Plünderfieber
Der Historiker Marcin Zaremba beschreibt in „Die große Angst. Polen 1944–1947: Leben im Ausnahmezustand“ eine erschütterte Gesellschaft. Plünderungen, das zeigt folgender Auszug aus dem Buch, stießen dabei vielerorts auf Akzeptanz statt Ächtung.
Im Sommer 1945 lebten die Polen vom „szaber“, von Plünderungen.1 Entweder redeten sie darüber oder sie nahmen aktiv daran teil. Man pflegt einen solchen Zustand kollektiver Emotionen, ausgelöst durch die Perspektive auf schnelle Bereicherung, als „Fieber“ zu bezeichnen. „Ich wage zu behaupten“, schrieb ein Feuilletonist der in Kielce und Radom erscheinenden Zeitung „Dziennik Powszechny“ im Juli 1945, „dass (...) die große Mehrheit unserer Gesellschaft bereits geplündert hat, gerade plündert, oder zu plündern vorhat. Diejenigen, die Angst davor haben, sind neidisch auf diejenigen, die sich schon dazu entschieden haben.“2 Diese Aufgeregtheit nach dem Krieg verhält sich umgekehrt proportional zu dem, was wir heute zum Thema Plünderungen finden können.3 Das Phänomen wurde mental verdrängt, obwohl die Gegenstände, die man damals mitgehen ließ, noch heute so manche Wohnung schmücken. Mit der Abwesenheit im historischen Diskurs ist ein spürbares Gefühl von Verlegenheit und Scham verbunden, dass so viele polnische Bürger an den Plünderungen beteiligt waren. Die entstandene kognitive Dissonanz – zwischen dem tatsächlichem Verhalten der Polen und ihrem idealisierten Bild – versucht man zu aufzulösen, indem man die Plünderungen als eine Art Rache an den Deutschen für deren Verbrechen und Plünderungen deutet. Es stimmt, dass die antideutsche Haltung und der Wunsch, Vergeltung an den Besatzern zu üben, eine treibende Kraft der plündernden Menge in den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten waren, nicht unbedingt aber die wichtigste. Welche Motive veranlassten die Polen zu plündern, wie verliefen diese Plünderungen und welche mentalen Folgen hinterließen sie?
(…)
(…)
Gründe und Konsequenzen
Die Plünderungen waren eine Folge der Demoralisierung des Krieges und vertieften diese zugleich. Der stellvertretende Woiwodschaftskommandant der Bürgermiliz in Niederschlesien berichtete im November 1945:
„(...) eine Sache, die einem Ankömmling in Niederschlesien sofort ins Auge fällt, ist die moralische Verdorbenheit, die jeden allerorts erfasst. Man findet sie unter Staatsanwälten und Landräten, im Woiwodschaftapparat, auf allen Ebenen des Verwaltungs-, Gerichts- und Sicherheitsapparats sowie in allen gesellschaftlichen Schichten. Dazu eine Welle von Menschen, die einzig kommen, um zu stehlen was sie können und es nach Zentralpolen zu bringen. Korruption ist an der Tagesordnung und man kann überall alles für Geld erledigen. Plünderung, oder eigentlich Diebstahl öffentlichen Eigentums, ist beinahe ein Bestandteil der Luft, die man hier atmet. Ein Begriff von elementarer Ethik ist vollkommen abhanden gekommen.“4
Plünderungen wurden in Polen ein Bestandteil der Luft, ein Element des Lebensstils der Nachkriegszeit. Außerhalb des offiziellen Diskurses der Intelligenz fand kaum jemand an den Plünderungen etwas Schlechtes. Im Gegenteil: Die auf diesem Weg ergatterten Dinge, waren Gegenstand des Stolzes. Man zeigte sie sich gegenseitig.5 Ihre Verteilung spielte in den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten eine sehr wichtige Rolle beim Aufbau gesellschaftlicher Bindungen; nicht selten ging es um Klientelbeziehungen.6 Der Bürgermeister gab etwas an den Sekretär der Polnischen Arbeiterpartei (Polska Partia Robotnicza, PPR), der Kommandant der Bürgermiliz an den Bürgermeister, der wiederum an die Ärzte und Lehrer, die so dringend gebraucht wurden, und auch der sowjetische Kommandant bekam seinen Anteil – so wurden Möbel, Wohnungen, Pferde und alle anderen nötigen Güter weitergereicht. Es entstanden Beziehungen, Konstellationen, Verbindungen: die Gesellschaft. In Zentralpolen bewiesen erfolgreiche Reisen in den „Wilden Westen“ Mannestüchtigkeit und Cleverness. Plünderungen beeinflussten die damalige Alltagskultur: das Wertesystem, die materielle Kultur und die Freizeit. Ein damaliges Spruchgedicht zur Melodie einer Mazurka lautete:
