Im frühen 20. Jahrhundert warben deutschbaltische Großgrundbesitzer deutsche Bauern aus Russland an. Die Zuwanderung dieser Bauern – damals deutsche Kolonisten genannt – inspirierte vielseitige Kolonialdiskurse.
Text
"Bereits am frühen Mittwochmorgen boten der Bahnhof 
Sõmerpalu
deu. Sommerpahlen, . Sõmmõrpalo, rus. Symerpalu, rus. Сымерпалу

Sõmerpalu (Bevölkerungszahl 2020: 324) ist eine städtische Siedlung im Kreis Võru, im Süden Estlands. Den Kern bildet ein Gutsbezirk aus dem 16. Jahrhundert, wobei die aktuelle Bebauung in den 1860er Jahren entstand.

 und dessen Umgebung ein Bild, das es so noch nie gegeben hat. Lange Wagenkolonnen brachten die Deutschen mit ihrem Hab und Gut aus dem Umland Sõmerpalus dahin. […] Wenige Stunden vor Abfahrt des Zuges hatten sich zusätzlich zu den Reisenden und ihren Fuhrmännern noch fast ein halbes Tausend Menschen aus der Umgebung versammelt, um ihre Nachbarn und Bekannten, viele von ihnen gute Freunde,  zu verabschieden. […] ‚Ist es schwer zu gehen?‘ frage ich einen älteren Mann. ‚Doch, ist es wohl, warum denn nicht?‘ seufzt er, ‚wieso sollte es denn auch nicht schwer sein, wenn die Verwandten hier bleiben?‘ ‚Wollten sie nicht mitfahren?‘ ‚Sie haben nicht gewusst, dass wir das Land je verlassen werden,‘ sagt er und erklärt mit schwerem Herzen: ‚Sie bleiben hier in dieser Erde begraben, meine Mutter, meine Frau und eines der Kinder. Ich werde das Land nie vergessen!1
Text
Was ist denn passiert, dass ein solch emotionaler Abschied stattgefunden hat? Im Herbst 1939 berichteten Zeitschriften in 
Estland
eng. Estonia, est. Eesti

Estland ist ein Land in Nordosteuropas. Es wird von ungefähr 1,3 Millionen Menschen bewohnt und grenzt an Lettland, Russland und die Ostsee. Die bevölkerungsreichste Stadt und Hauptstadt zugleich ist Tallinn.

Der heutige estnische Staat erlangte seine politische Unabhängigkeit erst 1991 wieder, infolge der sog. „Singenden Revolution“ in den baltischen Staaten und vor dem Hintergrund des Zusammenbruchs der Sowjetunion. Erstmals war 1918 die Unabhängigkeit Estlands ausgerufen und durch den „Estnischen Freiheitskrieg“ (1918-1920) durchgesetzt worden. Bereits 1940 wurde dieser erste estnische Staat abgelöst durch die unter sowjetischer Besatzung gegründete „Estnische Sozialistische Sowjetrepublik“. Sie war, mit Unterbrechung durch die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg (1941–1944) und mit leicht abweichendem Grenzverlauf, bis 1991 eine Teilrepublik der Sowjetunion. Vor 1918 wiederum war das Gebiet des heutigen Estlands Teil des Russländischen Kaiserreiches, wobei sein nördlicher Teil das Ostseegouvernement Estland, sein südlicher Teil die nördliche Hälfte des Ostseegouvernements Livland bildete. Im Hoch- und Spätmittelalter und zu Beginn der Frühen Neuzeit hatten Teile des heutigen Landes auch unter schwedischer, dänischer und polnischer Herrschaft gestanden, der livländische Teil bis 1561 auch unter Hoheit des Deutschen Ordens.

Seit 2004 ist Estland Teil der Europäischen Union und der NATO.

 fast täglich über deutschbaltische Umsiedlungen – mit Sorge oder Freude, wobei bei Beschreibungen des Abschieds der deutschen Bauern vor allem Mitgefühl zu spüren war.2 Die sogenannten Deutschbalten wohnten seit dem 13. Jahrhundert im heutigen Estland und 
Lettland
eng. Latvian Republic, eng. Latvia, lav. Latvija

Lettland ist ein baltischer Staat im Nordosten Europas und wird von ungefähr 1,9 Millionen Einwohner:innen bewohnt. Hauptstadt des Landes ist Riga. Der Staat grenzt im Westen an die Ostsee und an die Staaten Litauen, Estland, Russland und Weißrussland. Lettland ist seit dem 01.05.2004 Mitglied der EU und erlangte erst im 19. Jahrhundert Unabhängigkeit.

