Das 20. Jahrhundert brachte für Kinder und Kindheiten nicht nur Veränderungen in Hinblick auf ihre Lebenswelten, Lebenslagen und Bildungsräume, sondern auch vielfältige wissenschaftliche Erkenntnisse im Rahmen einer sich ausdifferenzierenden sozialwissenschaftlichen und historischen Kinder- und Kindheitsforschung hervor. Der folgende Beitrag wechselt zwischen Vergangenheit und Gegenwart und führt in zentrale Begriffe, Theoriefiguren, Kindheitsthemen und Methoden moderner Kindheitsforschung ein.
Aller Anfang ist Kindheit: Kinderforschung
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Jeder erwachsene Mensch durchlebte als Kind seine Kindheit und entwickelte, basierend auf den eigenen Kindheitserfahrungen, eine Vorstellung darüber, was es bedeutet, ein Kind zu sein und was eine Kindheit auszeichnet. Allerdings war es historisch betrachtet ein langer Weg, bis das Kind als solches wahrgenommen und Kindheit während der
Aufklärung
Aufklärung
Der Begriff Aufklärung verweist auf eine geistige Bewegung, die Ende des 17. Jahrhunderts in Europa entstanden ist und die Vernunft des Menschen in das Zentrum philosophischen Denkens gerückt hat. Außerdem waren mit den aufklärerischen Ideen gesellschaftspolitische Forderungen nach mehr persönlicher Handlungsfreiheit, Bürgerrechten, allgemeinen Menschenrechten, dem Gemeinwohl als Staatspflicht und Bildung verbunden. Dem französischen Philosophen Jean-Jaques Rousseau (1712-1778) wird in der Geschichte der Pädagogik bisweilen das Verdienst zugesprochen, die Kindheit entdeckt zu haben. In seinem viel zitierten Roman „Emilé oder Über die Erziehung“ (1762/2019) stellte er einen Eigenwert von Kindheit heraus und forderte das direkte Lernen am Objekt durch Erfahrung.
als eigenständige Lebensphase ‚entdeckt‛ wurde.
Als die Reformpädagogin und Schriftstellerin
Ellen Key
Ellen Key
Ellen Key (1849-1926) hat sich in zahlreichen Publikationen zu Fragen der Kindererziehung und Frauenbewegung geäußert. Sie ist als Rednerin unermüdlich durch Europa gereist, um die Modernisierung der Lebensverhältnisse zu proklamieren. Ihr Werk hat aktuelle Debatten um die Erziehung der Kinder vorweggenommen, die damals radikal neu erschienen und wird in Hinblick auf ihre Gedanken zur Eugenik bis heute kontrovers diskutiert.
versuchte, die Zeit der Moderne sozialwissenschaftlich zu bilanzieren, versah sie das beginnende 20. Jahrhundert mit einem Slogan, der sich in die Geschichte der Pädagogik eingeschrieben hat: Weil es die Schwedin zum
Jahrhundert des Kindes
Jahrhundert des Kindes
Der Slogan geht auf den gleichnamigen Bestseller zurück (Ellen Key [1900/2000]: Das Jahrhundert des Kindes. Weinheim: Beltz).
erklärte, wurde nicht nur eine reformpädagogische Rhetorik einer Erziehung vom Kinde aus legitimiert, sondern auch ein modernes Konzept von Kindheit etabliert, das einen Perspektivenwechsel im Diskurs um das Kind angeregt hat. Der Kinderforscher
Janusz Korczak
Janusz Korczak
Der polnische Pädiater, Pädagoge bzw. Kinderforscher und Schriftsteller Janusz Korczak (1878/79-1942) hat drei Jahrzehnte das Dom Sierot (ein Waisenhaus für jüdische Kinder im Grundschulalter) in Warschau geleitet. Er hat nicht nur ein umfangreiches Schrifttum hinterlassen, das in der deutschen Werkausgabe 17 Bände umfasst, sondern mit (s)einer Pädagogik der Achtung auch die Perspektive der Kinder betont und eingefordert: Im Waisenhaus gestalteten die kleinen Bewohner:innen die Kindergesellschaft aktiv mit. Sie wurden bspw. gewählt, um Ämter im Kinderparlament und -gericht zu begleiten und sie schrieben regelmäßig Beiträge in der wöchentlich erscheinenden Kinderzeitung. Janusz Korczak wurde im August 1942 mit etwa 200 Kindern und den Mitarbeitenden des Waisenhauses in das Vernichtungslager Treblinka deportiert und ermordet. Ihr Schicksal soll an dieser Stelle daran erinnern, dass insgesamt 1,5 Millionen Kinder der Verfolgung der Nazis schutzlos ausgeliefert waren und im Holocaust getötet wurden.
