Schloss Steinort im nördlichen Masuren, bis 1945 Sitz der Grafen von Lehndorff. Der letzte Schlossherr, Heinrich von Lehndorff, war einer der Verschwörer des 20. Juli 1944. Es geht um das Schicksal der ostpreußischen Adelsfamilie und um Lebensgeschichten von Bewohnern des Dorfes, das heute Sztynort heißt. Und um deutsche und polnische Enthusiasten, die das verfallende Herrenhaus zu neuem Leben erwecken. 17 biografische Texte von Vertreibung und Neubeginn, Tragik und Aufbruch einer multiethnischen Region.
Zur Biografie des Projekts
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Am Anfang stand die Erinnerung an eine glückliche Kindergartenzeit in Sztynort, im sozialistischen
Polen
eng. Poland, pol. Polska

Polen ist ein Staat in Mittelosteuropa, ein Mitglied der Europäischen Union. Unter dem heutigen Namen ist das Land seit dem 10. Jahrhundert bekannt.

der frühen 1970er Jahre. Agata, das Mädchen von damals, konnte sie nie vergessen. Die Lebensfreude, die herrschaftlichen Räume – im Lehndorffschen Schloss, dem „Pałac“, wie die Sztynorter es nannten.
 
Agata Kern hat die Fotos von ihrer Kindergartengruppe sorgfältig gehütet. Und den Kontakt zu einigen Mädchen aufrechterhalten, auch nach ihrer Ausreise in die Bundesrepublik, 1989. Später, als Kulturreferentin am Ostpreußischen Landesmuseum, fuhr sie oft mit Schülern und Studenten nach
Sztynort
deu. Steinort, deu. Groß Steinort

Das Dorf Sztynort liegt im Norden der Masurischen Seenplatte auf der Halbinsel Jez zwischen Jezioro Mamry (Mauersee), Jezioro Dargin (Dargeinensee) und Jezioro Dobskie (Dobensee). Bis 1928 hieß das Dorf Groß Steinort, danach Steinort.

. Jahr für Jahr spazierte sie rund um das barocke Schloss, das seit 1990 leer stand und verfiel. „Ein magischer Ort!“ Und plötzlich spürte sie diese Magie nicht mehr, da war nur noch ein riesiger steinerner Kasten.
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Als 2010 Antje Vollmers „Doppelleben. Heinrich und Gottliebe von Lehndorff im Widerstand gegen Hitler und von Ribbentrop“ erschien, war Agata Kern wie elektrisiert. In dem Buch sah sie die Chance, die Bedeutung ihres Heimatortes und der Steinorter Lehndorffs für andere sichtbar zu machen. Sie war tief eindruckt vom Wagemut der beiden jungen Adeligen Heinrich und Gottliebe.
 
Das Doppelporträt von Antje Vollmer, das von ihrem Leben erzählt, den Jahren im Auge des Sturms – Steinort war nur ein paar Kilometer vom Führerhauptquartier „Wolfsschanze“ „Wolfsschanze“ Die „Wolfsschanze“ wurde im Zweiten Weltkrieg errichtet und zählte zu den „Führerhauptquartieren“. Die Anlage mit Bunkern und zahlreichen Gebäuden befand sich oberirdisch, jedoch getarnt in einem Waldgebiet nahe der Stadt Rastenburg (heute Kętrzyn). Von  1941 bis 1944 hielt sich Hitler vorwiegend dort auf. Heute sind die Ruinen der Wolfsschanze, die von der Wehrmacht bei ihrem Rückzug gesprengt wurden, eine Touristenattraktion. entfernt, im Schloss selbst residierte Außenminister von Ribbentrop - fand in Deutschland, später auch in Polen, ein lebhaftes Echo. Es bereicherte unser Bild vom adeligen Widerstand: Heinrich von Lehndorff, ein eigentlich unpolitischer Mann, war völlig anders als die uns bekannten Verschwörer. Besondere Aufmerksamkeit widmete die Autorin seiner Frau Gottliebe und dem Schicksal der traumatisierten Familie nach 1945.
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Vollmers Buch beflügelte die Hoffnungen der Freundinnen und Freunde von Schloss Steinort, die in den Jahren 2009/2010 zusammenfanden. Es ging damals von einem privaten Investor in den Besitz einer Stiftung, der „Polsko-Niemiecka Fundacja Ochrony Zabytków Kultury“, über. Allen Rückschlägen zum Trotz kam die Rettungsaktion voran, Agata Kern verfolgte sie mit Freude und Bangen.
 
Damit sind die wesentlichen Elemente des Projekts schon skizziert. Es lag buchstäblich auf der Straße, wartete geduldig. Eines Tages war es soweit: Zusammen mit der Autorin Ulla Lachauer machte sich Agata Kern an die Arbeit, das Copernico-Portal öffnete seine Türen.
Steinort/ Sztynort biografisch – Perspektiven und Stimmen
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Eine Polin aus Masuren, eine Deutsche aus Westfalen, Ostpreußen erfahren, jede auf ihre Weise. Sie wollten Biografien in und um Steinort/ Sztynort erzählen auf Basis von Interviews, soweit möglich auch anderen Quellen.
 
Drei Kapitel, drei große Perspektiven: das Schicksal der Grafenfamilie Lehndorff und - als Kontrapunkt – von Dorfbewohnern, vor und nach 1945. Dazu Porträts von Aktivisten und Träumern, die sich für die Zukunft des Ortes engagieren.
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Als schwierig erwiesen sich die Interviews für das Lehndorff-Kapitel. Krankheiten kamen dazwischen und die Scheu, von traumatischen Erfahrungen öffentlich zu sprechen.
 