„Noch eine Plünderung heut’ Das Auto bleibt nicht steh’n Für Fräulein Krysia noch ein Pelz und schon wird’s weiter geh’n ...“7
Das Plündern untergrub den Sinn der Arbeit und demoralisierte die Menschen. Solide oder überhaupt zu arbeiten, lohnte sich einfach nicht, wenn nur wenig Anstrengung ausreichte, um relativ wohlhabend zu leben. In den Westgebieten kündigten die Beamten ihre Arbeitsstellen massenweise, denn wer wollte schon hinter dem Schreibtisch sitzen, wenn vor dem Fenster das „Plünderfieber“ wütete? Das Einatmen der mit Plünderungen versetzten Luft schwächte die Immunbarrieren, die davor schützten, andere Verbrechen zu begehen. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, ob in Kielce die Milizionäre in das Haus der jüdischen Gemeinde an der Ulica Planty eingedrungen wären (und damit das Pogrom begonnen hätten), wenn Plünderungen nicht so verbreitet gewesen wären, war ihr größtes Ziel doch, schnelle Beute zu machen. Ihre Kollegen in Niederschlesien plünderten schließlich straflos. Ausgelöst wurde das „Fieber“ vom Durchmarsch der Front und später durch Chaos und die Schwäche der Kontrollinstitutionen. Die Kapitulation Deutschlands führte bei vielen Polen zu einem Gefühl, als Sieger straflos gestellt zu sein. Der Moment des Stillstands, des kriegsbedingten Durcheinanders und des „Interregnums“ wiederum garantierte fast vollständige Anonymität. Psychologen weisen daraufhin, dass die mentalen Funktionsweisen von Mitgliedern einer Gruppe sich verändern, wenn sie sich alle in einem ähnlichen Zustand befinden: Sie leben dann in einer expandierten Gegenwart, die Vergangenheit und Zukunft unwichtig erscheinen lässt. Gefühle beherrschen den Verstand, und Handlung dominiert über Reflexion.8 In der Folge kann es leichter zu Situationen kommen, wie sie während der Plünderungen zu beobachten waren: gedankenlose Zerstörung von Gebäuden, wilder Wettlauf um die verlassenen Güter und Grabplünderungen. „In diesen Wiedergewonnenen Gebieten lief man Amok“, erinnerte sich nach Jahren ein Soldat der Nationalen Militärvereinigung (Narodowe Zjednoczenie Wojskowe, NZW) aus der Gegend von Olsztyn, „sogar ganz vernünftig denkende Menschen zerstörten alles. Vielleicht aus Rache an den Deutschen, für die Jahre der Besatzung? Ich hatte selbst das Gefühl, ich müsste ein schönes deutsches Fenster zerstören, wenn ich eines sehen würde.“9
Der Wunsch nach Rache an den bisherigen Folterknechten kurbelte die Plünderungen vor allem in ihrer ersten Phase an, manchmal sogar bis an die Grenze zerstörerischer Raserei. Jan Chodakowski, Häftling des Konzentrationslagers Mauthausen-Gusen, kam am Tag nach der Befreiung durch amerikanische Truppen mit seinen Freunden ins nahegelegene Linz. „Wir gehen nach Linz“, erinnerte er sich, „laufen über die Brücke, durch den Bahnhof, kommen zu einem Laden. Wir schauen, es ist eine Kolonialwarenhandlung, wir gehen hinein, nehmen Lebensmittel heraus, alles nach draußen, wir rauben, was wir können. Wir hatten uns schon einiges ausgesucht, da sehe ich, dass auch Österreicher kommen und etwas mitnehmen. (...) Wir liefen durch die ganze Stadt. Man grassierte einfach. Man zerstörte Lagerhäuser und Geschäfte.“10
