Das Zeitalter des Imperialismus entfesselte im Deutschen Reich ein neues, an kolonialen Mustern orientiertes Denken über die preußischen Ostprovinzen und ihre Bewohner. Neben anderen Intellektuellen propagierte auch Max Weber ein koloniales Bild der Polen sowohl in kulturalistischen als auch in rassistischen Kategorien.
Einleitung
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Die Wende vom 19. ins 20. Jahrhundert markiert eine bedeutende Periode in der Geschichte der europäischen Imperien, die durch die beispiellose Ausbreitung des modernen Nationalismus und den Wettstreit um Kolonien und globale Märkte gekennzeichnet ist. Der Berliner Kongress von 1878 sowie die Berliner Kongokonferenz von 1885 sind hier als wegweisende Ausgangspunkte des wirtschaftlichen Expansionismus und Kolonialismus zu nennen. Der überseeische Kolonialismus spiegelte sich auch in den öffentlichen Debatten innerhalb der Reiche wider, so auch in jener des 1871 neu gegründeten Deutschen Reiches. Der Einfluss war sowohl in politischen und wirtschaftlichen Debatten als auch in umgesetzten Praktiken wirksam, wie in der Umstrukturierung der etablierten Landwirtschaft und der Ausbeutung von Land. Dieser Auszug aus einem Artikel des Autors E. Rall in der nationalliberalen Zeitung Die Grenzboten aus dem Jahr 1905 veranschaulicht diese globalen Verflechtungen:

Zu einer Zeit, wo für die äußere Kolonisation, d.h. für unsere überseeischen Kolonien, enorme Mittel […] flüssig gemacht werden, darf es auch an den nötigen Mitteln zur Förderung der für den Osten der preußischen Monarchie und ganz Deutschlands so überaus bedeutsamen inneren Kolonisation nicht fehlen.1 

