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Gibt es eine osteuropäische Kindheit?
Die erste Antwort auf diese Frage ist einfach: Natürlich nicht. Denn die Idee einer irgendwie einheitlichen, kontinuierlichen und womöglich klar abgegrenzten Osteuropäischen Geschichte ist trotz ihres immensen institutionellen Rückhalts als akademische Disziplin, trotz Lehrstühlen, Handbüchern und Studiengängen längst gründlich widerlegt.
Es gibt keine Osteuropäische Geschichte, also auch keine osteuropäische Kindheitsgeschichte.
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In einem zweiten Impuls aber lohnt es sich, genauer über diese Frage nachzudenken, denn sie lenkt unsere Aufmerksamkeit auf die wichtige Frage, in welchen Einheiten Kindheitsgeschichte überhaupt gedacht werden kann. Das Forschungsfeld boomt, wie fast jede einschlägige Einleitung freudig und zu Recht feststellt. Dennoch, oder gerade deshalb, befindet sie sich in einer Phase des Suchens und der Orientierung. Eine wichtige Frage trifft den Kern des Forschungsfeldes: Gibt es überhaupt eine (im Singular zu denkende) Kindheitsgeschichte? Wenn dem nicht so sein sollte und wir uns für eine Pluralisierung des Themas entschieden, käme uns der Gegenstand nicht womöglich ganz abhanden? Wie gehen wir mit dem Kollektivsingular der Kindheitsgeschichte um, während gleichzeitig die empirische Forschung eine geradezu überwältigende Vielfalt des Umgangs mit kleinen Menschen zeigt? Welche Rolle spielen Eurozentrismus als Denkgewohnheit sowie Praktiken des Kolonialismus, der Disneyfizierung oder der weltweite Siegeszug des Kindergartens für die Verflechtungen und Hierarchien globaler Kindheiten? Wie können wir die Disziplin strukturieren? Welche Schwerpunkte setzen wir? Und schon ist Osteuropa als mögliche Einheit und als Teil Europas wieder im Spiel.
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Wenn Kindheitsgeschichte als Einheit gedacht und als lineare Erzählung verlangt wird, dann handelt es sich meist um die Geschichte einer Idee und einer Praxis, die seit der frühen Neuzeit in West- und Mitteleuropa als Element einer pädagogisch bestimmten Weltsicht entwickelt wurde, im späten 18. Jahrhundert mit neuen Ideen von Unschuld und Reinheit einen Höhepunkt erlebte und sich im 19. Jahrhundert konsolidierte – zumindest für die Gesellschaftsschicht, die sich den neuen Gedanken von einer geschützten Kindheit leisten konnte, also in erster Linie das Bürgertum. Hier entstand auch ein Maßstab, der für viele künftige Kindheitskonzepte von großer Bedeutung sein sollte, als Vorbild oder als Gegenmodell, nicht selten auch als beides.
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Kindheit ist eine Funktion gesellschaftlicher Strukturen, ein Abbild von Werten und Idealen, ein Instrument politischen Handelns. Sie ist eine soziale und kulturelle Variable. Die Einheiten, in denen wir Kindheit betrachten, sind somit historisch bedingt und hängen zudem entscheidend von den wissenschaftlichen Fragen ab, die wir formulieren. Die kindheitshistorische Forschung der letzten Jahrzehnte hat sich in Schwerpunkten entwickelt, an denen das wissenschaftliche Interesse deutlich wird, die den Bereich der Kindheitsgeschichte aber bei weitem nicht erschöpfen können. Denn Kindheitsgeschichte ist nicht auf bestimmte Themen begrenzt; Kinder gab und gibt es immer und überall. Historiker:innen müssen nur herausfinden, wie vergangene Gesellschaften mit diesem Fakt umgegangen sind, ob und wie sie Kindheiten ausgestaltet haben. 
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Im Rahmen der Disziplin der Osteuropäischen Geschichte findet die Auseinandersetzung mit historischen Kindheiten in verschiedenen Bereichen statt, die thematisch und geografisch unterschieden werden können. Als fast schon traditionell kann man zwei Forschungsbereiche nennen, die der Kindheitsgeschichte nahestehen, aber aus anderen Wurzeln erwachsen sind und eigene Fragen stellen: Die Familiengeschichte, die insbesondere für die Region Südosteuropa von großer Bedeutung war und ist, sowie die Geschichte der Schule, der vor allem in Ostmitteleuropa seit langem viel Raum gegeben wird. Kindheitsgeschichte im engeren Sinne hingegen, als Disziplin, die sich mit der gesellschaftlichen Ausgestaltung einer anthropologischen Konstante auseinandersetzt und nach Konzepten, Praktiken, Bildern fragt, entwickelt sich erst seit wenigen Jahren.