Das Phänomen Tausender, fremdes Eigentum raffender Polen kann mit dem moralischen Verfall infolge von Krieg und Besatzung erklärt werden. Es sei jedoch daran erinnert, dass es sich bei Plünderungen um eine Verhaltensweise handelt, die viel älter als der Zweite Weltkrieg und ein Kind des Chaos ist. Plünderungen gab es in Warschau im September 1939, noch bevor die Deutschen in die Stadt einmarschierten. In Jedwabne und in anderen kleinen Städten der Region sowie in Ostpolen plünderte man im Juli 1941, als man noch nicht von einem demoralisierenden Einfluss der deutschen Besatzung sprechen konnte. Ebenso wenig kann man die Bedeutung der Schule des Plünderns übergehen, die die Polen mehr als fünf Jahre lang durchlaufen mussten. Die wichtigste Lektion lautete: Es ist Krieg. Ihr befindet euch außerhalb von Gut und Böse, vergesst eure Moral. Das Ausmaß der „Plünderseuche“ nach dem Krieg ist ganz sicher in Verbindung mit den Lehren zu sehen, die man aus den ausgeraubten Ghettos im Jahre 1942 gezogen hatte. Auch Soldaten der Roten Armee haben zur Schulung im Bereich Plünderungen beigetragen.11 Die „Beutestimmung“, die sich zuerst auf die polnischen Soldaten übertrug, musste notwendigerweise auch auf die Bevölkerung ausstrahlen. Die in den Osten fahrenden, bis an den Rand mit deutschen Gütern beladenen sowjetischen Transporte waren nicht zu übersehen. Jemand schrieb in einem privaten Brief im August 1945:
Der Wunsch nach Rache an den bisherigen Folterknechten kurbelte die Plünderungen vor allem in ihrer ersten Phase an, manchmal sogar bis an die Grenze zerstörerischer Raserei. Jan Chodakowski, Häftling des Konzentrationslagers Mauthausen-Gusen, kam am Tag nach der Befreiung durch amerikanische Truppen mit seinen Freunden ins nahegelegene Linz. „Wir gehen nach Linz“, erinnerte er sich, „laufen über die Brücke, durch den Bahnhof, kommen zu einem Laden. Wir schauen, es ist eine Kolonialwarenhandlung, wir gehen hinein, nehmen Lebensmittel heraus, alles nach draußen, wir rauben, was wir können. Wir hatten uns schon einiges ausgesucht, da sehe ich, dass auch Österreicher kommen und etwas mitnehmen. (...) Wir liefen durch die ganze Stadt. Man grassierte einfach. Man zerstörte Lagerhäuser und Geschäfte.“10
Das Phänomen Tausender, fremdes Eigentum raffender Polen kann mit dem moralischen Verfall infolge von Krieg und Besatzung erklärt werden. Es sei jedoch daran erinnert, dass es sich bei Plünderungen um eine Verhaltensweise handelt, die viel älter als der Zweite Weltkrieg und ein Kind des Chaos ist. Plünderungen gab es in Warschau im September 1939, noch bevor die Deutschen in die Stadt einmarschierten. In Jedwabne und in anderen kleinen Städten der Region sowie in Ostpolen plünderte man im Juli 1941, als man noch nicht von einem demoralisierenden Einfluss der deutschen Besatzung sprechen konnte. Ebenso wenig kann man die Bedeutung der Schule des Plünderns übergehen, die die Polen mehr als fünf Jahre lang durchlaufen mussten. Die wichtigste Lektion lautete: Es ist Krieg. Ihr befindet euch außerhalb von Gut und Böse, vergesst eure Moral. Das Ausmaß der „Plünderseuche“ nach dem Krieg ist ganz sicher in Verbindung mit den Lehren zu sehen, die man aus den ausgeraubten Ghettos im Jahre 1942 gezogen hatte. Auch Soldaten der Roten Armee haben zur Schulung im Bereich Plünderungen beigetragen.11 Die „Beutestimmung“, die sich zuerst auf die polnischen Soldaten übertrug, musste notwendigerweise auch auf die Bevölkerung ausstrahlen. Die in den Osten fahrenden, bis an den Rand mit deutschen Gütern beladenen sowjetischen Transporte waren nicht zu übersehen. Jemand schrieb in einem privaten Brief im August 1945:
„Diebstahl und Korruption blühen von oben bis unten ... Die Menschen haben sich fünf Jahre lang an strafloses Rauben fremden Eigentums gewöhnt, sie rauben sich gegenseitig aus, das nennt man „szabrowal“ ... massenweise nimmt man fremde Klamotten mit (...), in den Gebieten, die den Deutschen weggenommen wurden, tut man dabei oft der ortsansässigen polnischen Bevölkerung und Neusiedlern Unrecht.“12
Die Plünderungswelle hätte wahrscheinlich nicht die Ausmaße eines Tsunami erreicht, hätte es nicht die Umsiedlungen der deutschen Bevölkerung gegeben, die in den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten ein – aus polnischer Sicht – gigantisches Vermögen hinterließen. Dass getöteten Soldaten der Wehrmacht die Schuhe und sogar Socken abgenommen wurden, war im Sommer 1944 auch in der Normandie gar nicht so selten. In Frankreich trugen „[s]elbst die angesehensten Bürger“ Möbel aus den von den Deutschen oder Kollaborateuren verlassenen Häusern hinaus.13 Trotzdem lassen sich die Plünderungen im Westen Europas kaum mit dem vergleichen, was an Oder und Ostsee geschah. Im Westen hatten die Deutschen ihren Besitz nämlich weder verlassen noch aufgegeben. Es fehlte also eine für das Auftreten des Phänomens Plünderungen notwendige Voraussetzung: herrenloser Besitz. Zu Plünderverhalten kam es hingegen in den tschechischen Sudeten, wenn auch in geringerem Ausmaß; dort aber waren die Deutschen, wie wir wissen, gezwungen worden, ihre Häuser zu verlassen. Hinzu kam, dass die Einwohner Frankreichs, Belgiens, Dänemarks oder sogar der Tschechoslowakei ungleich wohlhabender als die Polen waren und in der Masse nicht so sehr nach fremder Bettwäsche, Kleidung oder Schuhen begehrten. Anders gesagt: Ihnen war die „Sicht der Welt beschränkten Güter“ lediglich in beschränktem Umfang bekannt. Eine Einwohnerin von Plonsk schrieb dazu am 23. August 1945:
„Heute müssen alle stehlen, weil das ehrliche Gehalt nicht einmal für den Hunger ausreicht. Diejenigen, für die weder das Gewissen noch irgendjemand zählt haben das Geld, um sich zu besaufen und für anderen Unfug, aber ein ehrlicher Mensch krepiert vor Hunger.“14
Einer der wichtigsten Motoren der Plünderungen war zweifellos die Armut. Hätte es nicht an Schuhen, Kleidung, Nähmaschinen, Fahrrädern, Möbeln oder Radios gefehlt, wäre niemand zu diesen riskanten Touren aufgebrochen. Ebenso hätte man nicht Türklinken oder Fenster aus den Rahmen herausgerissen oder Küchenöfen demoliert, um die Roste mitzunehmen. Die Plünderungen während des Krieges und danach kann man als eine besondere Reaktion von Menschen betrachten, die ausgeschlossen waren. Ausgeschlossen in der Zeit der Weltwirtschaftskrise, verurteilt zu einem Leben in Souterrains und ohne Arbeit, und in der Zeit des Zweiten Weltkriegs auf die Rolle von Untermenschen* reduziert. Nicht zu vergessen ist zudem, dass Plünderungen nach dem Krieg, in einer Zeit fehlender wirtschaftlicher Stabilisierung und angesichts von Arbeitslosigkeit und Hungerlöhnen, für Tausende von Menschen die einzige zugängliche Erwerbsquelle darstellte. Wichtig für die Genese des Phänomens war darüber hinaus die wohl für jede Art „Goldfieber“ charakteristische und damals häufig geäußerte Überzeugung, dass es sich um den einzigen Moment im Leben handele, in dem man sich „gesundstoßen“ und etwas „beschaffen“ könne. Stanisław Łach schlägt eine weitere, massenpsychologische Interpretation vor: irrationales Verhalten, das Zaudern und Zögern verbietet, denn den Letzten beißen die Hunde.15 Man könnte den Eindruck gewinnen, die Plünderer