drückte ihn in einem Satz aus: „Kinder werden nicht erst zu Menschen, sie sind es bereits“.1
Auf der einen Seite geriet das Kind nicht mehr nur als schutz- und förderungsbedürftig in den Blick, sondern wurde als
eigenes Wesen eigenen Rechts
eigenes Wesen eigenen Rechts
Die Geschichte der Kinderrechte und der Wandel in der Moderne können aufeinander bezogen werden. Beide fokussieren auf Ideen der Menschenwürde, von Selbstbestimmung und der Gleichheit aller Menschen, und wurden sukzessive in geltendem Recht verankert: Als sich im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert die Vorstellungen über Kinder, Kindheiten und Erziehung wandelten und Kritik an der Misshandlung, Unterdrückung und Ausbeutung von Kindern bspw. durch Kinderarbeit geübt wurde, wurde auch die Forderung nach Kinderrechten lauter. Ellen Key, Eglantyne Jebb (1876-1928) und Janusz Korczak gelten als wichtige Pionier:innen der Kinderrechte, auch wenn die erste Kinderrechtserklärung (1892) sehr wahrscheinlich von der Schriftstellerin und Reformpädagogin Kate Wiggins (1856-1923) verfasst wurde. Erst auf Initiative Jebbs wurde die Genfer Deklaration der Rechte des Kindes (1924) vom Völkerbund verabschiedet, die in fünf Artikeln die unterzeichnenden Staaten zu Schutz, Unterstützung, Versorgung und Erziehung des Kindes aufforderte. Die Erklärung war zwar nicht rechtlich bindend, aber Vorbild für die späteren Beschlüsse der Vereinten Nationen wie etwa die UN-Erklärung der Rechte des Kindes(1959) oder die UN-Kinderrechtskonvention (1989), die 1992 von der Bundesrepublik Deutschland ratifiziert wurde. Noch immer (Stand 09/24) wird in Deutschland eine lebhafte Debatte darüber geführt, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, denn das 2021 im Koalitationsvertrag von SPD, Grünen und der FDP formulierte Ziel, Kinder als Rechtsträger:innen verfassungsrechtlich anzuerkennen, wurde bisher noch nicht umgesetzt.
aufgefasst. Kindheit wurde zunehmend als Schutz-, Schon- und Lernraum ausgestaltet, um Kindern als körperlich, geistig und seelisch noch nicht voll entwickelte Individuen ein
Moratorium
Moratorium
Die Idee, Kindheit (und Jugend) als pädagogisches Moratorium zu gestalten, stammt aus der Aufklärung und spricht eine spezifische lebensgeschichtliche „Auszeit" für die Jüngeren an, die in ausgewiesenen Zeiten, Räumen, Statuspositionen und Diskursen sichtbar gemacht wird, und einen Rückzug auf Zeit aus bestimmten Verpflichtungen und Teilhaben der bürgerlichen Gesellschaft beinhaltet (Zinnecker, Jürgen (2000). Kindheit und Jugend als pädagogische Moratorien. Zur Zivilisationsgeschichte der jüngeren Generation im 20. Jahrhundert. In Dietrich Benner und Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.): Bildungsprozesse und Erziehungsverhältnisse im 20. Jahrhundert. Weinheim: Beltz (S. 36-68, hier vor allem S. 38). URN: urn:nbn:de:0111-opus-84428 - DOI: 10.25656/01:8442).
zu gewähren. Indem sie spielend und lernend Erfahrungen sammeln, werden sie darauf vorbereitet, eine eigenständige Rolle in der jeweiligen sozialen Gemeinschaft einzunehmen. Der Zugang zu Bildung wurde in vielen westlichen Gesellschaften auch zu einem politischen Ziel erklärt, um soziale Ungleichheiten zu reduzieren. So konnte sich etwa im Zuge der Einführung der
allgemeinen Schulpflicht (1919)
allgemeinen Schulpflicht (1919)
Unterrichtspflicht ist nicht gleich Schulpflicht - Das Grundschulgesetz, wie wir es heute kennen, wurde in der Weimarer Republik (1919-1933) verabschiedet. Für ganz Deutschland galt dann nicht mehr eine „Unterrichtspflicht“, der auch im Privaten nachgekommen werden konnte und die in Preußen bereits 1717 eingeführt worden war, sondern eine „allgemeine Schulpflicht“ mit mindestens acht Schuljahren in öffentlichen Schulen.
in der Weimarer Republik erstmals eine Schulkindheit für alle Kinder etablieren.