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Der eindeutig größte Schwerpunkt ist dabei geografisch bestimmt und liegt – angesichts der Russlandzentriertheit der Osteuropäischen Geschichte wenig überraschend – in Russland bzw. der Sowjetunion. Der Reiz für eine russische Kindheitsgeschichte des langen 19. Jahrhunderts scheint, ein wenig zugespitzt, vor allem in der Frage zu liegen, wie westliche, bürgerliche Kindheitskonzepte in Russland adaptiert wurden. Dagegen blickt die Analyse sowjetischer Kindheiten stärker auf das Andersartige: Insbesondere die frühsowjetische Pädagogik und Kindheitskultur interessieren als Gegenkonzepte zur bürgerlichen Kindheit. Stalinistische und spätsowjetische Kindheiten dann werden vor allem in die Perspektive einer Politisierung der Kindheit gerückt. Diese Fragestellungen werden in ähnlicher Weise auch auf die Erforschung von Kindheiten in anderen sozialistischen Ländern übertragen. „Sozialistische Kindheiten“ bildet somit eine wichtige zeitlich, geografisch und politisch definierte Einheit der historischen Kindheitsforschung. Erweitert wird das Konzept durch die gedachte Einheit der „postsozialistischen Kindheiten“, die in erster Linie als Gedächtniskollektiv verstanden werden.
Konzentriert sich der Blick auf Gewalt und Vertreibung als transformative Ereignisse nicht nur auf individueller Ebene, sondern als genereller Movens der Kindheitsgeschichte, erscheint die Übernahme des  bloodlands‑Begriffes von Timothy Snyder
Bloodlands
„Bloodlands. Europa zwischen Hitler und Stalin“ („Bloodlands. Europe between Hitler and Stalin“) ist der Titel eines einflussreichen und in der Fachwelt breit rezipierten Buches des US-amerikanischen Historikers Timothy Snyder (1969–). Es wurde erstmals 2010 veröffentlicht und seitdem vielfach übersetzt und neuaufgelegt. Der Begriff der „Bloodlands“ bezieht sich dabei auf eine Region, die heute den baltischen Staaten, großen Teilen Polens, Belarus sowie Teilen der Ukraine und dem Westen Russlands (darunter der heutigen Oblast Kaliningrad bzw. dem nördlichen Teil des historischen Ostpreußens) entspricht und bis 1945 in besonderem Maße von der Vernichtungspolitik und massenhaften Ermordung breiter Bevölkerungsteile durch das nationalsozialistische Deutschland einerseits und die Sowjetunion unter Stalin andererseits betroffen war. Die von beiden Regimen verübten Massenverbrechen sind dabei konstitutiv für den Raumbegriff der „Bloodlands“ und werden von Snyder als räumlich-zeitlich zusammengehöriger Ereigniskomplex beschrieben. Verschiedene Aspekte des Werkes werden bis heute kontrovers diskutiert – darunter die geografische Bestimmung der Bloodlands, ihre Zusammengehörigkeit bzw. Zulässigkeit als geschlossenes Untersuchungsgebiet und nicht zuletzt der Vergleich und die dem Buch teils vorgeworfene Gleichsetzung nationalsozialistischer und stalinistischer Verbrechen.
 und damit die Schwerpunktsetzung auf Osteuropa zunächst naheliegend. Dennoch haben sich Forschungen, die von einem eher angloamerikanisch geprägten Central-Europe-Begriff ausgehen oder gleich Europa als Untersuchungseinheit verstehen, als besonders fruchtbar erwiesen.
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Die wichtigste, selbstverständlichste und damit problematischste Einheit der Kindheitsgeschichte aber ist die Nation. Dies ist teilweise damit zu begründen, dass moderne Kindheiten tatsächlich überwiegend als nationale Ressource gedacht wurden und werden. Die Vorstellung von Kindern als nationales Gut, das besonders gehütet werden muss und gestohlen werden kann, findet seinen Niederschlag nicht nur in staatlicher Infrastruktur und im Völkerrecht, sondern aktuell in besonders erschreckender Weise auch in grausamsten Kriegsverbrechen. Auch unschuldig wirkende Kinderkulturen, häufig mit Elementen der Idylle und Nostalgie operierend, sind auffällig oft an nationale Narrative gebunden und bleiben innerhalb nationaler Zielgruppen wirksam. Abgesehen von der Bedeutung solcher empirischer Erkenntnisse aber knüpft die Kindheitsgeschichte oftmals einfach an die Nation als traditionelle historiografische Einheit an. Transnationale, regionale und globale Perspektiven mit einem Blick für Verflechtungen müssen in der Kindheitsgeschichte bislang noch als Ausnahme gelten.
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Insofern: Nein, es gibt keine osteuropäische Kindheit. Aber die Erfahrungen, die gerade die Disziplin der Osteuropäischen Geschichte mit der Reflexion regionalhistorischer Konzepte gemacht hat, können und sollten für die Kindheitsgeschichte fruchtbar gemacht werden. Die historische Erforschung muss einander überlappende und sich verändernde Einheiten berücksichtigen, muss geografische, politische, religiöse, soziale, ethnische, politische Einheiten in den Blick nehmen, zugleich die verschiedenen Diskurse und Narrative der Kindheit analysieren und generell Kindheiten im Plural konzipieren. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sich gerade die Vielfalt, Komplexität und der schnelle Wandel, nicht selten auch Untergang der verschiedenen gesellschaftlichen Einheiten, innerhalb der sich Kindheit abspielte, am Ende als Spezifikum des östlichen Europas herauskristallisiert. Dies sollte allerdings ein Resultat umfassender Forschungen sein, keine unhinterfragte Voraussetzung.

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