Arbeit zwingt, wenn sie unmittelbar nach der Geburt in die Fabrik zurückkehrte, das, was ‚den Osten‘ am deutlichsten vom ‚Westen‘ unterschied. Immer wieder taucht dieses Thema in den Gesprächen des Gruppenexperiments auf und verweist auf die Bedeutung von gender im Antikommunismus. Eine weitere Diskussion wurde mit einundzwanzig Frauen in einem Barackenlager geführt – einige von ihnen Ostvertriebene, einige von ihnen obdachlos, nachdem sie ausgebombt worden waren. Eine Frau aus dieser Gruppe, Illing genannt, zeigte sich ebenso entsetzt über die angeblichen Zustände in der DDR (oder, wie die Frauen sie damals noch nennen, die ‚Ostzone‘): „Die Frauen dürfen auch nicht mehr raus. Und dann ist das Schlimmste, die Maenner sind arbeitslos und die Frauen müssen auf den Bau schaffen, müssen Zweizentnersäcke schleppen usw. Das ist Maennerarbeit und nicht Frauen, und wenn die Frauen verunglücken, fragt keiner mehr danach, die kriegen keinen Pfennig Unterstützung oder sonst was. Und wenn man dann noch eine Frau mit Kindern ist, die kommt überhaupt nicht durch.“
Eine andere Frau schließt sich an und ruft: „Stimmt“, und eine dritte Frau behauptet: „So wie in Russland, da müssen die Frauen ja auch arbeiten, nicht.“
Das „Schlimmste“ an der DDR war für Illing, wie für einige ihrer Gesprächspartnerinnen, die vermeintliche Umkehrung der konservativen Geschlechterordnung, indem die Frau in eine traditionell männliche Rolle gedrängt wird. Ferner stehe diese imaginäre Entwicklung eindeutig im Widerspruch zu den ‚Naturgesetzen‘. Eine Teilnehmerin aus dem Müttererholungsheim erklärte, warum ihr gerade der „Fraueneinsatz“ in „Rußland“ suspekt sei:
„[...], denn die Frau wird mehr und mehr zur Arbeitsmaschine, und das ist gar nicht ihre Aufgabe in der Natur. Und mich kann das ungeheuer traurig machen, obwohl ich sonst gar nicht so veranlagt bin, wenn ich so etwas sehe und höre. Da müssen wir weg von diesen Dingen – also Frauen in die Fabrik usw. Die Frau ist ja überhaupt nicht dazu da, beruflich zu glaenzen. Es heisst ganz deutlich: Der Beruf und die Berufung.“
Die vorrangige Assoziation der Diskussionsteilnehmerinnen mit dem Sowjetblock war offensichtlich die Vorstellung, dass dort die ‚natürliche‘ Ordnung zwischen Männern und Frauen gestört worden war, eine Vorstellung, die ihre Identität als Frauen in Frage zu stellen schien. Die Frau hört in ihren Erzählungen auf, eine Frau zu sein, und nimmt stattdessen eine männliche Rolle an, wenn sie schwere Säcke trägt und auf einer Baustelle arbeitet, wenn sie von ihrem Neugeborenen getrennt wird, wenn sie nicht gemäß ihrer ‚natürlichen‘ Bestimmung lebt oder leben darf. Die Rolle, die Projektionen im deutschen Antikommunismus spielen, wird hier besonders deutlich: In einer Fabrik arbeiten zu müssen, ist genau das, was viele dieser Frauen während des Zweiten Weltkriegs erlebt hatten, als die Kriegsanstrengungen der Nazis die Frauen zur Arbeit anhielten und damit den Anspruch auf eine geschlechtsspezifische Arbeitsteilung aufhoben, die Frauen auf ihre ‚natürliche‘ Rolle als Mütter und Ehefrauen beschränkt.