Kann man denn zu einhundert Prozent ‚deutsch‘ sein? Gegenfrage: Kann man auch nicht zu einhundert Prozent ‚deutsch' sein? Und was bedeutet das überhaupt, das ‚Deutsche'? Zumal in Zahlen? Wie legt man das fest, wer bestimmt es?
Einleitung
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Das sind Fragen, die in meinem Forschungsprojekt über Kinder von sogenannten ‚(Spät-)Aussiedler:innen‘ aufkamen. Die Menschen, die ich dabei interviewte, sind alle in Deutschland, genauer in Baden-Württemberg, geboren und aufgewachsen. Während der insgesamt zwölf Interviews, die zwischen April 2020 und August 2021 geführt wurden, waren die elf Interviewpartner:innen zwischen 17 und 31 Jahre alt. Ihre Eltern und Großeltern waren in den 1980er und 1990er Jahren aus einem Dorf im Nordwesten 
Rumänien
ron. România, eng. Romania

Rumänien ist ein von knapp 20 Millionen Menschen bewohntes Land in Südosteuropa. Die Hauptstadt des Landes ist Bukarest. Der Staat liegt direkt am Schwarzen Meer, den Karpaten und grenzt an Bulgarien, Serbien, Ungarn, die Ukraine und Moldau. Rumänien entstand 1859 aus dem Zusammenschluss der Moldau und der Walachei. In Rumänien liegt das für die dortige deutsche Minderheit zentrale Gebiet Siebenbürgen.

s ausgewandert. ausgewandert. Die Gründe für die Auswanderung waren unter anderem, dass Menschen dem politischen System entfliehen oder ihre ethnokulturelle Identität bewahren wollten, in Deutschland bessere Bildungs- und Karrierechancen für sich und ihre Kinder sahen – oder schlicht Angst hatten, als Einzige in Rumänien zurückzubleiben. Nach dem Fall des Ceaușescu-Regimes 1989 wanderten deshalb besonders viele Deutschsprachige aus Rumänien aus. Viele von ihnen kamen als ‚Aussiedler:innen‘ – das bedeutet, dass sie zwischen 1945 und 1992 in einem Land im östlichen Europa gelebt, sich aber als ‚deutsche Volkszugehörige‘ erklärt haben. Die Bundesregierung nahm für solche Menschen ein spezifisches Kriegsfolgenschicksal an. Das bedeutet, sie ging davon aus, dass diese Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit unter Benachteiligungen litten. Daher ermöglichte sie ihnen die Einbürgerung in die Bundesrepublik Deutschland. Ab dem 1. Januar 1993 wurde Menschen, die sich als ‚deutsch‘ erklärten und auf dieser Basis nach Deutschland einwandern wollten, nicht mehr der Status ‚Aussiedler:in‘, sondern der Status eines:einer ‚Spätaussiedler:in‘ verliehen. Das Gesetz, das die Aufnahme von ‚(Spät-)Aussiedler:innen‘ in die Bundesrepublik Deutschland regelt, heißt „Bundesgesetz für die Vertriebenen und Flüchtlinge" (kurz Bundesvertriebenengesetz oder BVFG).
Bereits im Mittelalter hatten sich deutschsprachige Kolonist:innen auf dem Gebiet des heutigen Rumänien angesiedelt, im 18. Jahrhundert kamen durch Anwerbung weitere hinzu. Diese als ‚Rumäniendeutsche‘ bezeichnete Personengruppe unterscheidet sich historisch, sozial, kulturell, politisch und ökonomisch. Vor dem Zweiten Weltkrieg lebten etwa 745.000 deutschsprachige Personen auf diesem Gebiet. Die Zahl Deutschsprachiger in Rumänien verringerte sich im Zweiten Weltkrieg durch Umsiedlungen, Flucht und zivile sowie militärische Opfer, später auch durch Repressionen. Ein Großteil der ‚Rumäniendeutschen‘ lebt heute in der Bundesrepublik Deutschland, die von 1950 bis 2016 430.000 ‚(Spät-)Aussiedler:innen‘ aus Rumänien aufgenommen hat.
Nicht zu hundert Prozent ‚deutsch‘
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Dem Gesetz nach sind die Menschen, mit denen ich für das Forschungsprojekt gesprochen habe, Deutsche. Dennoch empfinden sie das unterschiedlich: Einige von ihnen erklärten mir, vollkommen ‚Deutsch‘ zu sein, sogar, wie der 30-jährige Sebastian1  „deutscher als die Deutschen“:

Ich hatte keine Identitätskrise, ich war Deutscher, meine Familie hat immer nur schwäbisch gesprochen […] [,] ich bin geboren in N., […] bin mein ganzes Leben in Z. aufgewachsen und in N. zur Schule gegangen und [...] war deutscher als die Deutschen [...]2 

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Sebastian und andere betonten, kein ‚rumänisches Erbe‘ von ihren Eltern und Großeltern übernommen zu haben. Andere hingegen setzten sich mit dem Gedanken auseinander, ‚gemischt‘ zu sein. Sie empfanden nicht nur Zugehörigkeit zur deutschen Gesellschaft, sondern auch zu Rumänien. Das drückten sie beispielsweise in Prozenten aus; sie teilten ihre Zugehörigkeit regelrecht auf, und vermerkten so, sie seien „nicht zu hundert Prozent ‚deutsch‘“, wie die 25-jährige Studentin Lisa aus Mannheim.  

Also, ich würde mich schon… als ‚deutsch‘ identifizieren, weil ich hier geboren bin. Und weil ich hier ((Ausatmen)) im Kindergarten war, und in der Schule, und alles, und deutsche Freunde hab‘, […] aber… trotzdem ich natürlich noch einen Bezug hab‘ zu Rumänien, durch meine Eltern und durch meine Familie, die noch… dort… wohnt. Es ist ‘ne Mischung, bei der ich sagen würde, vielleicht mehr deutsch als… rumänisch. Achtzig Prozent, zwanzig Prozent vielleicht.3 ((Lachen))

