Das östliche Europa hat in (post)kolonialen und rassismuskritischen Debatten nach wie vor eine randständige Position inne. Dabei zeigt das Beispiel Deutschlands, wie lang die Tradition der Abwertung ist und dass sie bis heute fortwirkt. Eine „Osterweiterung“ unseres Blicks auf (Post)Kolonialismus und Rassismus ist überfällig.
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Die Aufmerksamkeit für koloniale Machtverhältnisse und ihr postkoloniales Fortwirken bis in unsere Gegenwart hat in den letzten Jahren zweifellos zugenommen. Bei allen Kontroversen, die damit einher gehen, lässt sich doch von einer erhöhten Sensibilität und einem größeren Problembewusstsein sprechen, die sich nicht mehr allein auf akademische Debatten beschränken. Das östliche Europa wird hierbei manchmal mitgedacht, häufig jedoch nicht. Die Annahme, Kolonialismus könne nur als außereuropäisches Phänomen – also als Herrschaft von Europäer:innen über ‚Andere‘ – verstanden werden, hält sich hartnäckig. Dabei kann diese sogenannte Salzwasserthese Salzwasserthese der zufolge von Kolonialismus nur dann gesprochen werden kann, wenn ein Meer zwischen Metropole und Kolonie liegt  schon beim Blick auf das deutsche Verhältnis zum östlichen Europa mit guten Gründen in Frage gestellt werden.1 Es ist das zentrale Anliegen unseres Copernico-Schwerpunktes, die Sichtbarkeit des östlichen Europa auf diesem Feld zu stärken, die spezifischen Ambivalenzen der Region zu beleuchten und damit zu einem breiteren und differenzierten Verständnis von (Post)Kolonialismus beizutragen. Was für die (Nicht-)Wahrnehmung (post)kolonialer Traditionsbestände gilt, trifft erst recht auf die Auseinandersetzung mit Rassismus zu.
Dabei ist es weitgehender Konsens in der postkolonialen Forschung, dass Kolonialismus und Rassismus untrennbar miteinander verbunden sind, wer von Kolonialismus spricht, also vom Rassismus nicht schweigen sollte.2 Geht es jedoch um das östliche Europa, entspannen sich nach wie vor allzu oft kontrovers geführte Diskussionen darüber, ob die Erfahrungen osteuropäischer Migrant:innen überhaupt unter ‚Rassismus‘ subsummiert werden können – zumeist mit dem Argument, dass sie ‚privilegiert‘ und ‚weiß‘ seien und deshalb per se keine Opfer von Rassismus werden könnten. Das Beispiel des deutschen Verhältnisses zum östlichen Europa zeigt, warum eine solche Argumentation zu kurz greift und eine ‚Osterweiterung‘ unseres Blicks auf (Post)Kolonialismus und Rassismus überfällig ist.

„[I]ch stehe jetzt hier als einer von den Eroberern, welche für freie Arbeit und menschliche Kultur einer schwächeren Rasse die Herrschaft über diesen Boden abgenommen haben. Wir und die Slawen, es ist ein alter Kampf. Und mit Stolz empfinden wir: auf unserer Seite ist die Bildung, die Arbeitslust, der Kredit. Was die polnischen Gutsbesitzer hier in der Nähe geworden sind [...], ist ihnen auf die eine oder andere Weise durch deutsche Tüchtigkeit erworben.“7 

Die lange Tradition der Abwertung
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Deutschland hat eine lange Verflechtungs- und Expansionsgeschichte mit und im östlichen Europa. Abwertende und hierarchisierende Vorstellungen des ‚Ostens‘ haben hierbei Tradition. In der Aufklärung galt ‚Osteuropa‘ im westlichen Denken als eine rückständige Zwischenwelt zwischen Okzident und Orient, als – wie es Larry Wolff bezeichnete – „Europa, doch auch nicht Europa“ (Europe but not Europe)3 . Ähnliche Vorstellungen herrschten von Südosteuropa bzw. dem ‚Balkan‘, wie Maria Todorova aufzeigte.4 Ein prominentes Beispiel aus dem 19. Jahrhundert sind die Debatten in der Frankfurter Paulskirche 1848/49 um die Stellung Posens und Böhmens in einem zukünftigen Deutschen Reich. Eine große, fraktionsübergreifende Mehrheit debattierte über einen viel weitergehenden ‚deutschen Osten‘, der bis ans Schwarze Meer reichen sollte und den es zu erobern, zu ‚zivilisieren‘ und zu beherrschen gelte.5 Und Gustav Freytags Erfolgsroman „Soll und Haben“ (1855) verankerte im deutschen Bildungsbürgertum sowohl antisemitische Bilder als auch das Stereotyp desorganisierter, chaotischer Pol:innen, die zu effektivem ökonomischem Handeln unfähig seien:6 
