Die russische Küche, insbesondere die Festküche, ist ohne Mayonnaise schlicht unvorstellbar. Salate wie seledka pod šuboj (Hering im Pelzmantel), salat oliv’e (Oliviersalat), krabovyj salat (Surimisalat), mimoza (Mimosa-Salat) und noch viele andere, sowie Fleischgerichte wie mjaso po franzuski (Fleisch à la française) werden mit Mayonnaise zubereitet. Die ursprünglich französische Sauce aus Eigelb, Senf und Öl mit etwas Salz und Pfeffer gewann in Russland in den 1990er Jahren an Popularität und gehört heute zu den beliebtesten Saucen auf dem russländischen Esstisch.
Sauce Mayonnaise und Sauce à la provençale
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Wie viele andere kulinarische Gerichte wie consommé (Kraftbrühe) oder blanc-manger (Mandelsulz) gelangte die Mayonnaise aus der französischen Küche auf den russischen Speiseplan. Allerdings wurde darunter im 19. Jahrhundert im
Russländisches Kaiserreich
rus. Росси́йская импе́рия, rus. Rossijskaja imperija, eng. Russian Empire, deu. Russisches Kaiserreich, deu. Russländisches Reich

Das Russische Kaiserreich (auch Russländisches Kaiserreich, Russisches Reich oder Kaiserreich Russland) war ein von 1721 bis 1917 existierender Staat in Osteuropa, Zentralasien und Nordamerika. Das Land war Mitte des 19. Jahrhunderts das größte zusammenhängende Reich der Neuzeit. Es wurde nach der Februarrevolution im Jahr 1917 aufgelöst. Der Staat galt als autokratisch regiert und wurde von ungefähr 181 Millionen Einwohner:innen bewohnt.

noch etwas völlig anderes verstanden: Einerseits konnten damit Gerichte gemeint sein, die aus gekochtem Fisch oder Geflügel zubereitet, mit Aspik übergossen und kalt als Vorspeise serviert wurden.1  Andererseits war jedoch auch die Sauce aus der französischen Küche verbreitet.2 
Der sprachliche und kulinarische Unterschied bildete sich im Laufe des 19. Jahrhunderts heraus, als französische Köche die russische Küche neu interpretierten und weiterentwickelten. Ein Beispiel dieser Entwicklung war das russische Gericht zalivnoe (Sülze) oder studen’, auch bekannt als cholodec (Aspik). Das Gericht wurde damals aus Fleischresten gekocht und war in der russischen Küche nicht stark verbreitet.3  Die französischen Köche verfeinerten das Gericht4  und servierten es mit der Sauce Mayonnaise.
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„Wenn Sie die richtige Menge an geschmolzenem Aspik abgemessen haben, fügen Sie die rohen Eigelbe, das provenzalische Öl, den Essig, den Senf und das Salz hinzu, stellen Sie die Pfanne mit der Sauce auf Eis und schlagen Sie sie zuerst mit einem Metallbesen und dann mit einem Spatel, bis die Sauce weiß wird und so dick ist, dass sie an allem haften kann, ohne herunterzulaufen. Diese Sauce wird vor allem zum Überziehen von kalten Fleisch-, Tier- und Fischgerichten verwendet.“5

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Die Bezeichnung des Aspiks als Mayonnaise und die Übertragung des Begriffes auf das Gericht, geht dann womöglich auf russische Köche zurück, die das Französische nicht besonders gut beherrschten. Sie verstanden unter Mayonnaise eine Sülze oder Aspik, die in der Tat mit der Sauce Mayonnaise lediglich serviert wurde.6 In zahlreichen Kochbüchern des späten 19. Jahrhunderts ist der Begriff Mayonnaise für Sülze und Aspik zu finden. Majonez iz lososiny (Mayonnaise aus Lachs), belorybica pod majonezom (Weißlachs unter Mayonnaise), majonez iz kur (Mayonnaise aus Hähnchen), majonez iz ryby s salatom i zelenym sousom (Mayonnaise aus Fisch mit Salat und grüner Sauce) sind Namen von Gerichten aus dem „Kompletten Kochbuch einer russischen erfahrenen Hausfrau“ aus dem Jahr 1875.7  Dagegen finden sich im „Kochbuch für junge Hausfrauen“ aus dem Jahr 1880 Rezepte wie majonez iz raznoj ryby (Mayonnaise aus verschiedenen Fischen) und majonez iz cypljat (Mayonnaise aus Küken).8
Die Sauce, die heute als Mayonnaise bekannt ist, war im 19. Jahrhundert in Russland unter dem Namen sous provansal‘ (Sauce à la provençale) verbreitet. Pelageja Aleksandrova-Ignat’eva Pelageja Aleksandrova-Ignat’eva Pelageja Pavlovna Aleksandrova-Ignat’eva (1872–1953) war eine russische und sowjetische Schriftstellerin und Autorin von zahlreichen Kochbüchern. verfasst in ihrem Kochbuch von 1909 ein Rezept davon:
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„Die rohen Eigelbe in einer tiefen Schüssel aufschlagen, den gekochten Senf dazugeben, ein wenig kneten und dann das provenzalische Öl in einem dünnen Strahl in die Eigelbe gießen, dabei mit einem Schneebesen schnell umrühren. Wenn das Öl aufgebraucht ist und die Sauce so dick ist, dass sie an einem Spatel kleben bleibt, ohne herunterzulaufen, fügen Sie eine Prise Estragon oder, falls dieser nicht verfügbar ist, etwas Tafelessig hinzu, rühren Sie einmal um und fügen Sie eine Prise Salz und eine Prise Zucker hinzu. Die Sauce à la provençale wird zu Wurstwaren, Geflügel, Wild und Fisch sowie zu einigen frittierten Gerichten serviert.“9