ließen sich vom Motto leiten: „Bleib nicht stehen, warte nicht, plündere“.16 Wichtig war auch die Sphäre der Vorstellungskraft: Gerüchte über das polnische Eldorado in den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten, die die Runde machten, oder Geschichten von steilen Karrieren vom Knecht zum Reichen, die die Fantasie anregten. Zur Entstehung des Mythos der Westgebiete, eines Landes, in dem Milch und Honig fließen, trug die Propaganda des neuen Regimes bei. In seinen Augen würde die gelungene Besiedlung dieser Gebiete ein gutes Legitimationsargument sein und die meisten sozialen Probleme lösen. Wie ein Magnet wirkten die in den Zeitungen publizierten Beschreibungen von verlassenen Städtchen voll mit Gütern aller Art oder verlassenen Bauernhöfen, die auf neue Eigentümer warteten. Der bereits zitierte Jerzy Zubek bemerkte, dass die auf diese Weise geweckten Erwartungen, die sich nicht für alle erfüllen konnten, die Menschen zum Plündern motivierten. Im August 1945 berichtete er:
„Die Propaganda hat Niederschlesien als ein Land dargestellt, in dem Milch und Honig fließen. Sie schrie, dass offene Luxusvillen samt Einrichtung und ganzer Ausstattung auf diejenigen warteten, die sie gütigerweise in Besitz nehmen wollten, dass es von allem genug gebe, man nur dort hinfahren und es sich nehmen bräuchte. Die Menschen sind mit dieser Einstellung in dieses Wunderland gefahren - und wurden hier enttäuscht. Es gibt zwar Villen, die sind aber von den Deutschen besetzt, es gibt Verpflegung, aber in Kantinen. Sie wollten alles haben und zwar sofort, weil die Zeitungsartikel es ihnen versprochen haben, und hier ... Deshalb begann man zu plündern, auch, um nicht mit leeren Händen zurückzukehren, und damit hat es angefangen. In der schlechten, ungeschickten Propaganda steckt der Keim der Plünderungen.“17
Möglich ist auch eine naturalistische Interpretation. Der ewige Rhythmus der Natur gibt vor, nach einem Brand zum Leben zurückzuzukehren und sich nach den Zerstörungen wieder einzurichten. So hieß es damals. Entsprang also der Plündertrieb in irgendeiner Weise dem Drang nach Leben?
Im Frühjahr und Sommer 1946 begann das „Plünderfieber“ zu sinken. Man plünderte auch später noch, doch in deutlich geringerem Ausmaß. Als Heilmittel erwies sich der fortschreitende Ansiedlungsprozess. Es wurde immer schwieriger, Häuser und Wohnungen zu finden, die nicht von Polen besetzt waren. Nach und nach versiegte die Quelle der Plünderungen. Einfluss hatte auch das Vorgehen der Behörden, die ,Razzien‘ auf Bahnhöfen durchführten,18 Plätze und Märkte durchkämmten, Beutegut konfiszierten, die festgenommenen Plünderer bestraften, und sie manchmal in Arbeitslager steckten. Im Herbst 1945 wurde Breslau abgeriegelt – an den Stadtgrenzen durchsuchten Wachposten jeden, der die Stadt verließ. Gegenstände ohne eine sogenannte „rote Karte“, eine besondere durch den Bevollmächtigten der Regierung ausgegebene Genehmigung, wurden konfisziert, und ihr Besitzer kam in „ein Konzentrationslager für Plünderer“. Auch Fahrern, die illegale Waren transportierten, drohte die Einweisung ins Lager, der Entzug der Fahrerlaubnis und die Konfiszierung des Fahrzeugs, unabhängig davon, wem es gehörte.19 Da es trotz dieser Verbote und Hindernisse im korrupten Nachkriegspolen nicht schwierig war, an die notwendigen Papiere zu kommen,20 schränkte Władysław Gomułka, seinerzeit Minister für die Wiedergewonnenen Gebiete, im März 1946 die Ausgabe von Genehmigungen auf sich selbst ein.21 Man sieht, dass er zumindest in dieser Sache kein Vertrauen hatte, nicht einmal zu seinen nächsten Mitarbeitern. Im Mai befand er, die Peitsche