Auf der anderen Seite wurden Kindheiten zu einem Forschungsgegenstand und die eigenständige Rolle der Kinder in der Wissenschaft stieß allmählich auf Akzeptanz. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts fand die wissenschaftliche Annäherung vor allem interdisziplinär statt, auch wenn die deutschsprachige Bewegung der Kinderforschung (an der neben Pädiater:innen, Psycholog:innen und Psychiater:innen vor allem Heil- und Sonderpädagog:innen beteiligt waren) mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten, während des Zweiten Weltkrieges und im Zuge der Umbrüche in der Nachkriegszeit vorübergehend ein Ende fand. Erst, als sich in den traditionellen kindbezogenen Wissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Sozialisationsforschung und Pädagogik ein Paradigmenwechsel in der Erforschung von Kindern und Kindheiten vollzog, konnte sich in den 1980er Jahren die neue bzw. sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung2 etablieren, wie wir sie heute kennen.
Begriffsklärung
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Was oder wer ist ein Kind?
Das Kind ist im heutigen Alltagsverständnis ein erziehungs- und lernbedürftiges Wesen, dem es noch an Erfahrung und Wissen mangelt. Oder mit anderen Worten: „Kind ist, wer noch nicht erwachsen ist“3 bzw. gemäß UN-Kinderrechtskonvention „das 18. Lebensjahr noch nicht vollendet hat“4. Weil es international zahlreiche weitere Definitionen und Unterkategorien gibt, die sich nicht nur am Recht, sondern auch an der Medizin, der Biologie, der Neurologie, der Pädagogik oder der Soziologie orientieren, fällt es schwer, die Gruppe derer trennscharf einzugrenzen, die als „Kind“ kategorisiert werden.
Was ist Kindheit?
Kindheit ist sowohl gelebte Wirklichkeit als auch eine Projektionsfläche für unterschiedliche Wunsch- und Idealvorstellungen von Erwachsenen. Im Zentrum der Pädagogik des Kindesalters steht die Auseinandersetzung mit Erziehungs-, Bildungs- und Sozialisationsprozessen in der Kindheit. Sie umspannt jene erste Zeit im Leben eines Menschen, in der er im gesellschaftlichen Rahmen als Kind wahrgenommen wird. Je nach Kultur und Zeitgeist endet sie zu einem früheren oder späteren Zeitpunkt. In der Zeit der europäischen Industrialisierung wurde Kindheit als Lebensalter deutlich kürzer gefasst: In den Arbeiterfamilien trugen Kinder bis zur Abschaffung der Kinderarbeit zum Lebensunterhalt bei. Jungen begannen in der Regel mit 14 Jahren eine Lehre und zogen bei ihrem Meister ein. In den postmodernen westlichen Gesellschaften hat eine hochentwickelte Lernkultur die Jugend und mit ihr den Eintritt in das Berufsleben bzw. das Ende der materiellen Abhängigkeit von den Eltern weit über das 18. Lebensjahr hinaus verlängert.
