Ein unscheinbarer geflochtener Bastkorb steht im Magazin der Martin Opitz Bibliothek Herne. Zwei Tragegriffe links und rechts weisen auf seinen möglichen ursprünglichen Zweck als Wäschekorb hin. Die vier Räder, die behelfsmäßig angebracht scheinen, deuten jedoch darauf hin, dass der Korb nicht nur Familiengeschichte, sondern auch Lokal- und Fluchtgeschichte erzählt.
Text
Im Oktober 1944 betritt die sowjetische Armee in
Ostpreußen
eng. East Prussia, pol. Prusy Wschodnie, lit. Rytų Prūsija, rus. Восто́чная Пру́ссия, rus. Vostóchnaia Prússiia

Ostpreußen ist der Name der ehemaligen, bis 1945 bestehenden östlichsten preußischen Provinz, deren Ausdehnung (ungeachtet historisch leicht wechselnder Grenzverläufe) ungefähr der historischen Landschaft Preußen entspricht. Die Bezeichnung kam erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Gebrauch, als neben dem 1701 zum Königreich erhobenen Herzogtum Preußen mit seiner Hauptstadt Königsberg weitere, zuvor polnische Gebiete im Westen (beispielsweise das sog. Preußen Königlichen Anteils mit dem Ermland und Pommerellen) zu Brandenburg-Preußen kamen und die neue Provinz Westpreußen bildeten.
Heutzutage gehört das Gebiet der ehemaligen preußischen Provinz überwiegend zu Russland (Oblast Kaliningrad) und Polen (Woiwodschaft Ermland-Masuren). Das ehemalige sog. Memelland (auch Memelgebiet, lit. Klaipėdos kraštas) kam erstmals 1920 und erneut ab 1945 zu Litauen.

deutschen Boden. Dies löst in den Folgemonaten zunächst in Ostpreußen, später auch in anderen Regionen große Fluchtbewegungen aus. Ab Januar 1945 ist auch das niederschlesische 
Strzelin
deu. Strehlen

Strzelin (dt. Strehlen) ist eine polnische Stadt in der Woiwodschaft Niederschlesien (poln. dolnośląskie) im südwestlichen Polen. Sie wird von ca. 12.000 Menschen bewohnt und liegt ungefähr 40 km von Wrocław/Breslau.

Ziel von Luftangriffen der sowjetischen Luftwaffe. Auf strategischen Karten bildet die beschauliche Kleinstadt einen wichtigen Eisenbahnknotenpunkt.1 In der Folge wird die Zivilbevölkerung evakuiert. Bei Temperaturen von -27 Grad tritt Gertrud Petzold mit ihrer Familie die Flucht an. In einem langen Flüchtlingstreck versucht die Familie auf Pferdewagen der Front zu entkommen. Es geht nur schleppend voran. Immer wieder muss die Straße für nachrückende Wehrmachtseinheiten freigemacht werden.
 
Auch die konstanten Luftangriffe erschweren die Flucht. Die Familie ist gezwungen den Kämpfen auszuweichen und die Grenze zur damaligen 
Tschechoslowakei
ces. Československo, slk. Česko-Slovensko, eng. Czecho-Slovakia, eng. Czechoslovakia

Die Tschechoslowakei war ein zwischen 1918 und 1992 in wechselnden Grenzen und unter wechselnden Namen und politischen Systemen bestehender Staat, dessen ehemalige Landesteile in den heutigen Staaten Tschechien, Slowakei und der Ukraine (Karpatenukraine, bereits 1939 ungarisch besetzt, ab 1945 an die Sowjetunion) aufgegangen sind. Nach 1945 stand die Tschechoslowakei unter politischem Einfluss der Sowjetunion, war als Satellitenstaat Teil des sog. Ostblocks und ab 1955 Mitglied des Warschauer Paktes. Zwischen 1960 und 1990 trug das kommunistische Land offiziell den Namen Tschechoslowakische Sozialistische Republik (abgekürzt ČSSR). Die demokratische politische Wende wurde 1989 mit der Samtenen Revolution eingeleitet und mündete 1992 in der Gründung der unabhängigen Tschechischen bzw. Slowakischen Republiken.