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Diese Traditionen werden in der Forschung zumeist unter der Frage von „Kolonialismus“ diskutiert, wobei nicht nur das obige Zitat über „die Slawen“ als „schwächere Rasse“, sondern ebenso die Namen Immanuel Kant und Georg Forster dafür stehen, dass wir es auch mit einem manifesten Rassismus zu tun haben.8 Im deutschen Kaiserreich lässt sich dann eine Radikalisierung und Rassifizierung des deutschen Blicks nach Osten auf breiter Ebene festmachen. Versteht man „Rassismus“ im Anschluss an Philomena Essed als die Unterteilung von Menschen aufgrund tatsächlicher oder zugeschriebener biologischer oder kultureller Merkmale in „Wertigkeitshierarchien“ (hierarchies of worthiness)9, dann ist dies eine treffende Beschreibung für das, was prominente Personen wie Max Weber über die „niedrigeren Ansprüche an die Lebenshaltung […] der slawischen Rasse“10 öffentlich kund taten. Diese „Wertigkeitshierarchien“ waren hierbei nicht nur Diskurs, sondern auch Praxis. Das restriktive Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz von 1913 sollte die Einbürgerung unerwünschter Migrant:innen aus dem östlichen Europa verhindern. Dem Ausschluss von der deutschen Staatsbürgerschaft lag eine rassistische Logik zugrunde, nach der die Neuankömmlinge aus dem Osten gewisse unveränderliche Eigenschaften hätten, die sie zum ‚unerwünschten‘ Bevölkerungszuwachs machten.11 Ein weiteres Beispiel ist das deutsch besetzte Gebiet „Ober Ost“ im Ersten Weltkrieg. Die dortige Herrschaftspraxis und Ausbeutung der nicht-deutschen Bevölkerung lassen sich mit guten Gründen als kolonial beschreiben, waren aber zugleich unverkennbar rassistisch fundiert.12 Hier zeigt sich erneut, dass Kolonialismus und Rassismus nicht einfach aufeinander folgten, sondern vielfach zeitgleich bestanden und eng miteinander verflochten waren.
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Die Radikalisierung vollzog sich im Zusammenspiel mit anderen Diskriminierungsformen gegen Menschen aus dem östlichen Europa, insbesondere dem Antisemitismus und dem Antiziganismus. So verdichteten sich in der Figur des „Ostjuden“ alle negativen Stereotype über ‚den Osten‘ (z.B. Rückständigkeit, Schmutz) und ‚die Juden‘ (z.B. Geldgier, Amoralität) und machten sie zu einer besonderen Hassfigur der völkischen Rechten.13 Heutzutage passiert ähnliches mit Sinti:zze und Rom:nja aus Südosteuropa.
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Der Vernichtungskrieg im östlichen Europa und der „Generalplan Ost“ des NS-Regimes, der die Zwangsumsiedlung und millionenfache Ermordung der nicht-deutschen Bevölkerung vorsah und der Ausdruck eines ebenso kolonialen wie rassistischen Weltbildes war, stellten den negativen Höhepunkt deutscher Hierarchisierungen und Expansionsprojekte dar. Allein in der Sowjetunion starben rund 27 Millionen Menschen. Einerseits geschah dies infolge eines eliminatorischen Antisemitismus, der die Ermordung aller Juden und Jüdinnen vorsah. Andererseits wurden große Teile der Bevölkerung als ‚slawische Untermenschen‘ rassistisch abgewertet und dem Hungertod preisgegeben. Erinnert sei an die Behandlung sowjetischer Kriegsgefangener, die man massenhaft sterben ließ oder ermordete, an die Blockade Leningrads, während der über eine Million Menschen verhungerten und erfroren, an die Hungerpolitik in ukrainischen Städten wie Kyjiv und Charkiv, an den Vernichtungsort Malyj Trostenez in Belarus, an tausende ‚verbrannte Dörfer‘ und an die rassistische Behandlung Millionen sogenannter „Ostarbeiter“, die im Deutschen Reich unter unmenschlichen Bedingungen Zwangsarbeit verrichten mussten, durch den Aufnäher „Ost“ auf ihrer Kleidung stigmatisiert wurden und denen es verboten war, sexuelle Beziehungen mit der ‚arischen‘ Bevölkerung einzugehen.14
Deutschland und ‚der Osten‘ nach 1945
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 Angesichts der millionenfachen Beteiligung der deutschen Bevölkerung am rassistischen Zwangsarbeitssystem und am Vernichtungskrieg an der Ostfront ist davon auszugehen, dass es auch hier keine „Stunde Null“ gegeben hat. Rassifizierende Wissensbestände und Praktiken wirkten fort, durchliefen unter neuen Vorzeichen Wandlungsprozesse, sind aber bis heute Teil unserer Gegenwart. Ob dies jeweils mit „Rassismus“, „(Post)Kolonialismus“ oder etwa „Diskriminierung“ am besten bezeichnet werden kann, ist Gegenstand der Diskussion und Aufgabe zukünftiger Forschung – denn von dieser haben wir für die Zeit nach 1945 viel zu wenig.15 Folgt man jedoch der in der Rassismusforschung weitgehend geteilten Erkenntnis, dass wir es in Europa und insbesondere in Deutschland nach 1945 aufgrund der Diskreditierung des Rassenbegriffs mit einem stellvertretenden Sprechen, einem „Rassismus ohne Rassen“ (Balibar)16 zu tun haben, bei dem andere Differenzkategorien wie etwa „Kultur“ oder „Ethnie“ neue „Wertigkeitshierarchien“ begründeten, dann werden die ‚langen Linien‘ offensichtlich, die bis in unsere Gegenwart reichen.