. Sie prägten die Kultur und gehörten meist zu den oberen und gebildeten Klassen. Bis zur Staatsgründung Estlands im Jahr 1918 war der Hauptteil der Oberschicht der Landesbevölkerung deutsch, die Bauern aber estnisch. Die überlappenden Klassen- und nationalen Grenzen prägten die kulturelle Dynamik. 1939 jedoch verließen die Deutschen – arm wie reich – das Land. Unter der Parole „Heim ins Reich“ wurden die Deutschbalten zumeist im 
Wartheland
pol. Okręg Warcki, pol. Okręg Rzeszy Kraj Warty, deu. Warthegau, deu. Reichsgau Posen, eng. Reichsgau Wartheland

Der Reichsgau Wartheland, auch bekannt als Warthegau, war ein nationalsozialistischer Verwaltungsbezirk im besetzten Polen, der von 1939 bis 1945 bestand. Der Reichsgau war in größeren Teilen deckungsgleich mit der historischen Landschaft Großpolen und hatte 4,5 Millionen Einwohner:innen. Hauptstadt war das heutige Poznań, dt. Posen.

Die fast sechsjährige Besatzungszeit war geprägt durch die brutale Verfolgung und Ermordung der polnischen und jüdischen Bevölkerung einerseits und der gezielten Neuansiedlung deutschsprachiger Bevölkerungsteile andererseits.

Bild: „Karte der Verwaltungseinteilung der deutschen Ostgebiete und des Generalgouvernements der besetzten polnischen Gebiete nach dem Stand vom März 1940“, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft, Kartensammlung, Inv.-Nr. K 32 II L 43. bearbeitet von Copernico (2022). CC0 1.0.

 im heutigen Polen umgesiedelt, um mit anderen umgesiedelten deutschsprachigen Minderheiten aus Osteuropa dieses vom ‚Dritten Reich‘ annektierte Gebiet zu germanisieren.
Das Baltikum als älteste Kolonie Deutschlands
Text
Die konkreten kolonialen Beziehungen der Deutschen zum Baltikum wurden mit dieser Umsiedlungsaktion beendet. Auf der diskursiven Ebene jedoch war das Baltikum noch während des Zweiten Weltkriegs eine deutsche Kolonie. Seit dem 19. Jahrhundert wurden das Baltikum sowohl von den Deutschbalten als auch von den deutschen Intellektuellen als deutsche Kolonien betrachtet. In der Zeit der großen Kolonialreiche, in der die Ostkolonisation als der erste Akt des europäischen Kolonialismus angesehen wurde, konnten die Deutschen am Beispiel des Baltikums ihre eigene ruhmreiche Kolonialgeschichte schreiben. Die Vorstellung von den baltischen Staaten als deutsche Kolonien stützte nicht nur die deutschen Geschichtsnarrative, sondern wurde auch zu einem der zentralen Punkte der deutschbaltischen Identität.3 Dieses Narrativ ist für das Verständnis der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der baltischen Staaten noch heute von Bedeutung.
In den deutschbaltischen Medien wurde Estland nur in jener Zeit als deutsche Kolonie thematisiert, in der das Land offiziell unter deutscher Herrschaft stand. Das Narrativ der baltischen Staaten als deutsche Kolonien wurde in den deutschsprachigen Publikationen unverhohlen kommuniziert. Zum Beispiel wurde in der Rede zur Wiedereröffnung der Universität Tartu in 1918 die „Bitte um dauernden Schutz des Deutschen Reiches für seine älteste Kolonie“ geäußert.4  Aber auch während des Zweiten Weltkriegs blieb die Idee einflussreich: „Hier im Gebiet der Anliegerstaaten der Ostsee wird der praktische Anfang gemacht mit den Nachfahren der Deutschen, die einst selbständig ‚des Reiches älteste Kolonie‘ gründeten.“5 Diese und ähnliche Äußerungen geschahen zeitgleich mit dem Generalplan Ost, in dessen Zuge Millionen Menschen entweder getötet oder deportiert werden sollten, um ‚Lebensraum‘ für die anzusiedelnde deutsche Bevölkerung zu schaffen. 
Wenn das Baltikum eine historische Kolonie Deutschlands war, dann war auch die Fortsetzung des Siedlerzustroms durch Bauern eine logische Konsequenz aus diesem Diskurs. Die Siedlungspläne – die zum Beispiel während des Ersten Weltkriegs „deutsche[] Grundbesitzer mit den kaiserlichen Generälen [...] schmiedeten, um das Land mit deutschen Kolonisten zu besiedeln und die Bevölkerung zu germanisieren““6  – waren für die estnischen Medien eine Tatsache, die man als eine der Ursachen für die Landreform im Jahr 1919 sah. Aber ungeachtet der Pläne, die während der deutschen Okkupation gemacht und diskutiert, aber nie realisiert wurden, gab es schon vorher deutsche Siedler in Estland. Deren Dasein wurde medial häufig thematisiert, wodurch die Sorge der Esten bestärkt wurde, deutsche Arbeiter könnten ihnen das Land wegnehmen.
Deutsche Kolonisten in Estland
Text
Die Deutschen, die so traurig Sõmerpalu verließen, waren während einer Zeit ins Baltikum gekommen, in der die kolonisierende und zivilisierende Rolle der Deutschbalten in Estland und in Lettland in der gesellschaftlichen Diskussion in Deutschland stark betont wurde. Ab 1912 hatte der Gutsbesitzer Friedrich von Moeller in Sõmerpalu die Grundstücke an Kolonisten aus 
Wolhynien
eng. Volhynia, pol. Wolyń, ukr. Воли́нь, ukr. Wolyn, deu. Wolynien, lit. Voluinė, rus. Волы́нь, rus. Wolyn