allein reiche nicht aus, und erließ eine Verordnung, nach der Personen zu belohnen waren, die dazu beitrugen, Güter ausfindig zu machen, die illegal aus den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten ausgeführt worden waren.22 Der Transport von Möbeln nach Zentralpolen wurde nun schwierig. Zunehmend wurden korrupte Beamte bestraft. Metaphorisch gefasst begann man, die Fenster wieder einzusetzen. Die Tradition der Plünderungen bestand jedoch fort. Man muss Justyna Kowalska-Leder recht geben, dass die Plünderungswellen seit 1939 zu fehlendem Respekt der Polen gegenüber fremdem Eigentum beitrugen, vor allem gegenüber staatlichem Eigentum. Sie lehrten die Menschen, wie es hieß, zu „kombinieren“ oder schwer zugängliche Güter zu „organisieren“, was oft auf gewöhnlichen Diebstahl hinauslief, nur dass er das Gewissen weniger belastete.23 Das massenhafte Hinaustragen praktisch aller Dinge aus den staatlichen Betrieben, die zu gebrauchen waren oder irgendeinen Wert besaßen, ist der beste Beweis für das Fortleben der Plünderkultur nach ihrem Tod.
Im Frühjahr und Sommer 1946 begann das „Plünderfieber“ zu sinken. Man plünderte auch später noch, doch in deutlich geringerem Ausmaß. Als Heilmittel erwies sich der fortschreitende Ansiedlungsprozess. Es wurde immer schwieriger, Häuser und Wohnungen zu finden, die nicht von Polen besetzt waren. Nach und nach versiegte die Quelle der Plünderungen. Einfluss hatte auch das Vorgehen der Behörden, die ,Razzien‘ auf Bahnhöfen durchführten,18 Plätze und Märkte durchkämmten, Beutegut konfiszierten, die festgenommenen Plünderer bestraften, und sie manchmal in Arbeitslager steckten. Im Herbst 1945 wurde Breslau abgeriegelt – an den Stadtgrenzen durchsuchten Wachposten jeden, der die Stadt verließ. Gegenstände ohne eine sogenannte „rote Karte“, eine besondere durch den Bevollmächtigten der Regierung ausgegebene Genehmigung, wurden konfisziert, und ihr Besitzer kam in „ein Konzentrationslager für Plünderer“. Auch Fahrern, die illegale Waren transportierten, drohte die Einweisung ins Lager, der Entzug der Fahrerlaubnis und die Konfiszierung des Fahrzeugs, unabhängig davon, wem es gehörte.19 Da es trotz dieser Verbote und Hindernisse im korrupten Nachkriegspolen nicht schwierig war, an die notwendigen Papiere zu kommen,20 schränkte Władysław Gomułka, seinerzeit Minister für die Wiedergewonnenen Gebiete, im März 1946 die Ausgabe von Genehmigungen auf sich selbst ein.21 Man sieht, dass er zumindest in dieser Sache kein Vertrauen hatte, nicht einmal zu seinen nächsten Mitarbeitern. Im Mai befand er, die Peitsche allein reiche nicht aus, und erließ eine Verordnung, nach der Personen zu belohnen waren, die dazu beitrugen, Güter ausfindig zu machen, die illegal aus den sogenannten Wiedergewonnenen Gebieten ausgeführt worden waren.22 Der Transport von Möbeln nach Zentralpolen wurde nun schwierig. Zunehmend wurden korrupte Beamte bestraft. Metaphorisch gefasst begann man, die Fenster wieder einzusetzen. Die Tradition der Plünderungen bestand jedoch fort. Man muss Justyna Kowalska-Leder recht geben, dass die Plünderungswellen seit 1939 zu fehlendem Respekt der Polen gegenüber fremdem Eigentum beitrugen, vor allem gegenüber staatlichem Eigentum. Sie lehrten die Menschen, wie es hieß, zu „kombinieren“ oder schwer zugängliche Güter zu „organisieren“, was oft auf gewöhnlichen Diebstahl hinauslief, nur dass er das Gewissen weniger belastete.23 Das massenhafte Hinaustragen praktisch aller Dinge aus den staatlichen Betrieben, die zu gebrauchen waren oder irgendeinen Wert besaßen, ist der beste Beweis für das Fortleben der Plünderkultur nach ihrem Tod.