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Auf dem Höhepunkt der russischen Küche des 19. Jahrhunderts existierten also zwei Lebensmittel und Speisen, die als Mayonnaise bezeichnet wurden oder hinter denen sich Mayonnaise verbarg – und doch wird keine der beiden heute noch so bezeichnet. Die heute meistverbreitete Variante der Mayonnaise ist ein Produkt der sowjetischen Lebensmittelindustrie.
Tafelmayonnaise à la provençale
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Die Revolution 1917 zerstörte in Russland nicht nur das Zarentum, sondern auch eine ganze Lebensweise, die die sowjetische Macht wiederherstellen, wenn nicht neu erfinden musste. Im Zuge der Industrialisierung (1929–1941) betraf dies selbst die Küche. Anastas Mikojan Anastas Mikojan Anastas Howhannessi Mikojan (1895–1978) war ein sowjetischer Politiker. , 1934–1938 Volkskommissar für die Nahrungsmittelindustrie, revolutionierte die sowjetische Küche, indem er Lebensmittel industriell und in größeren Mengen herstellen ließ. Um die benötigten Technologien zu bekommen, reiste er 1936 in die USA, um sich die Lebensmittelindustrie vor Ort anzuschauen und Verträge abzuschließen. Im Anschluss wurde die industrielle Produktion einer ganzen Reihe von Produkten nach US-amerikanischem Vorbild aufgenommen10 , wie etwa von Hamburgern, die in der UdSSR als kotlety (Frikadellen) bekannt geworden sind, ebenso von Eis, Säften, Limonade, auch von Mayonnaise. So will die Legende, dass Josef Stalin persönlich die Sauce gelobt und deren Herstellung bewilligt haben soll.11
Um sowjetische Arbeiter auf den neuen Geschmack zu bringen, wurde sogar eine großangelegte Werbekampagne gestartet – zu den Plakaten ebenso gehörten, wie Empfehlungen zum kulinarischen Einsatz dieser neuen Sauce. Schon im ersten sowjetischen Kochbuch „Buch von der schmackhaften und gesunden Nahrung“ aus dem Jahr 1939 raten Autoren den sowjetischen Arbeiterinnen:
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„Zum Anrichten von Salaten, Vinaigretten und anderen kalten Speisen verwenden Hausfrauen in der Regel Pflanzenöl, Essig, Senf, Meerrettich und andere Gewürze. All diese Würzmittel können mit großem Erfolg durch Sauce Mayonnaise ersetzt werden, […], die vom Institut für Ernährung des Volkskommissariats für Gesundheit der UdSSR entwickelt wurde. Sauce Mayonnaise hat hohe geschmackliche Qualitäten, die hausgemachte Würzmittel nicht haben. Sauce Mayonnaise kann zu allen kalten Gerichten serviert werden - Fleisch, Fisch, aber auch zum Anrichten von Vinaigretten, Kartoffeln, Salaten, Heringen usw. Nehmen Sie pro Portion ein bis zwei Esslöffel Mayonnaise, je nach Geschmack.“12

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Auch die Ausgabe des Kochbuches aus dem Jahr 1952 rät dazu, die Mayonnaise zu allen kalten Gerichten zu servieren. Zu fast allen Salaten mit gekochtem Fleisch oder Fisch wird sie empfohlen. Darüber hinaus wirbt das Kochbuch für die industriell hergestellte Sauce mit der Begründung, dass es nicht immer möglich sei, diese zu Hause herzustellen:
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„Der Grund dafür ist, dass selbst geringfügige Veränderungen in der Menge und Qualität der Zutaten und unzureichende Sorgfalt bei der Zubereitung der Sauce den Geschmack und die Stärke der Mischung (Emulsion) beeinträchtigen und zu einer Sauce führen, die entweder überhaupt nicht funktioniert oder nicht richtig schmeckt.“13

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In der
Sowjetunion
eng. Soviet Union, deu. Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken, rus. Sovetskiy Soyuz, rus. Советский Союз, . Совет Ушем, . Советонь Соткс, rus. Sovetskij Soûz, . Советий Союз, yid. ראַטן־פֿאַרבאַנד, yid. סאוועטן פארבאנד, yid. sovətn farband, yid. sovʿtn-farband, yid. sovətn-farband, . Советтер Союзу, . Совет Союзы, deu. Советий Союз, . Советон Цæдис, . Совет Эвилели