Die historische Landschaft Wolhynien liegt in der nordwestlichen Ukraine an der Grenze zu Polen und Belarus. Bereits im Spätmittelalter fiel die Region an das Großfürstentum Litauen und gehörte ab 1569 für mehr als zwei Jahrhunderte zur vereinigten polnisch-litauischen Adelsrepublik. Nach den Teilungen Polen-Litauens Ende des 18. Jahrhunderts kam die Region zum Russischen Reich und wurde namensgebend für das Gouvernement Wolhynien, das bis ins frühe 20. Jahrhundert Bestand hatte. In die russische Zeit fällt auch die Einwanderung deutschsprachiger Bevölkerungsteile (der sog. Wolhyniendeutschen), die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fand. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Wolhynien zwischen Polen und der ukrainischen Sowjetrepublik aufgeteilt, ab 1939, infolge des Hitler-Stalin-Paktes, vollständig sowjetisch und bereits 1941 von der Wehrmacht besetzt. Unter deutscher Besatzung kommt es zur systematischen Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung sowie weiterer Bevölkerungsgruppen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte Wolhynien erneut zur Ukrainischen Sozialistischen Sowjetrepublik und seit 1992 zur Ukraine. Die Landschaft ist namensgebend für die - räumlich nicht exakt deckungsgleiche - heutige ukrainische Oblast mit der Hauptstadt Luzk (ukr. Луцьк).

 verkauft oder verpachtet. In Wolhynien hatten sich während des 19. Jahrhunderts ca. 170.000 Deutsche niedergelassen. Für deren große Familien wurde das Land knapp und es gab Spannungen zwischen dem russischen Staat und der deutschsprachigen Bevölkerung. Deshalb wurden Möglichkeiten für eine Auswanderung gesucht: Neben den USA und Sibirien war auch das Baltikum ein neuer Heimatort deutschstämmiger Umsiedler.
Seit den 1860er Jahren, überwiegend aber in den Jahren 1906 bis 1914, beschäftigten deutschbaltische Großgrundbesitzer deutsche Bauern aus Russland als Arbeiter. In diesen Jahren kamen rund 10.000 Bauern ins Baltikum, die meisten nach 
Kurland
eng. Courland, lav. Kurzeme

Kurland ist eine historische Landschaft im Westen und Süden des heutigen Lettlands. Sie wird im Westen und Norden durch die Ostsee und den Rigaischen Meerbusen, im Nordosten durch den Fluss Düna sowie im Süden durch Litauen begrenzt. Zu den größten Städten Kurlands gehören Jelgava, Ventspils und Liepaja.