Rückwärtsgewandt - Kindheitsgeschichte
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Philippe Ariés und seiner Arbeit über die Geschichte der Kindheit5 (franz. 1960/dt. 1975) ist die Erkenntnis zu verdanken, dass es die Phase des Kindseins nicht immer in gleicher Weise in allen Epochen gegeben hat. Als er Kindheit in den 1960er Jahren zu einem historischen Phänomen erklärte, das sich seit dem Mittelalter als Lebensphase herauszubilden begonnen hat, tat sich ein breites Forschungsfeld auf. Die Kindheitsgeschichte hat sich in den vergangenen zwei Dekaden von einem thematisch begrenzten Spezialbereich historischer Forschung zu einem offenen Feld und Ansatz mit vielgestaltigen Übergängen in andere historiografische Bereiche wie etwa der historischen Kindheitsforschung als eines der zentralen Gebiete historischer Bildungsforschung entwickelt. Mittlerweile geht die Kindheitsgeschichte weit über die Historiographie von Bildung (Schulkindheit) und Erziehung (Familienkindheit) hinaus, auch wenn moderne Kindheiten von der frühen Neuzeit (um 1500) über die Klassische Moderne (1890-1930) bis zu den Anfängen der Globalisierung (seit 1990) vor allem als eine „Geschichte der Sorge“6 geschrieben werden. Über „Kindheiten“ als Forschungsperspektive werden nunmehr auch umfassende politische, ökonomische und kulturelle Entwicklungen sowie Reformprojekte mit individuellen Lebenswelten und -beschreibungen verschränkt. Auf diese Weise eröffnet eine kindheitshistorische Perspektive auch einen rückwärtsgewandten Zugang zu Themen wie Kinderarmut, Kinderarbeit, Kriegskindheiten oder Gewaltverhältnissen in politischen Regimen oder Kinderinstitutionen und trägt zu einem erweiterten Verständnis von Gewalt und Krieg, Kolonialismus und Nationalstaat, Demokratie und Diktatur sowie Konsum und Kapitalismus bei.7
Vorwärtsgewandt - Neuere Kindheitsforschung
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Kindheiten sind eine Lebensphase der Weltaneignung, des Erwerbs eigener Handlungsfähigkeit durch Kommunikation, Bildung und Lernen, Erziehung, Experimentieren, Beteiligung oder Sich-Einüben in gesellschaftliche Rollen im Zusammenspiel mit komplexen gesellschaftlichen, kulturellen und sozialen Bedingungen. Im deutschsprachigen Raum konnte sich die Kindheitsforschung seit den 1980er Jahren zu einem einschlägigen und interdisziplinären Forschungsfeld entwickeln, das zentrale theoretische Figuren wie Agency und die generationale Ordnung oder Konzepte wie das Wohlbefinden und Gerechtigkeit ausdifferenziert hat. Es verweist auf neuere kindheitssoziologische und erziehungswissenschaftliche Kernthemen und untersucht auf unterschiedliche Weise mit quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden
Kinder und den Wandel von Kindheiten
Kinder und den Wandel von Kindheiten
Der jüngst erschienene Herausgeberinnenband „Kind(er) und Kindheit(en) im Blick der Forschung“ stellt zentrale Theoriefiguren der Kindheitsforschung zur Diskussion und vereint historische, theoretische sowie empirische Beiträge aus Geschichts-, Sozial- und Erziehungswissenschaften. Gegenstand sind kindheitsbezogene Kernthemen wie Agency, Chancengleichheit, Partizipations- und Ressourcengerechtigkeit, Wohlbefinden, Flucht, Migration, Kinderrechte und Kinderschutz, die hier nicht weiter im Detail besprochen werden können (Schierbaum, Anja / Diederichs, Miriam und Schierbaum, Kristina (2024): Kind(er) und Kindheit(en) im Blick der Forschung. Zentrale Theoriefiguren und ihre empirische Erkundung. Wiesbaden: Springer VS.)
. Für die Forschung sind auf der einen Seite die kindlichen sozialen (Lebens-)Welten bedeutsam, die als eigenständige Sozialisationsinstanzen fungieren und Kindheiten institutionalisieren (z.B. Familie, Gleichaltrige, Kindertagesstätte und Schule). Auf der anderen Seite werden kindliche Lebenslagen (z.B. soziale Situation, Migration- und Fluchterfahrung, Bildungs- und Beteiligungsmöglichkeiten und Gewalt) wie auch Bildungsräume (z.B. Familie, Kindertagesstätte, Schule oder Vereine) untersucht.