Ein naheliegendes und bisher weitgehend brach liegendes Feld für die Untersuchung solcher Kontinuitäten und Wandlungen wäre der Kalte Krieg mit seiner gezielt gegen das östliche Europa gerichteten Komponente des Antikommunismus. Ab Ende der 1980er Jahre erlebten dann Abwertungen osteuropäischer Migrant:innen, die in größerer Zahl nach Deutschland kamen, eine erneute Konjunktur. Die wieder aufkommenden ‚Polenwitze‘ sind hierfür ebenso symptomatisch wie die Berichterstattung etwa des „Spiegel“ über eine „östliche Völkerwanderung“ oder den ‚kriminellen Osten‘.17 Hier zeigt sich, dass vermeintlich vergangene Feindbilder noch vorhanden waren und reaktiviert werden konnten. Im Ergebnis dieser Angstdebatte durften die Bürger:innen der seit 2004 zur EU gehörenden baltischen und ostmitteleuropäischen Staaten erst nach der maximal siebenjährigen Übergangsfrist freizügig nach Deutschland einreisen. Auch die vermeintlich privilegierten Migrations-gruppen der Spätaussiedler:innen und jüdischen Kontingentflüchtlinge waren von diesen Ressentiments wie auch von struktureller Diskriminierung nicht ausgenommen. Ihre Abschlüsse wurden häufig nicht anerkannt und sie mussten niedrig qualifizierteren Tätigkeiten nachgehen, etwa in der Lagerlogistik oder als Pflege- oder Reinigungskräfte, und erlebten Alltagsdiskriminierung – Erfahrungen, die sie mit anderen migrantischen Gruppen und Menschen in der Bundesrepublik teilen.18
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Zur strukturellen Benachteiligung kam rassistische Gewalt: Auch Menschen osteuropäischer Herkunft wurden seit 1990 Opfer rechtsextremer Morde mit rassistischem Motiv, darunter sieben Spätaussiedler:innen aus der ehemaligen Sowjetunion und vier Pol:innen.19 Als Beispiel sei der junge, aus Kasachstan stammende Spätaussiedler Kajrat Batesov genannt: Am 4. Mai 2002 wurde er im brandenburgischen Wittstock zusammen mit seinem Freund Maxim K. vor einer Diskothek von Jugendlichen brutal attackiert und als „Scheißrusse“ beschimpft. Kajrat erlag am 23. Mai 2002 seinen Verletzungen. Sein Name ist ebenso wie die der anderen Opfer heute kaum jemandem ein Begriff.