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Der Autor plädiert hier für die Bereitstellung von Mitteln, um der preußischen Monarchie eine ‚innere Kolonisation‘ des Ostgebiets zu ermöglichen. Selbiges solle ferner als ebenso wichtig wie die kolonialen Bemühungen in Übersee betrachtet werden. Dieses aus den Provinzen Westpreußen, Ostpreußen, Posen und Schlesien bestehende Gebiet ist zu dieser Zeit überwiegend landwirtschaftlich geprägt. Polnischsprachige Menschen, die etwa 4,4 Millionen ausmachten und damit elf Prozent der Gesamtbevölkerung entsprachen, bildeten einen bedeutenden Teil der preußischen Gesellschaft.2 In wirtschaftlicher und landwirtschaftlicher Hinsicht stagnierte die Region, da sich der traditionelle Landbesitz der Junker als unzureichend erwies. Die Polen begannen derweil zu einer fremden nationalen Einheit innerhalb des deutschen ‚Nation Building‘ zu werden. Deutsche Beamte, Politiker und Wissenschaftler betrachteten die Region sowohl als strategisch wichtig, etwa als potenzielle Quelle für wirtschaftliches Wachstum, sahen in ihr und den Polen aber auch eine Bedrohung für die deutschnationale Identität und Kultur. Ökonomen führten die Rückständigkeit der preußischen Ostprovinzen zunehmend auf die polnische Bevölkerung und deren angebliche Kulturlosigkeit zurück, wobei sie sich rassistische und kulturalistische Erklärungen zu eigen machten. Dieser Text untersucht exemplarisch das Denken der Ökonomen Max Sering und Max Weber in Bezug auf die ostpreußischen Provinzen und analysiert ihre Urteile über die Rückständigkeit der Region anhand kolonialer Denkmuster. Zweitens wird gezeigt, wie ihre Ideen in den breiteren Kontext der antipolnischen Agitation eingeordnet werden können. Diese Agitation verband – etwa durch Vereine wie den Ostmarkenverein – eine Ideologie der Germanisierung mit einer Ideologie des inneren Kolonialismus.
Ideen von Jenseits des großen Teiches: Landwirtschaft und Besiedlung
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Vor dem Hintergrund wirtschaftlicher Umwälzungen geriet die traditionelle Landwirtschaft in den preußischen Ostprovinzen unter Druck, sich zu modernisieren und ihre Produktivität zu steigern. Dieser Sektor war vor allem durch das Junkertum geprägt, eine aristokratische und landbesitzende Klasse, die weitgehend auf Saisonarbeiter angewiesen war. Durch die Industrialisierung und die Entwicklung günstigerer Produktionsmethoden sowie den Aufstieg des Bürgertums geriet diese Klasse in die Kritik. Da die Polen einen beträchtlichen Teil der lokalen Bevölkerung und der Arbeitskräfte ausmachten, gerieten diese bei dem Versuch, die Rückständigkeit der Region zu verstehen, unweigerlich in den Blick.
Im Rahmen seiner Habilitation reiste der Agrarökonom Max Sering im Auftrag des preußischen Landwirtschaftsministeriums 1881 in die USA, die zu dieser Zeit einen blühenden landwirtschaftlichen Sektor aufwiesen. Dieser Aufschwung war unter anderem auf deutsche Auswanderer zurückzuführen, die im Deutschen Reich keine Aussicht auf Landbesitz hatten und so zur siedlungskolonialen Kulturalisierung großer Landstriche ‚jenseits des großen Teiches‘ beitrugen. Er stellte sich folglich die Frage, warum sich der landwirtschaftliche Aufschwung durch ihre Arbeit in Amerika nicht auch in den preußischen Ostprovinzen wiederholen ließ. Um die Produktion für das Reich zu steigern, plädierte Sering nach seinen Expeditionen für eine innere Kolonisation. Er schlug vor, Deutsche in den Ostprovinzen anzusiedeln, anstatt auf koloniale Ansiedlungen in Übersee zu setzen. Dabei betrachtete er die Polen nicht unbedingt als Hindernis, kritisierte aber das Junkertum, das bevorzugt polnische Saisonarbeiter in der Landwirtschaft einsetzte. Dies führe dazu, dass das Land auf Dauer unbesiedelt bleibe. Er glaubte, die Auflösung des etablierten Systems des Großgrundbesitzes, des ‚Junkertums‘, würde das wirtschaftliche Wachstum und die Besiedlung fördern.3
Rassifizierung der Ostgrenze
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Kolonialismus und Imperialismus sind untrennbar mit verschiedenen Formen des Rassismus verbunden, vor allem mit dem kolonialen Rassismus in Übersee und dem kulturalistischen Rassismus in Europa. Diese Ideologien rechtfertigten nicht nur die Ausgrenzung und Ausbeutung von Menschen außerhalb Europas, sondern verfestigten auch die Vorstellungen von rassistischer Überlegenheit und kulturalistischer Hegemonie innerhalb der europäischen Gesellschaften. Sebastian Conrad argumentiert, dass die Vermischung von kolonialer und rassistischer Sprache und Praxis auf ein bereits damals ausgeprägtes globales, kolonialistisch geprägtes Wirtschaftsbewusstsein zurückgehe.4 Dieses diskursive Klima zeitigte erhebliche Auswirkungen auf Minderheitengruppen wie auch die polnische im Deutschen Reich.5 Das wirtschaftliche und landwirtschaftliche Ungleichgewicht wurde folglich nicht mehr ausschließlich mit wirtschaftlichen sondern auch mit kulturalistischen oder rassistischen Parametern erklärt. Der Sozialökonom Max Weber verfolgte genau diesen Ansatz:

Man ist alsbald versucht, an eine auf physischen und psychischen Rassenqualitäten beruhende Verschiedenheit der Anpassungsfähigkeit der beiden Nationalitäten [Deutsche and Polen] an die verschiedenen ökonomischen und sozialen Existenzbedingungen zu glauben.6

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Wie Sering war auch Weber vom Reisen und Forschen in den USA beeinflusst und stellte Bezüge zu den Verhältnissen im Deutschen Reich her.7 Auch er kritisierte die wirtschaftlichen Praktiken des Junkertums, das sich der billigen polnischen Arbeitskräfte bediente und damit zur Aufrechterhaltung der Rückständigkeit beitrage.8 Insgesamt aber führte er den Erfolg der deutschen Wirtschaft auf die Vorstellung zurück, dass die deutsche Zivilisation anderen überlegen sei. Dies begründete er unter anderem mit kulturellen und religiösen Merkmalen und der protestantischen Ethik.9 Eine slawische oder polnische Kultur und Wirtschaft sei daher minderwertig und stelle folglich ein Problem dar. Da die Slawen geringere Ansprüche an ihre Lebensbedingungen stellten, würden sie sich besser an die bestehenden Verhältnisse anpassen und die anspruchsvolleren deutschen Siedler ersetzen.10 In seiner vielbeachteten Antrittsrede zur Professur an der Universität Freiburg im Jahr 1895 erklärte Weber die wirtschaftliche Verdrängung der Deutschen wie folgt:

Es sind vornehmlich deutsche Tagelöhner, die aus den Gegenden mit hoher Kultur abziehen, es sind vornehmlich polnische Bauern, die in den Gegenden mit tiefem Kulturstand sich vermehren. Beide Vorgänge aber – der Abzug hier, die Vermehrung dort – führen in letzter Linie auf einen und denselben Grund zurück: die niedrigeren Ansprüche an die Lebenshaltung – in materieller teils, teils in ideeller Beziehung –, welche der slawischen Rasse von der Natur auf den Weg gegeben oder im Verlaufe ihrer Vergangenheit angezüchtet sind, verhalfen ihr zum Siege.11

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So sah er in den rassistisch konstruierten Polen und Slawen keinen unmittelbar einleuchtenden wirtschaftlichen Vorteil für das Junkertum, sondern eine Gefahr, die den kulturellen Niedergang der Deutschen bewirken könnte. Zwischen Max Sering und Max Weber lassen sich teilweise überlappende, aber auch widerstreitende Bewertungen der Bedeutung polnischer Saisonarbeiter für die Landwirtschaft feststellen. Während Sering die traditionelle Logik der Wirtschaft, nämlich die auf die Junker beschränkte Rentabilität, kritisiert, fügt Max Weber kulturalistische und rassistische Erklärungen hinzu.12 Bereits in den beiden zitierten Quellen finden sich zahlreiche Begriffe, die darauf hindeuten. Weber spricht biologistisch von „Rassenqualitäten“, wenn er Begriffe wie „physisch“ und „psychisch“ verwendet oder einer vermeintlichen „slawischen Rasse“ inhärente Eigenschaften wie etwa ihren niedrigen Lebensstandard unterstellt. Gleichzeitig bringt er diese biologistischen Eigenschaften mit der polnischen Kultur in Verbindung, der er einen „tiefen Kulturstand“ attestiert. Zusammenfassend stellt er in dieser Antrittsrede für sich, sein Publikum und seine Zeitgenossen fest:

Und weshalb sind es die polnischen Bauern, die an Terrain gewinnen? […] Der polnische Kleinbauer gewinnt an Boden, weil er gewissermaßen das Gras vom Boden frißt, nicht trotz, sondern wegen seiner tiefstehenden physischen und geistigen Lebensgewohnheiten.13