Informations-Bereich
Fußnoten
1.
Dies ist die gekürzte Fassung des Kapitels „Plünderfieber“ in Marcin Zarembas Buch „Die große Angst. Polen 1944-1947: Leben im Ausnahmezustand“. Aus dem Polnischen übersetzt von Maya Latynski (Bloomington: Indiana University Press, 2022). Die erste Fassung dieses Kapitels: Zaremba, Marcin: Gorgczka szabru, in: Zagłada Żydów. Studia i Materiały, 2009, Nr. 5, S. 193-220.
3.
4.
5.
„Diejenigen, die vom Diebstahl einer elenden Zlotymünze angewidert wären, plündernschamlos im Wert von Hunderttausenden Zioty. Und sie schämen sich ihrer Taten nicht,im Gegenteil, mit Stolz stellen sie fest, dass es ihnen gelungen sei, dieses oder jenes zuplündern.“ (Zaraza, in: Głos Narodu, 29.8.1945).
11.
Vorbildcharakter hatten möglicherweise auch Soldaten der britischen und amerikanischenArmee. Eine interessante Beschreibung des Verhaltens von Briten finden wir ineinem Tagebuch: „In Wirklichkeit ist die Sache mit dem Verhältnis der Engländer zu denDeutschen seltsam. Einmal bevorzugen sie sie, ein anderes Mal schlagen sie sie, vernichtenihr Hab und Gut, verbrennen es oder organisieren ,Panikmache’, zu denen sie Polenoder andere Ausländer mitnehmen. Ihre Vorgehensweise ist, dass abends ein paar Soldatenund Ausländer in offenen Autos in die nahegelegenen Dörfer und zu den Bauernhöfenfahren. Wenn sie schon nahe dran sind, beginnen sie durch die Fenster auf im Innernsichtbare Gegenstände zu schießen, zum Beispiel Spiegel, Uhren, Lampenschirme oderBilder an der Wand, und werfen ab und zu eine Granate in den Hof (eine alte, nur zurAbschreckung). Durcheinander, Lärm, Chaos, Herumgelaufe, Schreie - und dann fahrensie weg. Sie reden uns zu, alten deutschen Schrott zu sammeln, weil man ihn bei dennächsten Touren gebrauchen kann. (...) Die Engländer erinnern uns daran, dass wir,wenn wir den Deutschen unser Leiden heimzahlen wollen - etwas mitnehmen, etwaszerstören wollen - es jetzt tun müssen, bevor die Verwaltung kommt. (Jakubaszek, JanMarian: Möj ostatni rok wojny. 2006, S. 454, 455).
15.
16.
18.
19.
20.
„Die Behörden haben den grassierenden Plünderungen den erbitterten Kampf angesagt.Während einer Razzia am Bahnhof stellte sich heraus, dass es sich bei den Fahrgästen größtenteilsum Plünderer handelte, die leider amtlich genehmigte ‚Dienstreisen‘ vorweisenkonnten. Einer besaß sogar ein Dokument, in dem ihm ein Landrat bescheinigte, erwürde nach Breslau fahren ‚um seine verlorengegangenen Schweine zu suchen. Die ‚geplünderten'Güter, unter denen Wäsche und Kleidung den größten Teil ausmachten, wurdenkonfisziert und der Sozialfürsorge des Kreises übergeben; die Plünderer wurden zuReparaturarbeiten der Landstraße herangezogen.“ (Nieublagana walka z szabrownictwem,in: Dziennik Polski, 11.7.1945).