Das heutige Verständnis der Region ist stark geprägt durch historische territoriale Zusammenhänge. Prägend ist unter anderem das Gouvernement Kurland, das als eines der drei Russländischen Ostseegouvernements seit 1795 und formal bis 1918 bestand. Dazu gehörten eigentlich noch die kleineren Regionen Semgallen und Oberlettland, die den zentralen bzw. östlichen Teil des Gouvernements bildeten. Sie sind heute vielfach mitgemeint, wenn im historischen Zusammenhang von Kurland gesprochen wird.

Kurland wurde zudem erst mit der Dritten Teilung Polen-Litauens in das Russländische Reich integriert, und damit deutlich später, als die weiteren beiden Ostseegouvernements Estland und Livland, die bereits im Zuge des Großen Nordischen Krieges (1700–1721) unter russische Herrschaft gekommen waren. Kurland wiederum war als Herzogtum Kurland und Semgallen noch bis 1795 polnisches Lehen, stand aber bereits zuvor unter starkem russischem Einfluss.

 im heutigen Lettland. Der Arbeiterzuzug war aus wirtschaftlichen, aber auch aus nationalen Gründen notwendig. Einerseits herrschte ein Mangel an loyalen Landarbeitern: Die Revolution von 1905 führte bei vielen Gutsbesitzern zu einem Vertrauensverlust gegenüber der einheimische Bevölkerung. Dies, in Kombination mit der Landflucht oder Migration von Esten und Letten nach Russland, erschwerte die Bewirtschaftung der Güter.7 Andererseits ist es fragwürdig, ob die Arbeiterbeschaffung aus Russland im Vergleich zu anderen möglichen Maßnahmen (wie zum Beispiel der Verbesserung der Arbeitsbedingungen für die lokale Bevölkerung oder der generellen Modernisierung der Gutswirtschaft) wirklich kostengünstiger war. Für zumindest einen Teil der Gutsbesitzer spielten nationale Überlegungen eine Rolle: Auf jeden Fall wurde auf die Loyalität der deutschsprachigen Arbeiter gehofft, aber auch auf die generelle Stärkung des Deutschtums im Baltikum.
Auf dem Territorium des heutigen Estlands entstanden zwei Bauernkolonien: eine in der Gemeinde Sõmerpalu, eine andere in verstreuter Form in Visusti und Kaarepere. Andere russlanddeutsche Siedler lebten eher verstreut über ganz Livland, dem heutigen Süd-Estland. Bis dahin war der Bauernstand in Estland fast ausschließlich estnisch gewesen. Die deutschsprachigen Einwanderer, die vorher in Russland in Wolhynien oder auch im Wolgagebiet wohnten, passten nicht in das bisherige gesellschaftliche Bild eines gebildeten Deutschen. Während deutschbaltische Adlige in der Regel als Kolonialherren galten, die durch Zivilisierungsrhetorik die eigenen politischen und wirtschaftlichen Interessen verteidigten, ist die Haltung in der estnischen Presse gegenüber den russlanddeutschen Ansiedlern ambivalent.
Kolonisten im Medienspiegel: Fremdheitsdiskurse und Tüchtigkeit
Text
Die deutschen Landarbeiter wurden „Kolonisten“ genannt und die estnische Presse schrieb regelmäßig und ausführlich über deren Ankommen und ihre Schwierigkeiten. So zum Beispiel im folgenden Text, in dem ein estnischer Journalist Einblick in den Landarbeiterimport gibt und berichtet, was ihm deutsche Kolonisten im südestnischen Gut Tarvastu über ihre Erfahungen in Estland erzählten: „‚Wir sind daran gewöhnt, fünfmal pro Tag zu essen und jeden Tag wurde normalerweise dreimal gekocht. Hier kannst du nur dreimal essen; vom Kochen ganz zu schweigen. Was kocht man auch, wenn man nichts hat, was man in den Topf werfen kann? Das Gehalt ist so schmal, dass man sich nicht satt essen kann!‘ Aber die Esten bekommen doch nur halb so viel Gehalt wie ihr? ‚Ja, aber wir sind Deutsche! Wir wollen uns satt essen wie normale Menschen!‘“8 