Theoriefiguren der Kindheitsforschung - Kinder innerhalb der generationalen Ordnung und Agency
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In der Auseinandersetzung mit sich Selbst und der Welt durchlaufen Kinder Erziehungs- und Bildungsprozesse, die durch das Nebeneinander weiterer Generationen geprägt sind. Die generationale Ordnung als zentrale Figur der Kindheitsforschung erzeugt und begrenzt die Handlungsfähigkeit von Kindern und betont – gewissermaßen auch als Gegensatz zu ihrer Agency – die ungleichen Machtbeziehungen zwischen Kindern und Erwachsenen. Dabei wird die Generationendifferenz nicht nur vom Standpunkt der Erwachsenen aus formuliert: Kindheiten werden auch von Kindern hervorgebracht, indem sie ihre sozialen Beziehungen (mit-)gestalten und sich die – ihnen manchmal scheinbar diametral entgegengesetzt erscheinende – Welt der Erwachsenen nachahmend aneignen. Daneben wurde der soziologische Begriff der Agency von den childhood studies eingeführt, der aus verschiedenen fachlichen Perspektiven heraus auf die Rolle von Kindern als Akteuren verweisen soll. Die Agency von Kindern als ein grundlegendes Handlungsvermögen, sich gegen die generationale Ordnung auflehnen und sie verändern zu können, setzt dabei das Verständnis von Kindheit als soziale Konstruktion voraus. Kinder sind demnach nicht nur passive Subjekte der Gesellschaft, sondern haben früh aktiv teil an der Gestaltung und Bestimmung ihres eigenen sozialen Lebens, des Lebens ihrer Mitmenschen und der Gesellschaften, in denen sie aufwachsen.
Das Konzept des Child-Well-being - Ein Zugang der Kindheitsforschung zu kindlichen Lebenslagen
Text
Die Child-Well-being-Forschung ist ein internationales Forschungsfeld, das sowohl in der Soziologie der Kindheit als auch in der Erziehungswissenschaft wachsende Aufmerksamkeit erfahren hat. Gerade in der empirischen Forschung zu Bedingungen kindlichen Aufwachsens wird häufig auf das Konstrukt zurückgegriffen, um kindliche Lebenslagen und Lebenswelten in Hinblick auf die Vorstellung von guter oder weniger guter Kindheit zu untersuchen. Das interdisziplinäre Forschungsfeld widmet sich Fragestellungen, wie Kinder selbst Vorstellungen von Wohlergehen entwerfen und erleben – und welche Rückschlüsse sich daraus für eine Theorieentwicklung im Rahmen einer differenz- und ungleichheitstheoretisch fundierten Erziehungswissenschaft ziehen lassen. Weil sich das Konzept kindlichen Wohlbefindens im Schnittfeld von Forschung, Politik und Pädagogik befindet, zielt die international vergleichende
Indikatorenforschung
Indikatorenforschung
Indikatoren kindlichen Wohlbefindens erfassen und bewerten als Messgrößen unterschiedliche Aspekte kindlichen Lebens. Sie helfen dabei, die Lebensqualität von Kindern zu analysieren. Sechs Indikatoren werden besonders häufig verwendet: (1) Gesundheit (körperliche und psychische Gesundheit, Zugang zu medizinischer Versorgung und Impfquoten), (2) Bildung (Einschulungsraten, Bildungsabschlüsse, Schulbesuchshäufigkeit und Leistungsstand in verschiedenen Fächern), (3) Soziale Teilhabe (Teilnahme an sozialen Aktivitäten, Freundschaften, familiäre Unterstützung und das Vorhandensein eines stabilen sozialen Netzwerks), (4) Sicherheit (Schutz vor Gewalt, Missbrauch oder Vernachlässigung sowie das Gefühl der Sicherheit im Wohnumfeld), (5) materielle Bedingungen (Befriedigung der Grundbedürfnisse wie Nahrung, Kleidung und Wohnraum sowie finanzielle Sicherheit der Familie) und (6) Freizeit und Spiel (Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten, Spielräume und Zugang zu Sport- und Kulturangeboten). Diese Messgrößen ermöglichen es nicht nur Forscher:innen, sondern auch Politiker:innen und Sachverständigen, den Zustand des Child-Well-being global zu überwachen und international zu vergleichen, Entwicklungstrends zu identifizieren und gezielt Maßnahmen zur Verbesserung der Lebensbedingungen von Kindern zu entwickeln.
neben den Rankings beteiligter Länder auch auf eine kindheits- und sozialpolitische Diskussion der Ergebnisse, so dass Kindheitsforschung in Hinblick auf das Child-Well-being entscheidenden Einfluss über den Transfer der Erkenntnisse in Politik und Fachpraxis nimmt.