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Im Tableau des deutschen Kolonialismus und Imperialismus erwies sich die Ostgrenze als ein Austragungsort widerstreitender Interessen und rassistischer Ideologien. Die tatsächliche Knappheit an verfügbarem Land für die Kolonisation des preußischen Ostens verdeutlicht das Spannungsverhältnis zwischen Expansionsbestrebungen einerseits und bestehender Demografie andererseits. Max Webers rassistischer Diskurs lieferte die intellektuelle Rechtfertigung für Germanisierungsmaßnahmen, die in der Furcht vor kulturellem Niedergang und wirtschaftlicher Verdrängung wurzelten. Darüber hinaus schürten seine konstruierten Erklärungen die Agitation nationalistischer Gruppen. Der Prozess der Peripherisierung Peripherisierung Die Binarität von Zentrum und Peripherie ist ein grundlegendes Konzept des kolonialen Diskurses, das Edward Said (1978) als ein System erklärt, das die koloniale und postkoloniale Welt organisiert hat. Nach dieser sauberen Aufteilung ist das kolonisierende Zentrum die Heimat von Wissenschaft, Ordnung und Moderne, während die kolonisierte Peripherie Aberglaube, Chaos und Rückständigkeit beherbergt. , der diese Provinzen und ihre Bewohner – insbesondere die Polen – betraf, wird deutlich.
Koloniale Agitation durch Lobbygruppen
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Weber stand in dieser Zeit mit zahlreichen Lobbygruppen in Verbindung, die sich mit den wirtschaftlichen und kolonialen Belangen der Ostprovinzen befassten und deutsch-nationale Interessen vertraten. So war er Mitglied im Verein für Sozialpolitik, der sich ursprünglich mit der Analyse der Landarbeit in der umstrittenen Region beschäftigte.14 Darüber hinaus gehört er dem Hauptausschuss des Ostmarkenvereins an, der eine radikal nationalistische und imperiale Agenda gegenüber dem Osten vertrat. Im Wesentlichen setzte dieser sich für eine interne Kolonisierung und für die Förderung der deutschen Wirtschaft ein. Er schürt Ängste vor einer angeblichen „Slawenflut“ und forderte die Schließung der Grenzen.15 Die Zusammensetzung der Mitglieder lässt Rückschlüsse auf die Popularität des Vereins zu. Während die meisten Mitglieder zwar in den östlichen Provinzen lebten, war gut ein Drittel in anderen Regionen des Deutschen Reichs ansässig. Diese gehörten vor allem einflussreiche Berufsgruppen wie Beamten, Handwerkern und Lehrern an.16 
Schließlich gehörte Weber dem „Alldeutschen Verband“ an, der eine völkische und nationalistische Agenda verfolgte. Diese Organisation, die sich insbesondere auf die Kolonialisierung in Übersee und auf die östlichen Provinzen konzentrierte, zeichnete sich durch eine repressive antipolnische Haltung aus. In ihren Forderungen verbanden sich wirtschaftliche mit sozialdarwinistischen Erklärungsmuster und Programme. Wie der „Ostmarkenverein“ bestand auch dieser 18.000 Mitglieder zählende Verein überwiegend aus Professoren und Lehrern sowie einer bedeutenden Anzahl von Mitgliedern, die über die Parteigrenzen hinweg im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus saßen. Obwohl er für Weber die am besten geeignete Organisation zu sein schien, trat er dennoch aus. Er warf diesem vor, beim Projekt der inneren Kolonisation nicht genügend Druck auszuüben.17
Von Polen zu Parallelen
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Die Germanisierungspolitik wurde in erster Linie von dem ehemaligen preußischen Ministerpräsidenten und späteren Reichskanzler Otto von Bismarck angeleitet. Von besonderer Bedeutung sind hier die Ausweisung zehntausender Polen und Juden ab 1885 und die anschließende Beschlagnahmung polnischen Grundbesitzes.18 Die ersten Ausweisungen betrafen Wander- und Saisonarbeiter, die nicht die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen, sowie eine große Zahl von Polen aus dem Russischen Reich.19 Insgesamt wurden in diesem Jahr 20.000 Polen und 10.000 Juden vertrieben.20 Das Ansiedlungsgesetz für die Provinzen Posen und Westpreußen wurde 1886 im Preußischen Landtag mit einer Mehrheit von 211 zu 120 Stimmen verabschiedet.21 Zur Durchführung des Gesetzes wurde eine Ansiedlungskommission ernannt, die vor allem polnischen Großgrundbesitz erwerben und deutsche Kolonisten ansiedeln sollte. Da nur 3.600 der etwa 40.000 benötigten neuen Siedler angeworben werden konnten, erwirkte diese Initiative jedoch nicht die erhofften Ergebnisse. Von diesen widerum stammten nur 700 Siedler nicht aus den östlichen Provinzen, was darauf hindeutet, dass der Austausch von Grundbesitz von polnischer zu deutscher Hand innerhalb der Region weit hinter den Erwartungen zurückblieb.22 
Vor dem Hintergrund des globalen Kolonialismus mitsamt seiner tödlichen bis genozidalen Auswirkungen, muss sich diese regionale Betrachtung einer kritischen Frage stellen: Waren diese Maßnahmen wirklich kolonialen Charakters? Der Historiker Sebastian Conrad vertritt die These, dass das Deutsche Reich Mitte der 1880er Jahre einen tiefgreifende Wandel in seiner Politik gegenüber den Ostprovinzen und den Polen erlebte, welcher mit dem Beginn seines Kolonialreichs in Übersee zusammenfiel. Diese Wende in der Politik katalysierte die Eskalation ethno-nationalistischer Politik, welche die Ostprovinzen in ein koloniales Paradigma einordnete. Conrad argumentiert, dass die Rhetorik verschiedener Lobbygruppen rassistische Untertöne anzunehmen begann, während die interne Kolonisierungspolitik an Fahrt gewann, unterstützt durch die Einrichtung von Siedlungskolonien in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia.23 Es scheint also, dass diese Maßnahmen keine regional isolierten Ereignisse waren, sondern vielmehr den vorherrschenden globalen Zeitgeist von Kolonialismus, Nationalismus und aufkeimendem globalen Bewusstsein widerspiegelten. Obwohl es also Parallelen gab, ist es wichtig festzuhalten, dass sich die Ausmaße der autoritären Unterdrückung, der Rassifizierung und Ausbeutung von Menschen und Land in den Überseegebieten und in den Ostprovinzen erheblich unterschieden.

Siehe auch