Die deutschen Bauern wurden als Fremde dargestellt. Einerseits wich Ihr Erscheinungsbild und Verhalten stark von dem der Deutschen in den höheren sozialen Klassen ab: Sie waren einfach gekleidet und wenig gebildet. Andererseits hatten sie höhere Ansprüche an Lebens- und Arbeitsbedingungen und galten dadurch in der Presse als zu fein, um gute Arbeiter zu sein. Im direkten Vergleich mit den Esten wurde die neue deutsche Landbevölkerung häufig auch als kulturell sowie bezüglich ihrer Arbeitsmethoden als weniger zivilisiert dargestellt. Insofern stärkte nicht nur die Abgrenzung gegenüber den Deutschbalten das nationale Bewusstsein der Esten im 19. und 20. Jahrhundert, auch der starke Fremdheitsdiskurs über die deutschen Bauern förderte die Identitätsbildung der lokalen Bauern. Jedoch führte die Idee von den Deutschen als Fremde nicht zu direkten Auseinandersetzungen; Esten und Deutschen lebten verhältnismäßig harmonisch in denselben Ortschaften nebeneinander.
Text
Die Ansiedlung der deutschen Bauern in Estland wurde von den Deutschbalten in der Öffentlichkeit weniger diskutiert. Und wenn doch, dann wurden die Kolonisten im inneren Russlands als arbeitswillige und tüchtige „Musterbauern“ beschrieben, deren hübsche Kolonien mit den verhältnismäßig verwahrlosten russischen Dörfern in der Nachbarschaft verglichen wurden.9 Die deutschen Kolonisten im Baltikum wurden dagegen kaum in der Öffentlichkeit diskutiert, um so keine unerwünschte Aufmerksamkeit seitens der russischen Regierung zu wecken.10 So kommentierten die deutschen Zeitungen zumeist nur die Aussagen der estnischen oder lettischen Presse und berichteten nur selten von sich aus über die Kolonisten: „Auf einem der großen Rittergüter in Südlivland ist eine aus vierzig Gliedern bestehende Partie deutscher Kolonisten aus dem Reichsinnern eingetroffen. Weitere vom Gutsbesitzer engagierte Kolonisten werden erwartet; im Ganzen 70 männliche Arbeitskräfte mit deren Familien. Sie haben viel Lust und Freude an der Arbeit mitgebracht.“11  So war der deutsche Blick auf die Kolonisten wohlwollender und deren Tüchtigkeit – im Gegensatz zur estnischen Darstellungen von faulen Arbeitern – wurde zu einem häufig gelobten Merkmal. 
Der Blick auf die deutsche Bauern im Baltikum kam von außen: von Esten und Deutschen, die über sie berichteten. Die Selbstwahrnehmung deutscher Bauern spiegelt sich nur in wenigen Texten wider. Die Bauern waren zwar für die Diskurse wichtig, ihre eigene Meinung aber nicht. In der Zwischenkriegszeit wurden längere Reportagen über deutsche Kolonisten veröffentlicht, in denen verschiedentlich ihre Äußerungen zitiert werden.12 In diesen Situation war es nicht mehr notwendig, die Deutschen als Konkurrent zu sehen und sie als arbeitsunwillig oder unordendlich zu beschreiben.
Kolonisten in der estnischen Presse
Text
Die Zeitschriften, die in Estland vor 1940 erschienen, liegen weitestgehend digitalisiert vor. Dadurch ist es möglich, die Methodik des sogenannten „Historian's Macroscope“13  zu verwenden: Wenn Quellen im größeren Maßstab betrachtet werden, lassen sich Muster und Verbindungen erkennen, die mit traditionellen Methoden schwer ermittelbar wären. Für die Analyse der digitalisierten Zeitungen eignen sich die Methoden des Text Mining, wie zum Beispiel die Suche nach Worthäufigkeiten oder immer wieder zusammenhängende Wortsequenzen. So lässt sich etwa erkennen, wie häufig über Kolonisten berichtet wurde.