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Lisa erklärt ihre Zugehörigkeit aufgrund der Erfahrungen, die sie in der Vergangenheit gemacht hat: Sie wurde in Deutschland geboren, im deutschen Bildungssystem sozialisiert, hat deutsche Freunde. Lisa ist in Deutschland aufgewachsen, und deshalb fühlt sie sich ‚deutsch‘. Sie fühlt sich aber auch Rumänien verbunden, weil ihre Eltern von dort stammen, und weil sie Verwandte hat, die in Rumänien leben und die Lisa oft besucht. In Lisas Erzählungen zeigt sich, dass sie bei der Aushandlung ihrer Identität weniger auf rumänische Identitätsangebote als auf deutsche zurückgreift.    
Lisa zeigt hier nicht nur wortwörtlich, dass Zugehörigkeit nicht hundertprozentig eindeutig sein muss. Außerdem arbeitet sie mit Kriterien wie Abstammung, die Zugehörigkeit mitbestimmen. Diese Kriterien haben andere geschaffen und wir beziehen uns auf diese, um uns einzuordnen. Das bedeutet: Lisa hat diese Kategorie der Zugehörigkeit nicht erfunden, aber sie bezieht sich darauf und verhandelt, was sie für sie bedeutet.
Zugehörigkeit ist durch diese Einordnung außerdem abgrenzend. Das heißt: die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, zu einer Generation, zu einer Nation, aber auch zu einem Geschlecht oder der Fangemeinde einer Fußballmannschaft verhandeln Menschen, indem sie sich von anderen abgrenzen. Fließende Zugehörigkeiten wie die von Lisa sind daher spannungsreich, weil sie nicht eindeutig sind. Außerdem können wir deshalb an der Vorstellung vom ‚Eigenen‘ immer auch erkennen, wie sich eine Gesellschaft das ‚Andere‘ vorstellt, und umgekehrt.4 
Lisa wendet an sich selbst das Wissen darüber an, was ‚deutsch‘ ist. Sie begründet ihr ‚Deutsch-Sein‘ damit, wo sie geboren und aufgewachsen ist. Außerdem hat sie Freunde, die sie als ‚deutsch‘ bezeichnet, ist also entsprechend vernetzt. ‚Deutsch-Sein‘ hat für sie also etwas mit der Verbundenheit zu einem bestimmten Ort zu tun. Lisa ist aber nicht nur innerhalb Deutschlands vernetzt, sondern auch über die Landesgrenzen hinweg – also transnational.
Zugehörigkeit als Vorstellung vom ‚Eigenen‘ und ‚Fremden‘
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Lisa und die anderen Interviewpartner:innen berufen sich auf ein Konzept von Zugehörigkeit, in dem örtliche Verbundenheit, aber vor allem Abstammung eine große Rolle spielt. Dieses Konzept war lange ausschlaggebend dafür, wie die Gesellschaft Zugehörigkeit zu Deutschland als Nation verhandelt hat. Daher wirkte es sich auch auf den Umgang mit Migration aus. (Spät-)Aussiedler:innen durften aufgrund ihres individuellen Bekenntnisses zum ‚deutschen Volkstum‘ einwandern. Als Beweis dafür gelten laut dem BVFG bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache oder Erziehung, Kultur. Die Antragsteller:innen begründeten ihre Zugehörigkeit daher nicht nur mit ihrer Abstammung, sondern häufig auch mit den in ihrer Familie erworbenen Sprachkenntnissen. Wurde der Antrag bewilligt, erhielten sie die deutsche Staatsbürgerschaft. Anders erging es beispielsweise Gastarbeiter:innen, eine andere Gruppe von Einwander:innen in der BRD nach 1945. Schon die Bezeichnung ‚Gastarbeiter:innen‘ lässt vermuten, dass sich diese Menschen nur vorrübergehend in Deutschland aufhalten sollten – nicht längerfristig. Das Pendant in der DDR sind die sogenannten ‚Vertragsarbeiter:innen‘, die aus sozialistischen Bruderstaaten der DDR stammten, und ebenfalls nur zum Zweck der Arbeit einreisten.5
Seit dem Jahr 2000 erhalten Kinder von eingewanderten Eltern, die in Deutschland geboren wurden, durch das Geburtsortsprinzip (ius soli) die deutsche Staatsbürgerschaft zusätzlich zur Staatsbürgerschaft ihrer Eltern. Gesamtgesellschaftlich herrscht dennoch immer noch die Ansicht vor, dass diese Menschen, obwohl sie in Deutschland geboren wurden, dort aufgewachsen sind und einen deutschen Pass haben, keine ‚richtigen‘ Deutschen sind. Viele Mitbürger:innen empfinden diese Personen als nicht zugehörig, und sie können nach der Vorstellung vom Abstammungsrecht auch niemals ‚richtige‘ Deutsche werden. Außerdem stehen sie als Eingewanderte oder Nachkommen von Eingewanderten immer auf dem Prüfstand: Verhalten sie sich beispielsweise entsprechend ‚deutscher‘ Werte? Eine unhinterfragte Zugehörigkeit ist auf diese Weise niemals zu erreichen.6 Auch den Kindern von ‚(Spät-)Aussiedler:innen‘ aus Hamroth in ihrer Kindheit wurde immer wieder vermittelt, dass sie als ‚nicht zugehörig‘ gelten. 
Viele Menschen in Deutschland sind nicht bereit, ein solches Absprechen von Zugehörigkeit zu akzeptieren, und bringen sich in den Diskurs ein. Durch die Beschäftigung mit Erfahrungen der Migration hat sich gezeigt: Unsere Gesellschaft ist vielfältiger als der ‚Normalfall‘. Vor allem war sie zu keinem Zeitpunkt genau gleich, sondern hat sich immer verändert und wird dies auch immer tun. Ebenso war und ist die Vorstellung, was zum ‚Deutschsein‘ dazugehört, niemals beständig, sondern wird stetig neu verhandelt und weitergedacht: Sie transformiert sich im Alltag durch Diskussionen, Erzählungen, Rückfragen, Zuschreibungen.7 Das spiegelt sich in Konzepten wie dem der ‚ Postmigrantischen Gesellschaft
Postmigrantische Gesellschaft
Postmigrantisch (lat. post: ‚hinter‘, ‚nach‘) bezeichnet eine Perspektive, die sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen und Identitätsfragen beschäftigt, die nach Migrationsprozessen entstehen. Es geht darum, wie Migration Gesellschaften prägt, Vielfalt normalisiert und Identitätskonzepte hinterfragt, jenseits von klassischen Einwanderungsdiskursen. Eine postmigrantische Forschungsperspektive versteht Wissen als prozesshaft und von Menschen hergestellt, und erforscht beispielsweise die Wissensproduktion über Migrant:innen und Gesellschaft. So wird es auch möglich, globale Verflechtungen in den Blick zu nehmen und nicht nur innerhalb nationaler Container zu denken.
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Differenzerfahrungen
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Lisa und die anderen Interviewpartner:innen sprechen davon, dass sie schon in ihrer Kindheit Wissen über gesellschaftliche Normen und ihr Abweichen von diesen Normen gesammelt haben. Das war Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre. Die 23-jährige Studentin Laura aus Tübingen vergleicht ihre damaligen Erfahrungen mit heutigen Gegebenheiten:

Ich hatte den Eindruck, damals in der Grundschule… war das noch nicht so. Und auch […] später […] war ich auch immer ein bisschen vorsichtig, weil ich dann den Leuten… nicht von Anfang an […] auf die Nase binden wollte, wo meine Familie herkommt. Ich hab' den Eindruck, dass damals das Verständnis noch nicht so… da war, oder vielleicht auch nicht die Akzeptanz.8

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Laura machte die Erfahrung, anders zu sein und nicht einer bestimmten Norm von ‚Deutsch-Sein‘ zu entsprechen. Die heutige Gesellschaft empfindet sie als offener gegenüber Migration und Mobilität. Als Kind verbarg sie lieber, dass ihre Eltern aus einem anderen Land kommen. Sie wollte zu einer als positiv angesehenen Mehrheitsgesellschaft dazugehören und hatte Angst vor der Reaktion auf die Herkunft ihrer Eltern.
Die Interviewpartner:innen erlernten in alltäglichen Erfahrungen des Andersseins Wissen über ‚deutsche‘ Zugehörigkeit und deren Kriterien. Als Erkennungszeichen für das Anders-Sein nannten sie unter anderem Sprache. Sie beschrieben das grammatikalisch korrekte und akzentfreie Sprechen von Hochdeutsch oder das Sprechen des ‚richtigen‘ örtlichen Dialekts als ‚unauffällig‘. In diesen Fällen verhandelten sie die Differenz ihrer Eltern, die einen ‚anderen‘ schwäbischen Dialekt sprechen. Manchmal geschah das auch beim Sprechen über Freund:innen, die durch nicht akzentfreie Sprache und grammatikalische Fehler aufgefallen waren. In solchen Situationen ordneten sich die Interviewpartner:innen oft in eine Zwischenposition ein. Dabei dachten sie darüber nach, im Vergleich zu anderen aus der Norm fallenden Personen doch ziemlich unauffällig zu sein. Auf diese Weise erstellten sie eine ‚Hierarchie der Unauffälligkeit‘, die Vorstellungen von einer auf Abstammung basierenden Zugehörigkeit entspricht.
Viele der Interviewpartner:innen empfanden sich aber wie Lisa als ‚nicht ganz deutsch‘ und deuteten das positiv und selbstbestimmt. ‚Nicht ganz deutsch‘ zu sein, kann auch bedeuten, besonders zu sein. Die Interviewpartner:innen deuteten ihre gemischte Zugehörigkeit zu einer positiven Eigenschaft um, die sie in der heutigen Gesellschaft auszeichnet. Damit erkennen sie auch die Migrationserfahrung ihrer Familie an, die ihre Zugehörigkeit nicht einschränkt, sondern bereichert. Sie verleiht ihnen eine erweiterte Reichweite im Denken und Handeln, erweiterte Beweglichkeit zwischen Nationalstaaten und die daraus resultierenden Chancen. Mit solchen rückblickenden Selbsterzählungen schreiben die Interviewpartner:innen beispielsweise Diskurse um Ablehnung und Aneignung im rumänisch-deutschen Kontext weiter. Mehrfachzugehörigkeit als postmigrantisch-globales Phänomen erfährt so gesellschaftliche Wertzuschreibung und eine positive Umdeutung.

Siehe auch