Die Sowjetunion (SU oder UdSSR) war ein von 1922 bis 1991 bestehender Staat in Osteuropa, Zentral- und Nordasien. Sie ist aus dem sog. Sowjetrussland hervorgegangen, dem Nachfolgestaat des Russländischen Kaiserreichs. Den Kern der Union und zugleich ihren größten Teil bildete die Russische Sowjetrepublik, hinzu kamen weitere Teilrepubliken. Ihre Zahl variiert über die Zeit hinweg und steht im Zusammenhang mit der Besatzung anderer Länder (Estland, Lettland, Litauen), nur kurzzeitig bestehenden Sowjetrepubliken (Karelo-Finnland) oder mit der Teilung bzw. Zusammenlegung von Sowjetrepubliken. Zusätzlich gab es zahlreiche autonome Republiken oder sonstige Gebietseinheiten mit einem Autonomiestatus, der sich im Wesentlichen auf eine sprachliche Autonomie der Minderheiten beschränkte.

Die UdSSR bestand vor ihrer formellen Auflösung aus 15 Sowjetrepubliken mit einer Bevölkerung von ungefähr 290 Millionen Menschen. Mit ca. 22,4 Millionen km² bildete sie den damals größten Flächenstaat der Welt. Die Sowjetunion war eine sozialistische Räterepublik mit einem Einparteiensystem und einer fehlenden Gewaltenteilung.

produzierte man mehrere Sorten: Majonez stolovyj (Tafelmayonnaise), majonez s chrenom (mit Meerrettich), majonez s tomatom (mit Tomaten), majonez s kapersami i kornišonom (mit Kapern und Gewürzgurken), etc.14  Die bekannteste war die majonez stolovyj provansal‘ (Tafelmayonnaise à la provençale)15, fast wie im 19. Jahrhundert. Ihre Rezeptur bestand aus „68% Sonnenblumenöl, 10% frischem Eigelb, 6,7% gekochtem Senf, 2,3% Zucker, 11% Essig (5%) und 2% Gewürzen.“16 Trotz dieser Varietät war Mayonnaise immer noch ein seltenes Produkt in den sowjetischen Küchen. Überhaupt mangelte es in den 1980er Jahren in der UdSSR an bestimmten Lebensmitteln – auch an Mayonnaise. Die sowjetischen Hausfrauen waren bereit, mehrere Stunden Schlange zu stehen, um ein Glas dieser Sauce zu ergattern. Insbesondere war dies kurz vor Neujahr der Fall – einem Höhepunkt im Jahreskalender des sowjetischen Arbeiters –, denn an diesem Tag wurden traditionell zwei Gerichte mit Mayonnaise serviert: Olivier- und Heringssalat, die zum Symbol des bescheidenen sowjetischen Wohlstands geworden waren.
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„Oliviersalat stand zu Recht in der Mitte des Tisches, der mit einem festlichen Tischtuch geschmückt war. Die Gesamtkomposition wurde unterstützt durch ein geköpftes ungarisches Huhn (mit den Füssen nach oben), Salzkartoffeln, Fleischsülze (den ganzen Tag zuvor gekocht, in Schalen gegossen und auf dem Balkon kaltgestellt), Fischsülze, Hering unter dem Pelzmantel, mit einem speziell geschärften Messer sauber geschnittene Wurst, gesalzenem roten und (oder) weißem Fisch, Balyk vom Schweinefleisch, gekochte Eier mit rotem Kaviar usw. […]“17 

Mayonnaise für alle und alles
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Nach dem Zerfall der Sowjetunion kam Mayonnaise dann in den vielfältigsten Sorten und Formen auf den Mark, wurde allen auf einmal zugänglich und fand ihren festen Platz in russischen Kühlschränken. Die Russen verspeisen etwa 750 Tausend Tonnen Mayonnaise jährlich.  Das Internetportal www.eda.ru verzeichnet über 300 Rezepte der Mayonnaise und über 3 000 Rezepte mit Mayonnaise.
Wie kommt es dazu, dass Mayonnaise sich einer derart großen Beliebtheit unter den Russen erfreut? Hauptgründe dieser Popularität sind sicherlich die tief verwurzelte, traditionelle Verwendung dieses Produktes und sein bequemer Einsatz; zudem ein ganz besonderer und für viele Russen unvergesslicher Geschmack aus den Zeiten der Sowjetunion. Allein ihre Omnipräsenz in den sowjetischen Gemeinschaftsverpflegungseinrichtungen prägten den Geschmack des Sowjetbürgers.  
Und die Mayonnaise stand für das Festliche und Feierliche. Zu jedem Fest – sei es ein Geburtstag, eine Hochzeit oder Neujahr – werden bis heute aufwendige Salate wie Hering im Pelzmantel, Oliviersalat, Surimisalat oder Mimosa-Salat in großen Mengen und mit Mayonnaise zubereitet. Zuguterletzt haben auch ihr günstiger Preis und die lange Haltbarkeit – dank moderner Konservierungsstoffe – dazu beigetragen, dass die Mayonnaise zu einer absolut universalen Sauce geworden ist.