Text
Die Datengrundlage für die Grafik finden Sie hier.
Text
Das Interesse der Tagesmedien an den Kolonisten war am größten in den ersten Jahren nach ihrer Ankunft im Baltikum und nahm in den Jahren zwischen den Weltkriegen ab. Eine deutliche Zunahme ist 1918 zu beobachten, dem Jahr, in dem Estland erstmals seine Unabhängigkeit proklamierte. 1919 fand eine der radikalsten Landreformen Europas nach dem Ersten Weltkrieg statt, unter anderem motiviert durch Sorgen um eine mögliche weitere deutsche Kolonisation des gesamten Landes.  Einige Deutsche verließen nach der Reform das Land, viele aber blieben – auch in den Bauernkolonien. Über diese Kolonien wurde immer wieder berichtet, am intensivsten in den späten 1920er Jahren. 
Text
Die Datengrundlage für die Grafik finden Sie hier.
Text
Der statistische Überblick der  Konkordanzen
Konkordanz
Konkordanz bezeichnet die unmittelbare sprachliche Umgebung eines bestimmten Wortes oder einer Phrase in einem Text. Sie umfasst die Wörter oder Phrasen, die vor und nach dem Zielwort stehen und den Kontext dieses Begriffs bilden. In der Linguistik und im Text Mining wird die Konkordanzmethode verwendet, um häufige Zusammenhänge und Muster zwischen Wörtern in einem Textkorpus zu entdecken und zu analysieren.
 zum Begriffs „kolonist“ zeigt, welche Themen in Verbindung mit Kolonisten erörtert wurden. Der größte Teil dieser Verbindungen stellt die Kolonisten in den Zusammenhang von Fragen der Nationalität und zu ihren Herkunfts- und Zielländer, wobei die deutsche Herkunft offenkundig das wichtigste Merkmal war. Auch der Begriff „Land“ wurde häufig in Verbindung mit Kolonisten thematisiert, daneben Güter und deren Besitzer. Sehr häufig findet sich die passive Verbform „gebracht“. Dies betont die Ansiedlung als einen Prozess, bei dem die lokalen Deutschbalten aktiv waren: Die Kolonisten kamen nicht aus eigener Initiative. Fragen zu verschiedenen Nationalitäten und deren Anrecht auf Landbesitz waren also zentrale Themen der gesellschaftlichen Diskussion über die deutschen Kolonisten.
Fremdheitsdiskurs und Kolonisierungsangst
Text
Die russlanddeutschen Bauern wurden von deutschbaltischen Gutsbesitzern ins Baltikum geholt. Die Medienanalyse zeigt, dass die Esten solche Ansiedlungsprojekte besorgt betrachteten und beschrieben. Die Existenz der ‚andersartigen‘ Bauern war vor Beginn der nationalen Unabhängigkeit für die Esten Indiz für die kolonialen Absichten der Deutschen. Das Wort „Kolonist“ steht in den estnischen Tageszeitungen in engem Zusammenhang mit ihrer deutschen Herkunft und Fragen des Landbesitzes. Die estnische Presse zeigte Kolonisten häufig als Fremde, die kaum fähig waren, in diesem Land zu arbeiten. Auch in der Zeit der Estnischen Republik, mit deren Proklamation der deutsche Kolonialismus Teil der Vergangenheit bzw. zu einem historischen Diskurs wurde, waren die deutschen Ansiedler noch da, auch wenn deren Kinder durch die Schule in die estnische Gesellschaft integriert wurden. Der Abschied im Jahr 1939 war für die Kolonisten aus dem südestnischen Sõmerpalu schwierig, weil sie nicht nur ihre Häuser und ihren Landbesitz, sondern auch ihre über Jahrzehnte geformten Bindungen mit der lokalen Bevölkerung zurückließen. Die deutsche Bauern, die über die Unabhängigkeitsperiode Estlands hinweg geblieben sind, waren nun nicht mehr als Kolonisten angesehen, sondern Teil der lokalen Gemeinschaft.

Siehe auch