Etwas größere öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr das Rohrbombenattentat am S-Bahnhof Düsseldorf Wehrhahn am 27. Juli 2000. Zehn Menschen postsowjetischer Herkunft, darunter sechs Jüdinnen und Juden, wurden zum Teil lebensgefährlich verletzt, eine schwangere Frau verlor ihr ungeborenes Kind. Die Opfer hatten zuvor einen Sprachkurs besucht. Täterschaft und Tatmotivation wurden nie aufgeklärt. Der Verdächtige Ralf S. wurde am 31. Juli 2018 aus Mangel an Beweisen freigesprochen.20
Aufnahme und Abwertung in Zeiten des Kriegs Russlands gegen die Ukraine
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Die Entwicklung seit der Ausweitung und Radikalisierung des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 ist ambivalent. Einerseits erfuhren ukrainische Geflüchtete in Deutschland eine große Aufnahmebereitschaft, was angesichts der hier skizzierten Geschichte keine selbstverständliche Reaktion und ein wirklich positives Gegenbeispiel ist. Andererseits bilden insbesondere ukrainische Frauen, die die Mehrheit der Geflüchteten ausmachen, eine besonders vulnerable Gruppe. Ukrainerinnen wurden in der Popkultur sexualisiert,[^7378] mussten sexuelle Belästigung erfahren oder wurden durch Menschenhändler zur Prostitution gezwungen. Hier wurde unter dem Brennglas des Krieges deutlich, dass die lange Tradition der sexistischen Fetischisierung osteuropäischer Frauen nach wie vor präsent ist.21 
Auch „koloniale Blicke“ auf die Ukraine werden im Diskurs über den Krieg wieder sichtbar. Nachdem sie infolge der Tradition, beim Blick ‚nach Osten‘ zumeist nur nach Russland zu schauen, lange eine terra incognita auf den allermeisten deutschen mental maps war, rückte die Ukraine nun gezwungenermaßen auf die Tagesordnung. Während die Solidarität und Aufnahmebereitschaft eines Großteils der deutschen Bevölkerung einen klaren Bruch mit dieser langen Ignoranz darstellte, verblieben andere bei ihrer Weltsicht und belehrten nun die Ukrainer:innen, wie mit Krieg und seinen Traumata ‚richtig‘ umzugehen sei. Ein prägnantes Beispiel für dieses Westsplaining ist der buchstäblich erhobene Zeigefinger des Soziologen Harald Welzer, mit dem er den damaligen ukrainischen Botschafter in Deutschland, Andrij Melnyk, bei Anne Will ausgerechnet am 8. Mai 2022 im Stile eines Lehrers über „Sprecherposition[en]“, „Kriegserfahrungen“ und die Lehren aus dem 8. Mai 1945 ‚aufklärte‘.22 Man muss kein Freund des oftmals sehr scharf auftretenden und problematische Geschichtsbilder verbreitenden Andrij Melnyk sein, um den kolonialen Gestus in diesem Habitus zu erkennen, zumal dem Vertreter eines Landes gegenüber, in dem die deutsche Herrschaft im Zweiten Weltkrieg rund acht Millionen Menschen das Leben gekostet hat, aus dem rund 2,4 Millionen „Ostarbeiter“ ins Deutsche Reich verschleppt wurden und das jetzt erneut um sein Überleben kämpfen muss.
Perspektiven
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Die kritische Auseinandersetzung mit gegen das östliche Europa und seine Menschen gerichteten (post)kolonialen und rassistischen Traditionsbeständen bleibt eine vordringliche Aufgabe der Forschung wie der Gesellschaft. Zumal sich die lange Zeit als ‚unsichtbar‘ beschriebenen Migrant:innen aus dem östlichen Europa seit einigen Jahren als postostmigrantischer Teil der bundesdeutschen Gegenwart in Podcasts, der Literatur und vielen anderen Formaten deutlich vernehmbar zu Wort melden. Damit werden Erfahrungen von Ausreise, Ankunft, aber auch Ablehnung und Diskriminierung sag- und beschreibbar, die über Jahrzehnte mit familiärem und gesellschaftlichem Schweigen bedeckt wurden.23 Es ist überfällig, ihnen endlich die Aufmerksamkeit zukommen zu lassen, die sie viel zu lange nicht erfahren haben.24 
Zugleich sollten wir uns davor hüten, ‚das östliche Europa‘ erneut zu homogenisieren. Die Beiträge unseres Copernico Schwerpunktes zeigen auch, welche kolonialen (und rassistischen) Machtverhältnisse diese Großregion selbst durchziehen, etwa wenn Antonia Schlotter die „‚Zivilisierungsmission‘ des Russländischen Reiches in Mittelasien im 19. Jahrhundert“ vorstellt, Krisztián Csaplár-Degovics der Frage nachgeht, ob Bosnien-Herzegowina im Habsburgerreich als Kolonie angesehen wurde, oder wenn Antony Hoyte-West die Memoiren von Gregor von Rezzori als Dokument der kolonialen Blicke auf die Bukowina liest. Der gegenwärtige, auch koloniale Krieg Russlands gegen die Ukraine ist hier nur das aktuellste Beispiel. Hinzu kommt, dass sich das Gesamtbild des Migrationshotspots östliches Europa nur in einem globalen Maßstab beschreiben lässt. Es ist eine herausfordernde, aber sicher auch lohnenswerte Perspektive, die globalen Wege und Positionierungen von Menschen aus dem östlichen Europa nachzuzeichnen, anknüpfend an W. E. B. Du Bois Beobachtungen zu einer „color line“, entlang derer In- und Exklusion in Migrationsprozessen verhandelt werden.25

Siehe auch