Dank Antje Vollmers Recherchen gab es ein Fundament, und dank des autobiografischen Interviews von Vera „Veruschka“ von Lehndorff, in dem sie vom Leben ihrer Mutter Gottliebe und der vier Töchter nach Kriegsende berichtet hat. In der Rolle der Familienerzählers tritt der Enkel Verus von Plotho auf. Die Schauspielerin Hanna Schygulla, langjährige Freundin von Gottliebe von Lehndorff, erinnert sich an gemeinsame Zeiten in der Künstlerkolonie Peterskirchen.
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Die Dorfgeschichten hingegen fanden sich fast wie von selbst ein. In ihnen wird der Mikrokosmos Sztynort nach 1945 lebendig, das Zusammenleben autochthoner Masuren, die dageblieben waren, Zugewanderten aus den umliegenden Kreisen, sogenannten „Repatrianten“ aus Ostpolen und zwangsumgesiedelten Ukrainern – eine multiethnische Gesellschaft, typisch für viele Dörfer der Region.
 
Im Mittelpunkt der sozialistischen Kollektivwirtschaft: das frühere Lehndorffsche Schloss, der „Pałac“. Unter anderem beherbergte er den Kindergarten, seine Geschichte spiegelt das Zusammenwachsen der Gruppen im Dorf.
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Inzwischen gehören zu Sztynort auch die Gäste, die sich für die Rettung des Schlosses einsetzen. Ihr Blick von außen, ihre Sympathie - und die Lebensgeschichten, die sie mitbringen.
 
Darin treffen Familiengeschichten von Vertreibung und Diktatur mit heutigen Welterfahrungen zusammen, mancher Weg nach Sztynort führt über England oder Syrien. Was treibt den Bauingenieur, die Kulturaktivistin, den Manager oder Liedermacher um?
 
Stadtmüdigkeit und Segelleidenschaft, Business-Ideen, die geheimnisvolle Faszination, die von Schloss und Park ausgeht, viele Motive spielen mit. Politische Überzeugungen, dass dieser Ort der deutsch-polnischen Freundschaft dienen sollte. Der Erinnerung an den Widerstand des 20. Juli, als Kontrapunkt zur nahen „Wolfsschanze“, dem Touristenrummel dort und rechtsradikalen Umtrieben.
Zufälle und Fundstücke
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Die biografischen Erzählungen haben jeweils ihre eigene, subjektive Wahrheit. Manche führen in Neuland, das sicherlich auch fruchtbar für zukünftige Forschungsprojekte gemacht werden kann. Private und regionale Quellen haben sich aufgetan, eine Vielzahl von Fotos vor allem, die hier erstmals präsentiert werden.
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Manche Spuren verliefen im Sand, etwa die Suche nach ehemaligen Bediensteten der Lehndorffs. Dafür spielte uns der Zufall die Nachkommen der Steinorter Lehrerdynastie Puschke zu. Dorfschullehrer über vier Generationen, die zwischen Schloss und Dorf eine besondere Stellung einnahmen. Im Familienbesitz ein Koffer voller Dokumente, darunter ein Brief von Gottliebe von Lehndorff aus dem Jahr 1947.
 
Das vierte Kapitel des Projekts erzählt von der Migration von Dingen – geraubten, zerstörten, enteigneten, verschwundenen und wiedergefundenen. Zum Beispiel von der Odyssee einer Rokoko-Kommode aus dem Lehndorffschen Schloss. Oder von unscheinbaren Alltagsgegenständen wie Ziegeln, Schüsseln, Schachteln, die Ort und Besitzer wechselten.
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Mögen die siebzehn Erzählungen dazu beitragen, dass Schloss Steinort und die entlegene masurische Region ihren Platz in Europa finden.
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Unser Dank gilt allen Interviewpartner:innen für ihre Geschichten, ihr Vertrauen. Dr. Gaby Huch, der verantwortlichen Historikerin für die Quellenedition „Lebenswelten Lehndorff“ für die großzügige Überlassung von Material und ihre geduldige fachliche Begleitung. Dr. Andreas Kossert, Dr. Joachim Mähnert und Dr. Ewa Lewandowska für Rat und Unterstützung. Bernadeta Kuklinska, die uns auf den Masurenreisen als Dolmetscherin begleitet hat. Cornelia Pieper, Generalkonsulin in Gdansk, für ihren nimmermüden, ansteckenden Enthusiasmus für Steinort. Der „Fundacja Borussia“ in Olsztyn, vor allem Kornelia Kurowska, für ihr Vorbild und vielfältige Inspirationen. Der Lehndorff-Gesellschaft für ihr Wohlwollen und mancherlei Zuarbeit. Dr. Jörn Barfod, Kurator im Ostpreußischen Landesmuseum, für archivalische Mühen. Dem Autor Jörn Jakob Rohwer für anregende Gespräche. Michael Meyer von der Kreisgemeinschaft Angerburg für Hilfe bei Recherchen. Andrzej Rzempołuch vom Muzeum Warmii i Mazur in Olsztyn, der uns mit geretteten Gemälden aus Schloss Steinort bekannt gemacht hat. Professor Kilian Heck für wertvolle Fotos, ebenso Irene Brauer von der Marion Dönhoff Stiftung, Jürgen Soetig sowie Anke Eis vom Ingenieurbüro Jäger. Marta Wojciechowska vom Museum in Kętrzyn als Gastgeberin der Premiere unseres Projekts in der Region.