Methoden moderner Kindheitsforschung - Nicht nur über, sondern mit Kindern forschen
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Die Kindheitsforschung als junge Disziplin knüpfte in den 1980ern dort an, wo Martha Muchow in den 1930er Jahren aufgehört hat. Die von ihr initiierte und gemeinsam mit Studierenden durchgeführte Studie Der Lebensraum des Großstadtkindes8 (1935/Reprint 1978) wollte zur Erkenntnis und zum Verständnis der ‚Welt des Kindes‘ beitragen. Indem die deutsche Psychologin untersuchte, wie Großstadtkinder ihre eigenen Bewegungen im städtischen Raum und dessen Aneignung gestalteten, und sich dafür interessierte, wie die Kinder ihre Bewegungen in und Beziehungen zu den Räumen beschrieben, wurde zum ersten Mal nicht mehr nur über, sondern mit Kindern geforscht.
Mit der Wiederaufnahme dieses Forschungsansatzes waren Kindheiten nicht mehr nur eine Durchgangsstation zur Jugend auf dem Weg ins Erwachsenenalter und allein aus der Erwachsenen-Perspektive interessant. Das Forschungsinteresse der neueren Kindheitsforschung, Kinder zu ihren Ansichten selbst zu befragen, veränderte die Auswahl und Anwendung verschiedener Forschungsmethoden erheblich. Neben standardisierten Kinderbefragungen (Surveys) mit großen und repräsentativen Stichproben wurde in zahlreichen Analysen auch mit qualitativen Forschungsmethoden daran gearbeitet, Forschungszugänge zu kindlichen Perspektiven zu eröffnen. Neben dem Einsatz
qualitativer Interviewtechniken
qualitativer Interviewtechniken
Der Einsatz qualitativer Interviewtechniken erweist sich mitunter als besondere Herausforderung, weil es in Hinblick auf die allgemeinen sprachlichen Fähigkeiten wenig sinnvoll ist, Kinder unter fünf Jahren zu befragen. Ältere Kinder können bspw. im Rahmen narrativer Interviews oder in verschiedenen Varianten teil-standardisierter Interviews befragt werden. In thematisch strukturierten Interviews können über Leitfäden Erzählungen zu vorab festgelegten Gesprächsgegenständen angeregt werden. Daneben hat sich auch die Gruppendiskussion bewährt, um mehrere Kinder zur gleichen Zeit zu einem Themenschwerpunkt zu Wort kommen zu lassen.
haben sich die teilnehmende
Beobachtung
Beobachtung
Die teilnehmende Beobachtung wird meist mit anderen Methoden kombiniert. Ein Vorteil der Methode ist, dass der Einsatz nicht von der Sprachkompetenz der untersuchten Kinder abhängt und sowohl Kleinkinder als auch Schulkinder addressiert werden können. Da Beobachtungsprotokolle nicht-sprachliche Verhaltensweisen von Kindern nicht im Detail erfassen können, weil Situationen in Echtzeit flüchtig und z.T. verbal schwer zu erfassen sind, hat sich die Videografie etabliert, um Beobachtungssituationen allumfassender mit Videotechnik aufzuzeichnen.
, aber auch die Videografie und
nichtreaktive Verfahren
nichtreaktive Verfahren
Nichtreaktive Verfahren sind solche, bei denen Forschende in sozialen Situationen zum Zwecke der Materialerhebung nicht beteiligt sind. Sie arbeiten mit Material, das bereits vorhanden ist. Selbstzeugnisse von Kindern, wie bspw. Aufsätze und Tagebuchaufzeichnungen haben eine lange Tradition; daneben werden neuerdings auch Kinderzeichnungen oder Fotografien in Forschung über Kinder und Kindheiten einbezogen.
als zuverlässig erwiesen.
Abschließend
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Insbesondere die Chiffre kindlicher Akteurschaft verleiht Kindern in der aktuellen Kindheitsforschung eine Stimme und macht sie zu Forschungssubjekten, so dass inzwischen auch hierzulande eine Reihe empirischer Studien über Kinder vorliegen, die sie ab dem Vorschulalter befragen. Das Verständnis von Kindern als individuelle und soziale Akteure mit eigenen Rechten sowie als gleichwertige Kreierende ihrer soziokulturellen Umwelt lässt sie selbst am besten ein differenziertes Bild davon zeichnen, was ihren Alltag prägt, was sie beschäftigt, interessiert und eventuell auch beeinträchtigt; aber auch wie sie Empowerment erfahren, um ihr eigenes Leben und Gesellschaft (mit-)gestalten zu können.