 zu übertreten. Hier wartet die Familie auf das Kriegsende und eine mögliche Rückkehr in ihre Heimatstadt. Die Familie kehrt, wie viele Schlesier, nach der Kapitulation der deutschen Streitkräfte am 8. Mai 1945 in ihre Heimat zurück. Das Ziel der Familie Petzold ist ihr Wohnort: Friedrichstraße 60 in Strehlen. Die Stadt ist jedoch seit dem Frühjahr 1945 von sowjetischen Truppen besetzt, welche die Verwaltung des Landkreises Strehlen und der Stadt im Juli 1945 an 
Polen
eng. Poland, pol. Polska

Polen ist ein Staat in Mittelosteuropa, ein Mitglied der Europäischen Union. Unter dem heutigen Namen ist das Land seit dem 10. Jahrhundert bekannt.

 abtritt. Gemäß den Beschlüssen der Potsdamer Konferenz (Juli bis August 1945) wird
Schlesien
ces. Slezsko, eng. Silesia, pol. Śląsk

Schlesien (polnisch Śląsk, tschechisch Slezsko) ist eine historische Landschaft, die heute überwiegend im äußersten Südwesten Polens, in Teilen jedoch auch auf dem Gebiet Deutschlands und Tschechiens liegt. Mit Abstand wichtigster Fluss ist die Oder. Nach Süden wird Schlesien vor allem durch die Gebirgsketten der Sudeten und Beskiden eingegrenzt. In Schlesien leben heutzutage knapp 8 Millionen Menschen. Zu den größten Städten der Region zählen Wrocław (hist. dt. Breslau), Opole (Oppeln) und Katowice (Kattowitz). Vor 1945 gehörte die Region zweihundert Jahre lang großteils zu Preußen, vor den Schlesischen Kriegen (ab 1740) fast ebenso lange Zeit zum Habsburgerreich. Schlesien wird in Ober- und Niederschlesien eingeteilt.

administrativ in den polnischen Staat eingegliedert.2  
Die zurückgekehrten deutschen Bewohner werden in der Folgezeit von den örtlichen polnischen Verwaltungsbehörden und von uniformierten polnischen Milizen zur Ausreise gezwungen. Nachdem Familie Petzold den Wohnort innerhalb Strehlens siebenmal wechseln musste, wird die Familie zusammen mit vielen weiteren deutschen Bewohnern am 04. August 1946 endgültig aus Strehlen vertrieben. 
Von ihrer persönlichen Habe darf die Familie kaum etwas mitnehmen. Ein Gepäckstück und die Kleidung, die sie am Körper tragen können, darf die Familie mitnehmen. Mit mehreren Lagen Kleidung geht es in der Augusthitze auf eine ungewisse Reise. Um das Wenige transportieren zu können bringt der Stellmachermeister Gerhard Schubert vier Räder an dem zum Fluchtkoffer umfunktionierten Korb der Großmutter von Gertrud Petzold an. Von den polnischen Behörden wird der Korb vor der Zugfahrt auf verbotene oder wertvolle Gegenstände durchsucht. Was die Familie an Habseligkeiten mitnehmen darf, wird im Korb auf den Zug nach Ostdeutschland verladen. 
In den beengten Waggons bietet der Korb zumindest den Kindern eine provisorische Sitzgelegenheit. Nach einer mehrtägigen strapaziösen Fahrt kommt die Familie hungrig und „verlaust“ endlich im Durchgangslager Zwickau an. Hier werden die Vertriebenen entlaust und mit dem Nötigsten versorgt, bevor es zur Umverteilung in den Westen weitergeht. In der russischen Verwaltungszone wollen die Wenigsten bleiben. So kommt die Familie von Frau Petzold am 13. August 1946 in Herne an, wo den schlesischen Vertriebenen mit Argwohn und Ressentiments begegnet wird.3 Die zehnjährige Gertrud ahnt damals noch nicht, dass ein Besuch ihrer Heimatstadt erst nach dem Fall des Eisernen Vorhanges möglich sein wird.
Die Besitzerin des Korbes überließ ihn der Heimatstube Strehlen in Herne als Ausstellungsobjekt. Nach der Auflösung der Heimatstube wurde der Fluchtkoffer 2017 zusammen mit vielen weiteren Gegenständen der Martin Opitz Bibliothek Herne zur Aufbewahrung übergeben.